DAS WEISSE ZELT

Wenn man träumt, dass man träumt, ist man kurz davor, aufzuwachen.

Während der nächsten zwei Tage befand sich James Bond unablässig in diesem Zustand, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen. Er beobachtete das Vorbeiziehen seiner Träume, ohne sich darum zu bemühen, ihren Ablauf zu stören. Obwohl viele von ihnen erschreckend und alle schmerzhaft waren. Er wusste, dass er sich in einem Bett befand, auf dem Rücken lag und sich nicht bewegen konnte. Und in einem seiner lichten Momente glaubte er, Menschen um sich herum wahrzunehmen, doch er machte sich nicht die Mühe, die Augen zu öffnen und in ihre Welt zurückzukehren.

In der Dunkelheit fühlte er sich sicherer, und er klammerte sich daran fest.

Am Morgen des dritten Tages rüttelte ihn ein schrecklicher Albtraum wach. Er zitterte und schwitzte. Auf seiner Stirn lag eine Hand, die er mit seinem Traum in Verbindung brachte. Er versuchte, einen Arm zu heben und ihn seitlich in den Besitzer der Hand zu rammen, doch er konnte seine Arme nicht bewegen, denn sie waren an die Seiten des Betts gefesselt. Sein ganzer Körper war fixiert, und etwas wie ein großer weißer Sarg bedeckte ihn von der Brust bis zu den Füßen und behinderte seine Sicht auf das Fußende des Betts. Er stieß eine Reihe Obszönitäten aus, doch diese Anstrengung verbrauchte all seine Kraft, und die Worte verloren sich in einem Schluchzen. Tränen der Aussichtslosigkeit und des Selbstmitleids quollen aus seinen Augen hervor.

Eine Frauenstimme sprach, und die Worte drangen nach und nach zu ihm durch. Es schien eine freundliche Stimme zu sein, und langsam wurde ihm klar, dass er getröstet wurde und es sich nicht um einen Feind, sondern um einen Freund handelte. Er konnte es kaum glauben. Er war so sicher gewesen, dass er immer noch ein Gefangener war und dass die Folter von Neuem beginnen würde. Er spürte, wie sein Gesicht sanft mit einem kühlen Tuch gereinigt wurde, das nach Lavendel duftete, und dann sank er in seine Träume zurück.

Als er einige Stunden später wieder aufwachte, waren alle Schrecken verschwunden, und er fühlte sich warm und wohlig. In den hellen Raum fiel Sonnenlicht, und Gartengeräusche drangen durch das Fenster herein. Im Hintergrund erklangen die leisen Laute von Wellen, die an einen Strand brandeten. Als er den Kopf bewegte, vernahm er ein Rascheln, und eine Krankenschwester, die neben dem Kopfende seines Bettes saß, beugte sich in sein Sichtfeld vor. Sie war hübsch. Lächelnd legte sie ihre Hand auf seinen Puls.

»Nun, ich bin sehr froh, dass Sie endlich aufgewacht sind. Ich habe noch nie im Leben so schreckliche Flüche gehört.«

Bond erwiderte ihr Lächeln.

»Wo bin ich?«, fragte er und war überrascht, dass seine Stimme so fest und deutlich klang.

»Sie befinden sich in einem Sanatorium in Royale, und ich wurde zusammen mit einer Kollegin aus England hergeschickt, um mich um Sie zu kümmern. Ich bin Schwester Gibson. Und jetzt liegen Sie einfach still, damit ich gehen und dem Arzt mitteilen kann, dass Sie wach sind. Sie waren bewusstlos, seit man Sie hergebracht hat, und wir waren sehr besorgt um Sie.«

Bond schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Körper. Der schlimmste Schmerz ging von seinen Hand- und Fußgelenken sowie seiner rechten Hand aus, wo der Russe ihn geschnitten hatte. In der Mitte seines Körpers hatte er kein Gefühl. Er vermutete, dass man ihm ein örtliches Betäubungsmittel verabreicht hatte. Der Rest seines Körpers schmerzte dumpf, als ob er überall verprügelt worden wäre. Er konnte den Druck der Verbände spüren, und die Stoppeln seines unrasierten Halses und Kinns stachen gegen die Bettwäsche. So wie es sich anfühlte, wusste er, dass seit seiner letzten Rasur mindestens drei Tage vergangen sein mussten. Das bedeutete, dass es zwei Tage seit dem Morgen der Folter waren.

Er bereitete im Geiste eine kurze Liste von Fragen vor, als die Tür aufging und der Arzt hereinkam. Hinter ihm folgte die Schwester, und im Hintergrund erkannte er Mathis’ geschätzte Gestalt. Trotz seines breiten Lächelns wirkte er nervös. Er legte einen Finger an seine Lippen, ging auf Zehenspitzen zum Fenster und nahm Platz.

Der Arzt, ein Franzose mit einem jungen und intelligenten Gesicht, war von seinen Pflichten beim Deuxième Bureau freigestellt worden, um sich um Bond zu kümmern. Er trat neben ihn und legte eine Hand auf Bonds Stirn, während er die Fiebertabelle hinter dem Bett betrachtete.

Als er sprach, war er sehr direkt.

»Sie wollen mir sicher eine Menge Fragen stellen, mein lieber Mr Bond«, sagte er in ausgezeichnetem Englisch, »und ich kann Ihnen die meisten beantworten. Ich will nicht, dass Sie sich zu sehr anstrengen, also werde ich Ihnen die wichtigsten Fakten nennen und Ihnen dann ein paar Minuten mit Monsieur Mathis gewähren, der ein oder zwei Details von Ihnen zu erfahren wünscht. Eigentlich ist es noch zu früh für diese Unterhaltung, aber Ihr Geist muss zur Ruhe kommen, damit wir damit fortfahren können, Ihren Körper wiederherzustellen, ohne uns dabei allzu sehr um Ihren Verstand kümmern zu müssen.«

Schwester Gibson zog einen Stuhl für den Arzt heran und verließ den Raum.

»Sie sind seit etwa zwei Tagen hier«, fuhr der Arzt fort. »Ihr Wagen wurde von einem Bauern entdeckt, der sich auf dem Weg zum Markt in Royale befand. Er informierte die Polizei. Nach einiger Verzögerung erfuhr Monsieur Mathis, dass es sich um Ihren Wagen handelte, und brach umgehend mit seinen Männern nach Les Noctambules auf. Dort fand er Sie und Le Chiffre und auch Ihre Freundin Miss Lynd, die unverletzt war und nach eigener Aussage nicht behelligt wurde. Sie stand unter Schock, hat sich mittlerweile jedoch wieder vollständig erholt und befindet sich nun in ihrem Hotel. Ihre Vorgesetzten in London haben sie angewiesen, unter Ihrem Befehl in Royale zu bleiben, bis Sie wieder ausreichend hergestellt sind, um nach England zurückkehren zu können.

Le Chiffres Männer sind beide tot. Ihnen wurde jeweils eine einzelne Kugel Kaliber .35 in den Hinterkopf geschossen. Der fehlende Ausdruck auf ihren Gesichtern lässt darauf schließen, dass sie ihren Angreifer weder sahen noch hörten. Sie wurden im gleichen Raum wie Miss Lynd gefunden. Le Chiffre ist tot. Ihm wurde mit einer ähnlichen Waffe zwischen die Augen geschossen. Haben Sie seinen Tod miterlebt?«

»Ja«, erwiderte Bond.

»Ihre eigenen Verletzungen sind schwerwiegend, doch obwohl Sie viel Blut verloren haben, ist Ihr Leben nicht in Gefahr. Wenn alles gut läuft, werden Sie sich vollständig erholen und keinerlei körperliche Beeinträchtigungen zu befürchten haben.« Der Arzt lächelte bitter. »Doch ich fürchte, Sie werden noch einige Tage Schmerzen haben, und ich werde es mir zur Aufgabe machen, Ihnen diese Zeit so angenehm wie möglich zu gestalten. Nun, da Sie das Bewusstsein wiedererlangt haben, werden Ihre Arme losgebunden werden, aber Sie dürfen Ihren Körper nicht bewegen, und wenn Sie schlafen, wird die Schwester Ihre Arme wieder festbinden müssen. Vor allem ist es wichtig, dass Sie sich ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Momentan befinden Sie sich in einem schweren geistigen und körperlichen Schockzustand.« Der Arzt hielt inne. »Wie lange wurden Sie gefoltert?«

»Ungefähr eine Stunde«, sagte Bond.

»Dann ist es erstaunlich, dass Sie überhaupt noch leben, und ich beglückwünsche Sie dazu. Wenige Männer hätten das überstanden, was Sie durchgemacht haben. Vielleicht ist Ihnen das ein kleiner Trost. Monsieur Mathis kann Ihnen bestätigen, dass ich im Laufe meiner Karriere einige Patienten behandeln musste, die eine ähnliche Folter erlitten haben, und nicht einer von ihnen hat sich so gut davon erholt wie Sie.«

Der Arzt sah Bond einen Moment lang an und wandte sich dann abrupt an Mathis.

»Sie haben zehn Minuten, danach werde ich Sie wenn nötig mit Gewalt entfernen lassen. Wenn Sie dafür sorgen, dass das Fieber des Patienten steigt, werde ich Sie zur Verantwortung ziehen.«

Er schenkte ihnen ein breites Lächeln und verließ den Raum.

Mathis trat ans Bett und setzte sich auf den Stuhl des Arztes.

»Er ist ein guter Mann«, sagte Bond. »Ich mag ihn.«

»Er arbeitet für das Bureau«, erklärte Mathis. »Er ist ein sehr guter Mann und irgendwann werde ich Ihnen von ihm erzählen. Er hält Sie für ein Wunderkind – und ich tue das ebenfalls.

Doch das kann warten. Wie Sie sich sicher vorstellen können, gibt es einiges zu klären. Ich werde von Paris und natürlich auch von London bedrängt, und durch unseren guten Freund Leiter sogar von Washington. Übrigens«, brach er ab, »ich habe eine persönliche Nachricht von M erhalten. Er hat mich angerufen. Er hat nur gesagt, ich solle Ihnen mitteilen, dass er sehr beeindruckt sei. Ich fragte, ob das alles wäre, und er erwiderte: ‚Nun, sagen Sie ihm, dass das Schatzamt sehr erleichtert ist.‘ Dann hat er aufgelegt.«

Bond grinste zufrieden. Was ihn am meisten freute, war die Tatsache, dass M Mathis persönlich angerufen hatte. Das war noch nie vorgekommen. Ms bloße Existenz, ganz zu schweigen von seiner Identität, wurde nie eingeräumt. Er konnte sich vorstellen, welche Unruhe das in der übermäßig auf Sicherheit bedachten Organisation in London ausgelöst haben musste.

»Ein dünner großer Mann mit nur einem Arm kam am gleichen Tag, an dem wir Sie fanden, aus London her«, fuhr Mathis fort, der aus eigener Erfahrung wusste, dass diese professionellen Einzelheiten Bond mehr als alles andere interessieren und ihm die größte Zufriedenheit bereiten würden. »Er hat die Krankenschwestern besorgt und sich um alles gekümmert. Sogar Ihr Auto lässt er für Sie reparieren. Es schien sich bei ihm um Vespers Boss zu handeln. Er hat sehr viel Zeit mit ihr verbracht und ihr strenge Anweisung gegeben, sich um Sie zu kümmern.«

Der Leiter von S, dachte Bond. Ich bekomme wirklich eine VIP-Behandlung.

»Also«, sagte Mathis, »kommen wir zum Geschäftlichen. Wer hat Le Chiffre getötet?«

»SMERSCH«, antwortete Bond.

Mathis pfiff leise.

»Mein Gott«, sagte er respektvoll. »Also waren sie tatsächlich hinter ihm her. Wie sah der Kerl aus?«

Bond erklärte knapp, was bis zu Le Chiffres Tod geschehen war und beschränkte sich dabei aufs Wesentliche. Es kostete ihn große Anstrengung, und er war froh, als er fertig war. Sich an das Geschehene zurückzuerinnern, ließ den ganzen Albtraum noch einmal wach werden. Auf seiner Stirn bildete sich Schweiß, und sein Körper begann schmerzhaft zu pochen.

Mathis erkannte, dass er zu weit gegangen war. Bonds Stimme wurde schwächer, und seine Augen trübten sich. Mathis klappte seinen Stenoblock zu und legte eine Hand auf Bonds Schulter.

»Vergeben Sie mir, mein Freund«, sagte er. »Das ist jetzt alles vorbei, und Sie sind in Sicherheit. Alles ist gut, und der ganze Plan hat hervorragend funktioniert. Wir haben verkündet, dass Le Chiffre seine beiden Komplizen erschossen und dann Selbstmord begangen hat, weil er sich keiner Untersuchung der Gewerkschaftsfonds stellen wollte. Straßburg und der Norden befinden sich in Aufruhr. Er wurde dort als großer Held angesehen und galt als Stütze der kommunistischen Partei in Frankreich. Die Geschichten über Bordelle und Casinos haben seiner Organisation den Boden unter den Füßen weggezogen, und sie laufen alle umher wie aufgescheuchte Hühner. Momentan verbreitet die kommunistische Partei, dass er nicht zurechnungsfähig war. Doch das ist nach Thorez’ kürzlichem Zusammenbruch nicht besonders hilfreich. Sie lassen es dadurch nur so aussehen, als wären alle ihre großen Anführer völlig gaga. Gott weiß, wie sie diese ganze Sache wieder in Ordnung bringen wollen.«

Mathis stellte fest, dass sein Enthusiasmus den gewünschten Effekt hatte. Bonds Augen hellten sich auf.

»Es gibt noch ein letztes Geheimnis«, sagte Mathis, »und danach werde ich verschwinden, das verspreche ich.« Er sah auf seine Uhr. »Der Doktor wird mir jeden Moment Beine machen. Also, was ist mit dem Geld? Wo ist es? Wo haben Sie es versteckt? Wir haben Ihr Zimmer ebenfalls sorgfältig durchsucht. Dort ist es nicht.«

Bond grinste.

»Doch ist es«, sagte er, »mehr oder weniger. An jeder Zimmertür befindet sich ein kleines Quadrat aus schwarzem Plastik, auf dem die Zimmernummer steht. Natürlich an der Außenseite der Tür. Als Leiter mich an diesem Abend verließ, öffnete ich einfach die Tür, schraubte das Schild mit der Zimmernummer ab, platzierte den gefalteten Scheck darunter und schraubte das Schild wieder fest. Der Scheck dürfte immer noch dort sein.« Er lächelte. »Freut mich, dass es etwas gibt, das die dummen Engländer den klugen Franzosen beibringen können.«

Mathis lachte fröhlich.

»Sie wollen mir damit wohl heimzahlen, dass ich wusste, was die Muntzens vorhatten. Nun, dann sind wir wohl quitt. Übrigens haben wir die beiden eingesackt. Es waren lediglich zwei kleine Fische, die für diese Operation angeheuert wurden. Wir werden dafür sorgen, dass sie ein paar Jahre bekommen.«

Er stand eilig auf, als der Arzt in den Raum stürmte und einen Blick auf Bond warf.

»Raus«, sagte er zu Mathis. »Raus, und kommen Sie nicht wieder.«

Mathis hatte gerade noch genug Zeit, um Bond fröhlich zuzuwinken und ihm ein paar schnelle Abschiedsworte zuzurufen, bevor er aus der Tür gedrängt wurde. Bond vernahm einen Schwall wütender französischer Worte, der im Flur schnell leiser wurde. Er lehnte sich erschöpft zurück, fühlte sich jedoch nach allem, was er gehört hatte, ermutigt. Er musste an Vesper denken und fiel bald in einen unruhigen Schlaf.

Es gab immer noch Fragen, die es zu beantworten galt, doch die konnten warten.

Загрузка...