ROUGE ET NOIR

Bond war entschlossen, für die Spielrunde, die die ganze Nacht dauern konnte, vollkommen fit und entspannt zu sein. Er bestellte für fünfzehn Uhr einen Masseur. Nachdem die Überreste seines Mittagessens entfernt worden waren, setzte er sich an sein Fenster und blickte auf das Meer hinaus, bis der Masseur, ein Schwede, an der Tür klopfte.

Schweigend begann er, Bond von den Füßen bis zum Nacken zu bearbeiten. Die Massage ließ die Verspannungen in seinem Körper verschwinden und beruhigte seine immer noch angeschlagenen Nerven. Selbst die großen Blutergüsse an Bonds linker Schulter und Seite hörten auf zu pochen. Und als der Schwede gegangen war, fiel Bond in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Am Abend erwachte er vollkommen erfrischt.

Nach einer kalten Dusche ging Bond zum Casino hinüber. Seit dem vorigen Abend hatte er sein Gespür für die Tische verloren. Er musste die Konzentration wiedererlangen, die halb mathematisch und halb intuitiv war und die zusammen mit einem niedrigen Puls und einem optimistischen Temperament das entscheidende Rüstzeug jedes Spielers war, der gewinnen wollte.

Bond war schon immer ein Spieler gewesen. Er liebte das Geräusch des Kartenmischens und das ständige Drama der stillen Gestalten an den grünen Tischen. Er mochte den zuverlässigen, eingespielten Komfort der Kartenspielzimmer und Casinos, die gut gepolsterten Armlehnen der Stühle, das Glas Champagner oder Whisky am Ellbogen, die unaufdringliche Aufmerksamkeit guter Angestellter. Es amüsierte ihn, dass die Roulettekugel und die Spielkarten niemanden bevorzugten – und doch immer ihre Lieblinge zu haben schienen. Er mochte es, gleichzeitig Schauspieler und Zuschauer zu sein, und von seinem Stuhl aus an den Dramen und Entscheidungen anderer Männer teilzuhaben, bis er wieder selbst mit dem grundlegenden »Ja« oder »Nein« an der Reihe war, wobei die Chancen fünfzig zu fünfzig standen, die richtige Entscheidung zu treffen.

Doch vor allem gefiel es ihm, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied war. Man konnte niemanden außer sich selbst loben oder schelten. Der Zufall musste mit einem Achselzucken hingenommen oder voll ausgekostet werden. Aber man musste ihn als das verstehen und anerkennen, was er war, anstatt ihn mit einer falschen Einschätzung der Chancen zu verwechseln. Denn es ist beim Spiel eine Todsünde, mangelndes Können für mangelndes Glück zu halten. Und das Glück in all seinen Ausprägungen musste geliebt, nicht gefürchtet werden. Bond betrachtete das Glück als eine Frau, die man sanft umwarb oder brutal nahm, der man jedoch niemals nachgab oder hinterherlief. Aber er war ehrlich genug, um zuzugeben, dass er durch Karten oder Frauen bis jetzt niemals gelitten hatte. Eines Tages, und er akzeptierte diese Tatsache, würde er durch die Liebe oder das Glück in die Knie gezwungen werden. Er wusste, wenn das geschah, würde auch er mit dem tödlichen Fragezeichen gebrandmarkt werden, das er so oft bei anderen sah; das Versprechen, zu zahlen, bevor man verloren hatte: die Akzeptanz der eigenen Fehlbarkeit.

Aber an diesem Juniabend, als Bond den salle privée betrat, tat er das selbstbewusst und voll freudiger Erwartung. Er tauschte eine Million Franc in Jetons im Wert von jeweils fünfzigtausend um und nahm einen Platz neben dem Croupier am Roulettetisch Nummer 1 ein.

Bond lieh sich die Karte des Croupiers und studierte den bisherigen Verlauf der Kugel an diesem Nachmittag. Das tat er immer, auch wenn er wusste, dass jede Drehung des Rades, jeder Fall der Kugel in ein nummeriertes Fach absolut keine Verbindung mit der Runde davor hatte. Er war sich der Tatsache bewusst, dass das Spiel jedes Mal aufs Neue begann, wenn der Croupier die Elfenbeinkugel mit seiner rechten Hand aufnahm, einer der vier Speichen des Rades einen kontrollierten Schubs im Uhrzeigersinn gab und die Kugel ebenfalls mit der rechten Hand gegen die Drehrichtung in den äußeren Rand des Kessels warf.

Es war offensichtlich, dass all diese Rituale und routinemäßigen Einzelheiten des Rades, der nummerierten Fächer und des Kessels über die Jahre hinweg perfektioniert worden waren, sodass weder das Können des Croupiers noch eine Neigung des Rades den Fall der Kugel beeinträchtigen konnten. Und doch war es unter den Roulettespielern üblich – und Bond hielt sich ebenfalls strikt daran –, die Vergangenheit jeder Sitzung genauestens zu studieren und sich von jeder Eigentümlichkeit im Lauf des Rades leiten zu lassen. Sich zum Beispiel Sequenzen, bei denen zweimal hintereinander dieselbe Zahl oder mehr als viermal hintereinander eine gerade Zahl fiel, zu merken und als bedeutsam zu betrachten.

Bond war kein Verfechter dieser Methode. Aber er war der Meinung, je mehr Mühe und Sorgfalt man auf das Spiel verwandte, desto mehr konnte man herausholen.

In der Aufzeichnung dieses speziellen Tisches nach etwa drei Stunden Spiel sah Bond nur wenig Interessantes, außer dass das letzte Dutzend Würfe nicht zugunsten der Spieler ausgefallen war. Seine Methode sah vor, immer mit dem Rad zu spielen und sich nur dann gegen dessen vorangegangene Muster zu wenden und eine neue Richtung einzuschlagen, wenn eine Null gefallen war. Also entschied er sich, eine seiner Lieblingseröffnungen zu spielen und auf zwei – in diesem Fall die ersten beiden – Dutzend zu setzen, beide mit dem Maximum – einhunderttausend Franc. Damit hatte er zwei Drittel des Spielfelds (ohne die Null) abgedeckt, und da die Gewinnquote beim Dutzend zwei zu eins betrug, würde er jedes Mal hunderttausend Franc gewinnen, wenn eine niedrigere Zahl als fünfundzwanzig auftauchte.

Nach sieben Runden hatte er sechsmal gewonnen. Beim siebten Mal verlor er, als die Dreißig drankam. Sein Reinertrag betrug vierhunderttausend Franc. Den achten Wurf setzte er aus. Die Kugel blieb auf der Null liegen. Dieser Zufall heiterte ihn noch mehr auf. Er deutete die Dreißig als Fingerzeig auf das letzte Dutzend und setzte auf das erste und letzte Dutzend, bis er zweimal verloren hatte. Zehn Würfe später kam das mittlere Dutzend zweimal, was ihn vierhunderttausend Franc kostete, aber er erhob sich um eine Million Franc reicher vom Tisch.

Sobald Bond begonnen hatte, Maxima zu spielen, war er am Tisch in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Da er eine Glückssträhne zu haben schien, begannen ein paar Trittbrettfahrer, auf den Zug aufzuspringen. Einer von ihnen, der Bond direkt gegenübersaß und Amerikaner zu sein schien, zeigte mehr als die übliche Dankbarkeit über seinen Anteil an der Gewinnserie. Er hatte Bond ein, zwei Mal über den Tisch hinweg angelächelt, und es lag etwas Vielsagendes an der Art, wie er Bonds Bewegungen nachahmte und zwei bescheidene Jetons im Wert von zehntausend Franc genau gegenüber Bonds größeren platzierte. Als Bond sich erhob, schob er ebenfalls seinen Stuhl zurück und rief freundlich über den Tisch hinweg:

»Danke fürs Mitnehmen. Ich schätze, ich schulde Ihnen jetzt wohl einen Drink. Darf ich Sie einladen?«

Bond vermutete, dass es sich um den CIA-Mann handelte. Er erhielt Gewissheit, als sie gemeinsam auf die Bar zuschlenderten, nachdem Bond dem Croupier einen Jeton im Wert von zehntausend Franc zugeworfen und dem huissier, der seinen Stuhl zurückzog, tausend Franc zugesteckt hatte.

»Ich heiße Felix Leiter«, sagte der Amerikaner. »Nett, Sie kennenzulernen.«

»Mein Name ist Bond – James Bond.«

»Oh, ja«, sagte sein Begleiter, »dann wollen wir doch mal sehen. Worauf sollen wir anstoßen?«

Bond bestand darauf, Leiter einen Haig & Haig mit Eis zu bestellen, dann warf er dem Barkeeper einen scharfen Blick zu.

»Einen trockenen Martini«, sagte er. »In einer tiefen Champagnerschale.«

»Oui, Monsieur

»Einen Moment noch. Drei Teile Gordon’s, ein Teil Wodka, ein halber Teil Kina Lillet. Schütteln Sie es gut durch, bis es eiskalt ist, und fügen Sie dann eine großes dünnes Stück Zitronenschale hinzu. Verstanden?«

»Natürlich, Monsieur.« Dem Barkeeper schien die Idee zu gefallen.

»Meine Güte, das ist ja mal ein Drink«, sagte Leiter.

Bond lachte. »Wenn ich mich … konzentrieren muss«, erklärte er, »nehme ich vor dem Abendessen niemals mehr als einen Drink zu mir. Aber dieser eine soll dann auch groß, sehr stark, sehr kalt und sehr gut gemacht sein. Ich hasse kleine Portionen im Allgemeinen, besonders wenn sie schlecht schmecken. Dieser Cocktail ist meine eigene Erfindung. Ich werde ihn patentieren lassen, sobald mir ein guter Name eingefallen ist.«

Er sah aufmerksam zu, wie das tiefe Glas von dem schwach goldenen Getränk außen vereiste, dann nahm er einen großen Schluck.

»Hervorragend«, sagte er zum Barkeeper, »aber wenn Sie einen Wodka aus Getreide statt aus Kartoffeln bekommen können, wird der Cocktail noch besser.

Mais n’enculons pas de mouches«, fügte er noch für den Barkeeper hinzu. Dieser grinste.

»Das ist ein vulgärer Ausdruck für ‚Aber wir wollen nicht kleinlich sein.‘«, erklärte Bond.

Doch Leiter war noch immer an Bonds Getränk interessiert. »Sie denken alles ziemlich gründlich durch«, stellte er amüsiert fest, während sie ihre Gläser in eine Ecke des Raumes trugen. Er senkte seine Stimme.

»Vielleicht sollten Sie ihn ‚Molotowcocktail‘ nennen, nach dem, den Sie heute Nachmittag gekostet haben.«

Sie setzten sich. Bond lachte.

»Sie haben die Stelle abgesperrt und lassen die Autos über eine Umleitung über den Bürgersteig fahren. Ich hoffe, dass dadurch keine reichen Urlauber verscheucht wurden.«

»Die Leute schlucken die Kommunistenstory oder denken, dass es eine geplatzte Gasleitung war. Die verbrannten Bäume werden heute Nacht gefällt, und wenn die Dinge hier so wie in Monte Carlo laufen, wird morgen früh keine Spur mehr von der Sauerei zu sehen sein.«

Leiter schüttelte sich eine Chesterfield aus seiner Packung. »Ich freue mich darauf, bei diesem Auftrag mit Ihnen zusammenzuarbeiten«, sagte er und sah dabei in sein Glas, »daher bin ich besonders froh, dass Sie nicht in die Luft geflogen sind. Unsere Leute sind definitiv interessiert. Sie halten es für genauso wichtig wie Ihre Freunde, und sie finden es auch überhaupt nicht verrückt. Tatsächlich ist Washington ein wenig eingeschnappt, dass wir die Sache nicht selbst durchziehen, aber Sie wissen ja, wie die hohen Tiere so sind. Ihre Leute in London sind wahrscheinlich genauso.«

Bond nickte. »Sie neigen dazu, immer ein wenig neidisch zu sein, wenn die anderen ihnen zuvorkommen«, gab er zu.

»Jedenfalls unterstehe ich Ihren Befehlen und soll Ihnen alles geben, was Sie benötigen. Da Mathis und seine Jungs vor Ort sind, gibt es wahrscheinlich nicht mehr viel zu tun. Aber wie dem auch sei, hier bin ich.«

»Und ich bin hocherfreut darüber«, sagte Bond. »Die Gegenseite hat mich und wahrscheinlich auch Sie und Mathis schon überprüft, und ich nehme an, dass sie mit harten Bandagen kämpfen wird. Ich bin froh, dass Le Chiffre so verzweifelt zu sein scheint, wie wir dachten. Ich fürchte, dass ich für Sie momentan tatsächlich nicht viel zu tun habe, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie heute Abend im Casino bleiben würden. Ich habe eine Assistentin namens Miss Lynd, und ich würde sie Ihnen gerne übergeben, wenn ich zu spielen anfange. Keine Sorge, sie ist ein gut aussehendes Mädchen.« Er lächelte Leiter an. »Und behalten Sie seine beiden Handlanger im Auge. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass er zu so primitiven Mitteln wie einer Prügelei greift, aber man kann ja nie wissen.«

»Dabei kann ich vielleicht helfen«, sagte Leiter. »Bevor ich mit diesem Job angefangen habe, war ich Mitglied in unserem Marinekorps, wenn Ihnen das etwas sagt.« Er sah Bond selbstironisch an.

»Das tut es«, antwortete Bond.

Wie sich herausstellte, stammte Leiter aus Texas. Während er über seine Arbeit für den JIS der NATO erzählte und die Schwierigkeiten betonte, die Sicherheit einer Organisation zu gewährleisten, die so viele verschiedene Nationalitäten repräsentierte, dachte Bond, dass gute Amerikaner angenehme Leute waren, und die meisten von ihnen aus Texas zu kommen schienen.

Felix Leiter war etwa fünfunddreißig. Er war hochgewachsenen und schmal, und sein leichter beigefarbener Anzug hing locker an ihm herab wie Frank Sinatras Kleidung. Seine Bewegungen und seine Sprechweise waren langsam, aber man hatte das Gefühl, dass viel Geschwindigkeit und Stärke in ihm steckte und dass er ein zäher und unnachgiebiger Kämpfer war. Während er so über den Tisch gebeugt saß, erinnerte er Bond an einen Falken. Da lag etwas in seinem Gesicht, in seinem scharfen Kinn, den Wangenknochen und dem breiten, stets ein wenig ironisch lächelnden Mund. Seine grauen Augen waren leicht schräg gestellt wie die einer Katze, was er noch betonte, indem er sie im Rauch der Chesterfields zusammenkniff, die er sich unaufhörlich aus der Packung klopfte. Die permanenten Fältchen, die diese Angewohnheit in seine Augenwinkel grub, ließen den Eindruck entstehen, dass er mehr mit den Augen als mit dem Mund lächelte. Ein Wust strohblonder Haare verlieh seinem Gesicht ein jungenhaftes Aussehen, das einer näheren Betrachtung jedoch nicht standhielt. Auch wenn er recht offen über seine Pflichten in Paris sprach, bemerkte Bond schon bald, dass er seine amerikanischen Kollegen in Europa oder Washington nie erwähnte. Dies führte Bond zu der Vermutung, dass Leiter die Interessen seiner eigenen Organisation viel höher hielt als die gemeinsamen Interessen des nordatlantischen Bündnisses. Dafür hatte Bond Verständnis.

Nachdem Leiter seinen zweiten Whisky getrunken und Bond ihm von den Muntzens und seinem kleinen Erkundungsausflug entlang der Küste erzählt hatte, war es bereits halb acht, und sie beschlossen, gemeinsam zu ihrem Hotel zurückzugehen. Bevor sie das Casino verließen, deponierte Bond sein komplettes Kapital von vierundzwanzig Millionen an der caisse und behielt nur ein paar Scheine im Wert von etwa zehntausend Franc als Taschengeld zurück.

Während sie zum Splendide spazierten, sahen sie, dass an der Explosionsstelle bereits eine Gruppe Bauarbeiter zugange war. Mehrere Bäume waren ausgegraben worden, und Wasser aus drei städtischen Tankwagen wusch die Straße und den Bürgersteig sauber. Der Explosionskrater war verschwunden, und nur ein paar Passanten waren stehen geblieben, um zu gaffen. Bond nahm an, dass ähnliche Maßnahmen am Hermitage sowie an den Läden und Häuserfronten durchgeführt worden waren, die ihre Fenster verloren hatten.

In der warmen Dämmerung von Royale-les-Eaux war wieder alles gesittet und friedlich.

»Für wen arbeitet der Concierge?«, fragte Leiter, als sie sich dem Hotel näherten. Bond erklärte, dass er sich nicht sicher war.

Mathis war nicht in der Lage gewesen, ihn aufzuklären. »Wenn Sie ihn nicht selbst gekauft haben«, hatte er gesagt, »müssen Sie davon ausgehen, dass er von der Gegenseite geschmiert wurde. Alle Concierges sind bestechlich. Es ist nicht ihre Schuld. Sie werden dafür ausgebildet, alle Hotelgäste außer Maharadschas als potenzielle Betrüger und Diebe anzusehen. Ihnen liegt so viel an Ihrem Komfort und Wohlergehen wie Krokodilen.«

Bond musste an diese Behauptung von Mathis denken, als der Concierge ihm entgegeneilte und sich danach erkundigte, ob er sich von seinem unerfreulichen Erlebnis am Nachmittag wieder erholt hatte. Bond vertraute ihm sicherheitshalber an, dass er sich immer noch ein wenig zittrig fühlte. Er hoffte, dass diese Information weitergegeben würde, sodass Le Chiffre das Spiel mit einer Fehleinschätzung der Stärke seines Gegners beginnen würde. Der Concierge bot Bond zur Stärkung Glyzerintropfen an.

Leiters Zimmer lag in einem der höheren Stockwerke, und so trennten sie sich am Aufzug. Doch nicht ohne vorher verabredet zu haben, sich zwischen halb zehn und halb elf im Casino zu treffen, der üblichen Zeit, zu der die prestigeträchtigen Spiele begannen.

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