DER MOMENT DER WAHRHEIT

Le Chiffre sah ihn desinteressiert an. Das Weiß in seinen Augen war überall um seine Iris zu sehen, was seinem Blick etwas Teilnahmsloses und Puppenhaftes verlieh.

Langsam griff er in die Tasche seines Jacketts. Als die Hand wieder zum Vorschein kam, befand sich darin ein kleiner Metallzylinder, dessen Deckel Le Chiffre aufschraubte. Er steckte die Düse des Zylinders mit obszöner Bedächtigkeit zwei Mal in jedes seiner Nasenlöcher und inhalierte genussvoll den Benzedrindampf.

In aller Ruhe steckte er den Inhalator wieder ein, dann erschien seine Hand schnell wieder auf Tischhöhe und gab dem Kartenschlitten den üblichen Stoß.

Bond hatte den Blick des Bankhalters während dieser widerwärtigen Pantomime kühl erwidert und ihn sich dabei genauer angesehen: das breite, bleiche Gesicht, eingerahmt von kurzem rötlich braunem Haar, der ernste, feuchte, rote Mund und die beeindruckend breiten Schultern, bedeckt mit einem locker sitzenden, weit geschnittenen Jackett.

Wären da nicht die glänzenden Satinaufschläge gewesen, hätte er ebenso gut auf den breiten Torso eines schwarzpelzigen Minotaurus starren können, der sich aus einer grünen Wiese erhob.

Bond warf ein Bündel Scheine auf den Tisch, ohne sie nachzuzählen. Wenn er verlor, würde der Croupier genau das nehmen, was nötig war, um den Wetteinsatz abzudecken. Aber die lässige Geste übermittelte die Botschaft, dass Bond nicht vorhatte, zu verlieren, und dass dies nur eine symbolische Zurschaustellung der hohen finanziellen Mittel war, die Bond zur Verfügung standen.

Die anderen Spieler spürten eine Spannung zwischen den beiden Kontrahenten, und es herrschte Schweigen am Tisch, als Le Chiffre die vier Karten aus dem Schlitten fingerte.

Der Croupier schob Bond seine zwei Karten mit der Spitze der Palette herüber. Bond, der immer noch ungerührt Le Chiffres Blick hielt, streckte seine Hand ein paar Zentimeter weit aus, sah kurz nach unten und warf die Karten mit einer verächtlichen Geste offen auf den Tisch.

Es waren eine Vier und eine Fünf – eine unschlagbare Neun.

In der Runde wurde leise nach Luft geschnappt, und die Spieler links von Bond tauschten bedauernde Blicke aus, weil sie den Zwei-Millionen-Einsatz nicht selbst hatten halten können.

Mit der Andeutung eines Schulterzuckens warf Le Chiffre langsam einen Blick auf seine eigenen beiden Karten und schnippte sie mit dem Fingernagel davon. Es waren zwei nutzlose Buben.

»Le baccarat«, verkündete der Croupier, während er die dicken Jetons zu Bond schob.

Bond steckte sie zu dem unbenutzten Geldbündel in die rechte Jacketttasche. Sein Gesicht verriet keine Emotionen, aber er war mit dem Erfolg seines ersten Coups und mit dem Ergebnis des stillen geistigen Duells äußerst zufrieden.

Die Frau zu seiner Rechten, die Amerikanerin Mrs Du Pont, drehte sich mit einem gequälten Lächeln zu ihm um.

»Ich hätte es nicht bis zu Ihnen kommen lassen dürfen«, sagte sie. »Sobald die Karten ausgeteilt waren, hätte ich mir am liebsten in den Hintern gebissen.«

»Das war erst der Anfang des Spiels«, sagte Bond. »Das nächste Mal ist es vielleicht die richtige Entscheidung, zu passen.«

Mr Du Pont lehnte sich von der anderen Seite zu seiner Frau hinüber. »Wenn man bei jeder Hand richtigliegen würde, wäre wohl keiner von uns hier.«

»Ich schon«, lachte seine Frau. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich das hier zum Spaß mache.«

Während das Spiel weiterging, warf Bond einen Blick auf die Zuschauer, die sich um das hohe Messinggeländer drängten, das den Tisch umgab. Schnell entdeckte er Le Chiffres zwei Handlanger. Sie standen zu beiden Seiten hinter dem Bankhalter. Sie wirkten recht bieder, fielen aber trotzdem auf.

Derjenige, der mehr oder weniger hinter Le Chiffres rechtem Arm stand, war hochgewachsen und wirkte in seinem Smokingjackett, als wolle er auf eine Beerdigung gehen. Sein Gesicht war hölzern und grau, aber seine Augen zuckten umher und glänzten wie die eines Zauberkünstlers. Sein ganzer langer Körper war nervös, und seine Hände bewegten sich auf dem Geländer unruhig hin und her. Bond nahm an, dass er, ohne nachzudenken, und vollkommen mitleidslos töten würde. Wahrscheinlich bevorzugte er es, seine Opfer zu erwürgen. Irgendwie hatte er etwas an sich, das Bond an Lenny aus Von Mäusen und Menschen erinnerte, aber seine Unmenschlichkeit wurzelte wohl nicht in Infantilismus, sondern eher in Drogen. Bond tippte auf Marihuana.

Der andere Mann wirkte wie ein korsischer Krämer. Er war klein und dunkel, und sein flacher Kopf war mit stark pomadigem Haar bedeckt. Er schien gehbehindert zu sein. Neben ihm hing ein grober Rattanstock mit Gummispitze am Geländer. Er musste eine Sondergenehmigung bekommen haben, um den Gehstock mit ins Casino nehmen zu dürfen, dachte Bond, der wusste, dass solche Gegenstände, die als Waffe eingesetzt werden konnten, nicht erlaubt waren. Er wirkte gepflegt und wohlgenährt. Geistig abwesend ließ er seinen Mund halb offen stehen und enthüllte so sehr schlechte Zähne. Er trug einen buschigen schwarzen Schnurrbart, und seine Handrücken waren ebenfalls mit schwarzen Haaren bedeckt. Bond nahm an, dass der ganze gedrungene Körper ähnlich aussah. Nackt wäre er wahrscheinlich ein obszöner Anblick.

Das Spiel verlief ruhig, aber mit einer leichten Tendenz gegen die Bank.

Der dritte Coup stellt beim Chemin-de-Fer und beim Baccara die »Schallmauer« dar. Man kann ein oder zwei Mal Glück haben, aber wenn die dritte Runde kommt, bedeutet das häufig eine Katastrophe. Wieder und wieder werden Spieler an diesem Punkt unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeführt. Und so war es auch jetzt. Weder der Bankhalter noch einer der anderen Spieler schienen in der Lage zu sein, einen Treffer zu landen. Aber der Bankhalter verlor beständig Geld, das sich nach zwei Stunden Spiel zu einem Betrag von zehn Millionen Franc summiert hatte. Bond wusste nicht, wie viel Profit Le Chiffre in den vergangenen zwei Tagen gemacht hatte. Er schätzte die Summe auf fünf Millionen und nahm an, dass das Kapital des Bankhalters damit nun nicht mehr als zwanzig Millionen betragen konnte.

Tatsächlich hatte Le Chiffre den ganzen Nachmittag über schwere Verluste erlitten. Momentan blieben ihm nicht mehr als zehn Millionen.

Im Gegensatz dazu hatte Bond bis ein Uhr nachts vier Millionen gewonnen, womit sein Kapital nun achtundzwanzig Millionen Franc betrug.

Bond war zurückhaltend erfreut. Le Chiffre zeigte keine Spur von Emotion. Er spielte einfach wie eine Maschine weiter und sagte kein Wort, außer wenn er dem Croupier im Flüsterton zu Beginn jedes neuen Bancos Anweisungen gab.

Außerhalb des Rings aus Schweigen um den Spieltisch war das konstante Dröhnen der anderen Tische zu hören, des Chemin de fers, des Roulettes und des Trente-et-Quarante, durchsetzt von den klaren Ansagen der Croupiers und den gelegentlichen Ausbrüchen von Gelächter oder Jubel aus verschiedenen Ecken des großen salle.

Im Hintergrund tickte das versteckte Metronom des Casinos und zählte die kleinen Ein-Prozent-Anteile bei jedem Drehen des Rads und jeder umgedrehten Karte – ein riesiger Geldsack mit einer Null als Herz.

Auf Bonds Uhr war es zehn Minuten nach eins, als sich das Muster des Spiels plötzlich radikal änderte.

Der Grieche auf Nummer 1 hatte immer noch Pech. Er hatte den ersten Coup mit einer halben Million Franc verloren und den zweiten ebenso. Das dritte Mal passte er und hinterließ ein Banco von zwei Millionen. Carmel Delane auf Nummer 2 lehnte ab. Genau wie Lady Danvers auf Nummer 3.

Die beiden Du Ponts sahen einander an.

»Banco«, sagte Mrs Du Pont, und verlor prompt gegen die natürliche Acht des Bankhalters.

»Un banco de quatre millions«, verkündete der Croupier.

»Banco«, sagte Bond und schob ein Bündel Geldscheine über den Tisch.

Wieder fixierte er Le Chiffre. Wieder warf er nur einen flüchtigen Blick auf seine zwei Karten.

»Nein«, sagte er. Er hatte eine grenzwertige Fünf. Die Position war gefährlich.

Le Chiffre deckte einen Buben und eine vier auf. Er gab dem Kartenschlitten einen weiteren Stoß und zog eine drei.

»Sept a la banque«, verkündete der Croupier. »Et cinq«, fügte er hinzu, als er Bonds Verliererkarten aufdeckte. Er strich vier Millionen Franc ein und schob Bond den Rest wieder zurück.

»Un banco de huit millions

»Suivi«, sagte Bond.

Und verlor wieder, dieses Mal gegen eine natürliche Neun.

Innerhalb von zwei Coups hatte er zwölf Millionen Franc verloren. Wenn er alles zusammenkratzte, blieben ihm jetzt nur noch sechzehn Millionen Franc, exakt die Höhe des nächsten Bancos.

Plötzlich spürte Bond, wie seine Handinnenflächen zu schwitzen begannen. Sein Kapital war wie Schnee in der Sonne dahingeschmolzen. Mit der selbstgefälligen Bedächtigkeit eines gewinnenden Spielers trommelte Le Chiffre mit seiner rechten Hand auf dem Tisch herum. Bond sah ihm in die dunklen Augen. In ihnen lag eine ironische Frage. »Soll es das volle Programm sein?«, schienen sie zu fragen.

»Suivi«, sagte Bond leise.

Er holte ein paar Scheine und Jetons aus seiner rechten Jacketttasche und das Geldbündel aus seiner linken und legte sie auf den Tisch. Seine Bewegung gab keinen Hinweis darauf, dass dies sein letzter Einsatz sein würde.

Sein Mund fühlte sich plötzlich staubtrocken an. Er blickte auf und sah Vesper und Felix Leiter dort stehen, wo der Handlanger mit dem Gehstock gestanden hatte. Er wusste nicht, wie lange sie schon dort waren. Leiter wirkte leicht besorgt, doch Vesper lächelte ihm ermutigend zu.

Als er auf dem Geländer hinter sich ein schwaches Klackern hörte, drehte er sich um und erblickte die Reihe schlechter Zähne unter dem schwarzen Schnurrbart.

»Le jeu est fait«, sagte der Croupier, und die beiden Karten wurden über den grünen Filz zu ihm hinübergeschoben – ein Filz, der nicht länger glatt war, sondern rau und faserig. Seine Farbe ließ Bond nun an das Gras auf einem frischen Grab denken.

Das Licht der großen satinbezogenen Lampen, die so einladend gewirkt hatten, schienen nun jede Farbe aus seiner Hand zu ziehen, als er einen Blick auf seine Karten warf. Dann sah er wieder auf.

Schlimmer hätte es fast nicht mehr kommen können – der Herzkönig und ein Ass, das Pikass. Es starrte ihn an wie eine Schwarze Witwe.

»Eine Karte.« Immer noch gelang es ihm, jede Emotion aus seiner Stimme herauszuhalten.

Le Chiffre sah sich seine eigenen zwei Karten an. Er hatte eine Dame und eine schwarze Fünf. Er sah zu Bond und schob mit einem dicken Zeigefinger eine weitere Karte aus dem Schlitten. Der Tisch war absolut still. Er warf einen Blick auf die Karte und schnippte sie von sich. Der Croupier hob sie mit seiner Palette gekonnt an und beförderte sie zu Bond. Es war eine gute Karte, eine Herz Fünf, doch für Bond war sie nicht mehr als ein Fingerabdruck in getrocknetem Blut. Nun hatte er sechs und Le Chiffre fünf Punkte, doch der Bankhalter, der eine Fünf auf der Hand hatte und eine ausgeteilt hatte, konnte und würde eine weitere Karte ziehen, um zu versuchen, sich mit einer Eins, Zwei, Drei oder Vier zu verbessern. Bei jeder anderen Karte wäre er geschlagen.

Die Chancen standen zu Bonds Gunsten, doch nun war es Le Chiffre, der über den Tisch hinweg in Bonds Augen starrte und kaum einen Blick auf die Karte warf, während er sie mit einem Schnipsen seines Fingers umdrehte.

Es war unnötigerweise die bestmögliche, eine Vier, die dem Bankhalter eine Punktzahl von neun gab. Er hatte gewonnen.

Bond war besiegt und bankrott.

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