DER TÖDLICHE STOCK

Bond saß wie erstarrt da. Er öffnete sein Etui und entnahm ihm eine Zigarette. Er ließ den Deckel des Ronson-Feuerzeugs aufschnappen, zündete die Zigarette an und stellte das Feuerzeug wieder auf den Tisch. Dann nahm er einen tiefen Zug und stieß den Rauch mit einem kaum hörbaren Zischen durch die Zähne aus.

Was nun? Zurück zum Hotel und ins Bett, unter Vermeidung der mitleidigen Blicke von Mathis, Leiter und Vesper. Zurück zu einem Telefongespräch mit London und dann gleich morgen mit dem Flieger nach England, mit dem Taxi zum Regent’s Park, die Stufen hinauf und den Korridor entlang, und Ms eiskaltes Gesicht auf der anderen Seite des Tisches, sein geheucheltes Verständnis, sein »Mehr Glück beim nächsten Mal«, aber natürlich würde es keine zweite Chance wie diese geben.

Er blickte in die Runde und ins Publikum. Ein paar sahen ihn an. Sie warteten, während der Croupier das Geld zählte und die Jetons vor dem Bankhalter zu einem ordentlichen Stapel ordnete. Sie warteten ab, ob jemand möglicherweise versuchen würde, um diese hohe Banksumme von zweiunddreißig Millionen Franc, dem Ergebnis dieser wunderbaren Glückssträhne des Bankhalters, zu spielen.

Leiter war verschwunden. Bond nahm an, dass er ihm nach dieser Niederlage nicht in die Augen sehen wollte. Vesper hingegen wirkte seltsam ungerührt und lächelte ihm sogar ermutigend zu. Aber andererseits, rief sich Bond ins Gedächtnis, hatte sie auch keinerlei Ahnung von diesem Spiel und verstand die Bitterkeit seiner Niederlage wahrscheinlich gar nicht.

Der huissier kam auf Bond zu und blieb neben ihm stehen. Beugte sich zu ihm vor. Platzierte einen Umschlag vor Bond auf dem Tisch. Er war so dick wie ein Wörterbuch. Der huissier sagte etwas von der caisse. Und verschwand wieder.

Bonds Herz begann wild zu schlagen. Er nahm den schweren, unbeschrifteten Umschlag und öffnete ihn unterm Tisch mit seinem Daumennagel. Dabei bemerkte er, dass der Kleber am Rand noch feucht war.

Mit einer Mischung aus Unglauben und dem gleichzeitigen Wissen, dass dies tatsächlich passierte, erspürte er das dicke Geldbündel. Er ließ es in seine Tasche gleiten und warf im Schatten unter dem Tisch einen Blick auf die beigefügte kurze Notiz. Es handelte sich um eine einzige, mit Füller geschriebene Zeile: »Marshallhilfe. Zweiunddreißig Millionen Franc. Mit besten Grüßen der USA.«

Bond musste schlucken. Er sah zu Vesper. Neben ihr stand wieder Felix Leiter. Er grinste leicht. Bond erwiderte das Lächeln und hob als kleine Geste der Danksagung seine Hand vom Tisch. Dann konzentrierte er sich darauf, alle Spuren des Gefühls vollkommener Niederlage, das ihn noch vor wenigen Augenblicken überschwemmt hatte, aus seinem System zu beseitigen. Dies war eine Gnadenfrist, aber auch nicht mehr als das. Weitere Wunder würde es nicht geben. Dieses Mal musste er gewinnen – sofern Le Chiffre nicht bereits seine fünfzig Millionen gemacht hatte –, wenn er weiterkommen wollte!

Der Croupier hatte seine Aufgabe, die cagnotte auszurechnen, abgeschlossen. Nun tauschte er Bonds Geldscheine in Jetons um und stapelte diese zu einem riesigen Haufen in der Mitte des Tisches.

Dort lagen zweiunddreißigtausend Pfund. Vielleicht, dachte Bond, brauchte Le Chiffre lediglich einen weiteren Coup, womöglich sogar bloß einen kleinen von nur ein paar Millionen Franc, um sein Ziel zu erreichen. Dann hätte er seine fünfzig Millionen wieder zusammen und würde den Tisch verlassen. Schon morgen hätte er seine Fehlbeträge ausgeglichen und seine Position wieder gesichert.

Doch er rührte sich nicht von der Stelle, und Bond nahm erleichtert an, dass er Le Chiffres Ressourcen überschätzt haben musste.

Die einzige Hoffnung bestand darin, ihn jetzt zu vernichten. Nicht darin, die Banksumme mit dem Tisch zu teilen oder nur eine kleine Rolle darin zu spielen, nein, er musste aufs Ganze gehen. Das würde Le Chiffre wirklich aufschrecken. Er würde es hassen, mehr als zehn oder fünfzehn Millionen des Einsatzes gedeckt zu sehen, und er würde kaum erwarten, dass jemand die gesamten zweiunddreißig Millionen Franc aufbrachte. Er konnte nicht wissen, dass Bond bankrott gegangen war, aber er ging wohl davon aus, dass dieser nur noch wenig Geld hatte. Er konnte den Inhalt des Umschlags nicht kennen. Und wenn, würde er wahrscheinlich die Banksumme zurückziehen und wieder von vorne anfangen, die ermüdende Reise, die mit dem Eröffnungsgebot von fünfhunderttausend Franc begann, erneut antreten.

Seine Einschätzung stimmte.

Le Chiffre brauchte noch weitere acht Millionen.

Schließlich nickte er.

»Un banco de trente-deux millions

Die Stimme des Croupiers hallte durch den Raum. Um den Tisch herum breitete sich Schweigen aus.

»Un banco de trente-deux millions

Mit einer etwas lauteren, stolzen Stimme übernahm der chef de partie die Ansage und hoffte, damit das große Geld von den benachbarten Chemin-de-fer-Tischen anzulocken. Außerdem war dies eine wunderbare Werbung. Der Einsatz hatte in der Geschichte des Baccara nur einmal eine solche Höhe erreicht – 1950 in Deauville. Das rivalisierende Casino de la Forêt in Le Touquet war nie auch nur in die Nähe einer derartigen Summe gekommen.

In diesem Moment lehnte sich Bond leicht vor.

»Suivi«, sagte er leise.

Um den Tisch herum erklang aufgeregtes Gemurmel. Die Nachricht verbreitete sich durch das Casino. Immer mehr Menschen strömten hinein. Zweiunddreißig Millionen! Für die meisten war das mehr, als sie in ihrem ganzen Leben verdient hatten. Es waren ihre Ersparnisse und die ihrer Familien. Es war, im wahrsten Sinne des Wortes, ein kleines Vermögen.

Einer der Geschäftsführer des Casinos besprach sich mit dem chef de partie. Dieser wandte sich entschuldigend an Bond.

»Excusez moi, Monsieur. La mise?«

Es war der Hinweis, dass Bond zeigen musste, dass er tatsächlich das Geld besaß, das er setzen wollte. Sie wussten natürlich, dass er ein sehr reicher Mann war, aber es handelte sich schließlich um zweiunddreißig Millionen! Und manchmal geschah es, dass verzweifelte Personen ohne einen Sou in der Tasche ihren Einsatz machten und fröhlich ins Gefängnis gingen, wenn sie verloren.

»Mes excuses, Monsieur Bond«, fügte der chef de partie unterwürfig hinzu.

Da warf Bond das dicke Geldbündel auf den Tisch, und der Croupier begann damit, die zusammengehefteten Zehntausend-Franc-Noten zu zählen, die größten Geldscheine, die in Frankreich gedruckt wurden. Bond bemerkte einen kurzen Blickwechsel zwischen Le Chiffre und dem Handlanger, der direkt hinter Bond stand.

Unmittelbar darauf spürte er, wie etwas Hartes gegen sein Steißbein gedrückt wurde, direkt zwischen seine Hinterbacken auf dem gepolsterten Stuhl.

Zur gleichen Zeit sprach eine tiefe Stimme mit starkem südfranzösischem Akzent leise, aber nachdrücklich in sein Ohr.

»Das ist eine Waffe, Monsieur. Sie ist absolut lautlos und kann Ihnen den unteren Teil Ihrer Wirbelsäule wegpusten, ohne dass es jemand bemerkt. Es wird so aussehen, als wären Sie in Ohnmacht gefallen. Ich würde in der Menge verschwinden. Ich zähle jetzt bis zehn. Bis dahin haben Sie Ihren Einsatz zurückgenommen. Wenn Sie nach Hilfe rufen, drücke ich ab.«

Die Stimme klang selbstsicher. Bond glaubte ihr. Diese Leute hatten gezeigt, dass sie, ohne zu zögern, bis zum Äußersten gehen würden. Nun wusste er, was es mit dem dicken Gehstock auf sich hatte. Bond kannte diese Art Waffe. In Wirklichkeit handelte es sich um einen Lauf, der zwar aus weichem Gummi gemacht war, um das Geräusch der Explosion zu dämpfen, aber eine Kugel durchließ. Sie waren während des Krieges für Attentate erfunden und eingesetzt worden. Bond selbst hatte sie schon getestet.

»Un«, sagte die Stimme.

Bond drehte seinen Kopf. Da war der Mann, der sich nah zu ihm vorbeugte und unter seinem schwarzen Schnurrbart breit lächelte, als ob er Bond Glück wünschen würde. Er schien sich im Lärm der Menge vollkommen sicher zu fühlen.

Die verfärbten Zahnreihen schlossen sich. »Deux«, sagte der grinsende Mund.

Bond sah zu Le Chiffre hinüber, der ihn beobachtete. Seine Augen funkelten Bond an. Sein Mund stand offen, und er atmete schnell. Er wartete. Wartete auf Bonds Hand, die dem Croupier ein Zeichen gab, oder darauf, dass Bond auf seinem Stuhl zusammensinken würde, den Mund zu einem Schrei verzerrt.

»Trois

Bond warf einen Blick zu Vesper und Felix Leiter. Sie unterhielten sich lächelnd miteinander. Diese Idioten. Wo war Mathis? Wo waren seine berühmten Männer?

»Quatre

Und die anderen Zuschauer? Dieser Haufen quasselnder Schwachköpfe. Bemerkte denn niemand, was hier vor sich ging? Der chef de partie, der Croupier, der huissier?

»Cinq

Der Croupier ordnete gerade die Geldscheine. Der chef de partie verbeugte sich lächelnd vor Bond. Sobald der Stapel durchgezählt war, würde er verkünden: »Le jeux est fait«, und die Waffe würde losgehen, ob der Handlanger zehn erreicht hatte oder nicht.

»Six

Bond traf eine Entscheidung. Es war ein Risiko. Vorsichtig bewegte er die Hände zum Rand des Tisches, packte ihn und lehnte sich leicht zurück. Er spürte, wie sich die spitze Mündung der Waffe gegen sein Steißbein presste.

»Sept

Der chef de partie drehte sich mit erhobenen Augenbrauen zu Le Chiffre um und wartete auf das Nicken des Bankhalters, um fortzufahren.

Plötzlich stieß sich Bond mit aller Kraft nach hinten. Sein Schwung kippte die Rückenlehne des Stuhls so schnell zurück, dass sie gegen den Gehstock prallte und ihn dem Schergen aus der Hand riss, bevor dieser den Abzug drücken konnte.

Bond fiel rückwärts zwischen den Füßen der Zuschauer zu Boden, seine Beine strampelten in der Luft. Mit einem lauten Krachen zerbrach die Rückenlehne seines Stuhls. Ein Aufschrei der Bestürzung ging durch die Menge. Die Zuschauer wichen zuerst zurück, drängten sich jedoch dann wieder um ihn herum, als klar war, dass keine unmittelbare Gefahr für sie bestand. Hände halfen ihm wieder auf die Beine. Der huissier tuschelte mit dem chef de partie. Ein Skandal musste um jeden Preis verhindert werden.

Bond stützte sich am Messinggeländer ab. Er wirkte verwirrt und peinlich berührt und wischte sich mit der Hand über die Stirn.

»Eine vorübergehende Schwäche«, sagte er. »Nicht weiter erwähnenswert – nur die Aufregung, die Hitze.«

Es gab Bekundungen des Mitgefühls. Das sei doch bei einem solch unglaublichen Spiel nicht weiter verwunderlich. Ob sich Monsieur nicht lieber zurückziehen und hinlegen wolle? Sollte man einen Arzt rufen?

Bond schüttelte den Kopf. Er war wieder vollkommen in Ordnung. Er entschuldigte sich bei seinen Mitspielern. Auch beim Bankhalter.

Es wurde ein neuer Stuhl gebracht, und er setzte sich. Dann warf er einen Blick zu Le Chiffre. Abgesehen von seiner Erleichterung darüber, am Leben zu sein, verspürte er außerdem einen Moment des Triumphes über das, was er sah – einen Hauch von Angst in dem fetten, blassen Gesicht.

Am Tisch ertönte neugieriges Gemurmel. Bonds Nachbarn zu beiden Seiten lehnten sich vor und sprachen besorgt über die Hitze und die späte Stunde, den Rauch und den Mangel an Frischluft.

Bond beantwortete höflich alle Nachfragen. Dann drehte er sich zur Menge hinter sich um. Der Handlanger war spurlos verschwunden, doch der huissier suchte nach dem Besitzer des zurückgelassenen Gehstocks. Er schien unbeschädigt zu sein. Nur die Gummispitze fehlte. Bond winkte ihn zu sich.

»Wenn Sie ihn diesem Herrn dort geben«, sagte er und deutete auf Felix Leiter, »wird er ihn dem Besitzer zurückgeben. Er gehört einem seiner Bekannten.«

Der huissier verbeugte sich leicht.

Bond dachte grimmig, dass eine kurze Untersuchung des Gehstocks Leiter offenbaren würde, warum er eine solch beschämende Szene gemacht hatte.

Er drehte sich wieder zum Tisch um und klopfte auf den grünen Filz vor sich, um anzuzeigen, dass er bereit war.

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