VESPER

Am nächsten Tag bat Bond darum, Vesper sehen zu dürfen. Bisher hatte er sie nicht sehen wollen. Man hatte ihm erzählt, dass sie jeden Tag ins Sanatorium gekommen war und sich nach ihm erkundigt hatte. Außerdem hatte sie Blumen geschickt. Bond mochte keine Blumen und hatte die Krankenschwester gebeten, sie einem anderen Patienten zu geben. Nachdem er es ein zweites Mal getan hatte, kamen keine Blumen mehr. Bond hatte sie nicht beleidigen wollen. Doch er mochte es einfach nicht, weibliche Dinge um sich herum zu haben. Blumen schienen nach Anerkennung für die Person zu verlangen, die sie geschickt hatte, und übermittelten pausenlos eine Botschaft des Mitgefühls und der Zuneigung. Bond fand das nervtötend. Er wurde nicht gerne verwöhnt. Es ließ ihn klaustrophobisch werden.

Bond langweilte die Vorstellung, Vesper diese Dinge erklären zu müssen. Und es war ihm unangenehm, ein oder zwei Fragen stellen zu müssen, die ihn weiterhin vor ein Rätsel stellten. Fragen über Vespers Verhalten. Die Antworten würden sie zweifellos als Närrin dastehen lassen. Er würde M einen vollständigen Bericht abliefern müssen. Er wollte Vesper darin nicht kritisieren. Es könnte sie leicht ihren Job kosten.

Doch vor allem wollte er die Antwort auf eine noch viel unangenehmere Frage vermeiden, wie er sich selbst eingestand.

Der Arzt hatte oft mit Bond über seine Verletzungen gesprochen. Er hatte ihm stets versichert, dass die schrecklichen Qualen, die sein Körper durchlitten hatte, keine ernsten Folgeschäden haben würden. Er hatte gesagt, dass Bond vollständig genesen und keine seiner körperlichen Fähigkeiten einbüßen würde. Doch Bonds Augen und Nerven weigerten sich, diese beruhigenden Beteuerungen zu glauben. Er hatte immer noch schmerzhafte Schwellungen und Blutergüsse und wann immer die injizierten Schmerzmittel nachließen, litt er Höllenqualen. Doch vor allem hatte seine Vorstellungskraft gelitten. Während der einen Stunde, die er sich mit Le Chiffre in diesem Raum befunden hatte, war die Gewissheit der Impotenz in ihn hineingeprügelt worden, und in seinem Geist war eine Narbe zurückgeblieben, die nur Erfahrung heilen konnte.

Seit dem Tag, an dem Bond Vesper im Hermitage kennengelernt hatte, hatte er sie begehrenswert gefunden, und er wusste, dass er versucht hätte, mit ihr zu schlafen, wenn die Dinge im Nachtclub anders gelaufen wären. Wenn Vesper seine Zuneigung erwidert hätte und sie nicht entführt worden wären. Selbst später, im Auto vor der Villa, als er ganz andere Probleme gehabt hatte, war er vom Anblick ihrer unanständigen Nacktheit erregt gewesen.

Und nun, da er sie wiedersehen konnte, hatte er Angst. Davor, dass seine Sinne und sein Körper nicht auf ihre sinnliche Schönheit reagieren würden. Davor, dass er keinerlei Verlangen empfinden und sein Blut kalt bleiben würde. Im Geiste hatte er dieses erste Wiedersehen zu einem Test gemacht, und er drückte sich um das Ergebnis. Das war der wahre Grund, gestand er sich ein, warum er damit gewartet hatte, seinem Körper eine Gelegenheit für eine Reaktion zu geben, und warum er ihr erstes Wiedersehen über eine Woche lang aufgeschoben hatte. Er hätte es gern noch länger aufgeschoben, aber ihm war klar, dass er seinen Bericht schreiben musste und dass jederzeit ein Botschafter aus London eintreffen mochte, der seine ganze Geschichte hören wollen würde, dass heute so gut wie morgen war, und er sich den Tatsachen auch gleich stellen konnte.

Also ließ er sie am achten Tag zu sich kommen. Er wollte sie am frühen Morgen sehen, wenn er sich nach einer ruhigen Nacht erholt und ausgeruht fühlte.

Völlig ohne Grund hatte er erwartet, dass das Erlebte seine Spuren bei ihr hinterlassen hätte, dass sie blass und womöglich sogar krank wirken würde. Er war nicht auf die große, sonnengebräunte Frau in dem cremefarbenen Seidenkostüm mit dem schwarzen Gürtel vorbereitet, die fröhlich durch die Tür trat und sich lächelnd vor ihn stellte.

»Gute Güte, Vesper«, sagte er mit einer ironischen Willkommensgeste, »Sie sehen absolut umwerfend aus. Unheil scheint Ihnen gut zu bekommen. Wie haben Sie es geschafft, sich einen so wundervollen Sonnenbrand zuzulegen?«

»Ich fühle mich sehr schuldig«, sagte sie und nahm neben ihm Platz. »Aber ich habe mich jeden Tag gesonnt, während Sie hier gelegen haben. Sowohl der Arzt als auch der Leiter von S meinten, ich sollte es tun, also dachte ich mir, es würde Ihnen ohnehin nicht helfen, wenn ich mich den ganzen Tag lang in meinem Zimmer verkrieche. Ich habe unten an der Küste einen wundervollen kleinen Sandstrand entdeckt und ich gehe jeden Tag nach dem Mittagessen dorthin und kehre erst am Abend wieder zurück. Ein Bus bringt mich dorthin und wieder zurück, sodass ich nur einen kurzen Fußweg über die Dünen zurücklegen muss. Und ich habe es sogar geschafft, über die Tatsache hinwegzukommen, dass sich der Strand ganz in der Nähe der Villa befindet.«

Ihre Stimme versagte.

Die Erwähnung der Villa ließ Bonds Augen zucken.

Sie fuhr tapfer fort und weigerte sich, sich von Bonds mangelnder Reaktion beeinflussen zu lassen.

»Der Arzt sagt, dass es nicht mehr lange dauert, bis Sie wieder aufstehen dürfen. Ich dachte … Ich dachte, ich könnte Sie vielleicht später zu diesem Strand mitnehmen. Der Arzt meint, dass Ihnen das Baden im Meer guttun würde.«

Bond schnaubte.

»Gott weiß, wann ich wieder in der Lage sein werde, zu baden«, sagte er. »Der Arzt redet um den heißen Brei herum. Und wenn ich baden kann, wäre es wohl besser, wenn ich das für eine Weile allein täte. Ich will niemanden erschrecken. Von der Hauptverletzung abgesehen«, er warf einen eindeutigen Blick in Richtung des unteren Bereichs des Betts, »ist mein Körper ein Durcheinander aus Narben und blauen Flecken. Aber amüsieren Sie sich ruhig. Es gibt keinen Grund, warum Sie keinen Spaß haben sollten.«

Die Verbitterung und Ungerechtigkeit in seiner Stimme verletzte Vesper.

»Es tut mir leid«, sagte sie, »ich dachte nur … Ich habe versucht …«

Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie schluckte.

»Ich wollte … Ich wollte Ihnen dabei helfen, gesund zu werden.«

Ihre Stimme klang gequält. Sie sah ihn kläglich an und stellte sich dem Vorwurf in seinen Augen und seinem Verhalten.

Dann brach sie zusammen, vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und schluchzte.

»Es tut mir leid«, murmelte sie mit dumpfer Stimme. »Es tut mir wirklich leid.« Mit einer Hand suchte sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. »Es ist alles meine Schuld.« Sie tupfte ihre Augen trocken. »Ich weiß, dass alles meine Schuld ist.«

Bond wurde sofort weich. Er streckte eine verbundene Hand aus und legte sie auf ihr Knie.

»Ist schon gut, Vesper. Verzeihen Sie, dass ich so grob war. Ich war nur neidisch, weil Sie in der Sonne sitzen können, während ich hier feststecke. Sobald es mir gut genug geht, müssen Sie mir Ihren Strand zeigen. Natürlich ist es genau das, was ich will. Es wird herrlich sein, mal wieder rauszukommen.«

Sie drückte seine Hand, stand auf und ging zum Fenster hinüber. Nach einem Moment begann sie, ihr Make-up aufzufrischen. Dann kehrte sie zum Bett zurück.

Bond sah sie zärtlich an. Wie alle harten, kalten Männer rutschte er leicht in Gefühlsduseleien ab. Sie war sehr schön, und er fühlte sich zu ihr hingezogen. Er beschloss, seine Fragen so einfach wie möglich zu formulieren.

Er gab ihr eine Zigarette, und für eine Weile sprachen Sie über den Besuch des Leiters von S und die Reaktionen in London auf Le Chiffres Niederlage.

Aus dem, was sie sagte, wurde deutlich, dass das endgültige Ziel des Plans mehr als erreicht worden war. Die Geschichte verbreitete sich immer noch auf der ganzen Welt, und die Korrespondenten der meisten englischen und amerikanischen Zeitungen waren nach Royale gereist, um den jamaikanischen Millionär aufzuspüren, der Le Chiffre am Spieltisch besiegt hatte. Sie hatten Vesper gefunden, doch sie hatte die ganze Sache hervorragend verschleiert. Ihrer Geschichte zufolge hatte Bond ihr gesagt, dass er nach Cannes und Monte Carlo weiterreisen werde, um dort mit seinem gewonnenen Geld zu spielen. Die Jagd hatte sich in den Süden Frankreichs verlagert. Mathis und die Polizei hatten alle anderen Spuren verwischt, und die Zeitungsleute waren gezwungen, sich auf die Geschehnisse in Straßburg und das Chaos in den Rängen der französischen Kommunisten zu konzentrieren.

»Übrigens, Vesper«, sagte Bond nach einer Weile. »Was ist wirklich mit Ihnen passiert, nachdem Sie mich im Nachtclub verlassen haben? Alles, was ich gesehen habe, war Ihre Entführung.« Er erzählte ihr schnell von der Szene, die er vor dem Casino erlebt hatte.

»Ich fürchte, ich muss völlig den Kopf verloren haben«, sagte Vesper und wich Bonds Blick aus. »Als ich Mathis nirgendwo im Eingangsbereich finden konnte, ging ich nach draußen und der Hotelportier fragte mich, ob ich Miss Lynd sei. Dann sagte er mir, dass der Mann, der die Notiz geschickt hatte, in einem Wagen gleich rechts am Ende der Treppe warten würde. Irgendwie war ich nicht sonderlich überrascht. Ich kannte Mathis erst seit ein oder zwei Tagen und wusste nicht, wie er arbeitete, also ging ich einfach auf das Auto zu. Es stand auf der rechten Seite und befand sich mehr oder weniger im Schatten. Als ich mich ihm näherte, sprangen Le Chiffres Männer hinter einem der anderen Autos hervor und zogen mir einfach mein Kleid über den Kopf.«

Vesper errötete.

»Es klingt wie ein kindischer Trick«, sagte sie und sah Bond bußfertig an, »aber es ist wirklich erschreckend effektiv. Man ist sofort gefangen, und obwohl ich geschrien habe, hat mich durch mein Kleid wohl niemand gehört. Ich trat so heftig um mich, wie ich konnte, aber es nützte nichts, da ich vollkommen blind und meine Arme gefesselt waren. Ich war nicht mehr als ein zusammengebundenes Huhn.

Sie hoben mich hoch und schoben mich auf den Rücksitz des Wagens. Ich wehrte mich natürlich weiter, und als das Auto startete und sie versuchten, ein Seil oder etwas Ähnliches um das Kleid über meinem Kopf zu binden, gelang es mir, einen meiner Arme zu befreien und meine Handtasche aus dem Fenster zu werfen. Ich hoffe, das hat Ihnen geholfen.«

Bond nickte.

»Es war eine instinktive Handlung. Ich dachte einfach, dass Sie keine Ahnung haben würden, was mit mir passiert war, und ich hatte schreckliche Angst. Also tat ich das, was mir als Erstes in den Sinn kam.«

Bond wusste, dass sie hinter ihm her gewesen waren und dass sie Vespers Tasche vermutlich selbst aus dem Wagen geworfen hätten, wenn sie es nicht getan hätte.

»Es war zweifellos hilfreich«, sagte Bond, »aber warum haben Sie mir kein Zeichen gegeben, nachdem sie mich erwischt hatten und ich mit Ihnen sprach? Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht. Ich dachte schon, die hätten Sie bewusstlos geschlagen oder so etwas.«

»Ich fürchte, ich muss tatsächlich bewusstlos gewesen sein«, sagte Vesper. »Ich fiel aufgrund des Sauerstoffmangels in Ohnmacht, und als ich wieder zu mir kam, hatten sie vor meinem Gesicht ein Loch in mein Kleid gerissen. Ich muss erneut in Ohnmacht gefallen sein. Ich erinnere mich an kaum etwas, bis wir die Villa erreichten. Mir wurde erst klar, dass Sie gefangen genommen worden waren, als ich hörte, wie Sie im Flur hinter mir herwollten.«

»Und die haben Sie nicht angerührt?«, fragte Bond. »Sie haben nicht versucht, sich an Ihnen zu vergehen, während ich verprügelt wurde?«

»Nein«, sagte Vesper. »Sie ließen mich einfach auf einem Sessel sitzen. Sie tranken und spielten Karten – ‚Belote‘ glaube ich, soweit ich hören konnte – und dann schliefen sie ein. Ich vermute, dass SMERSCH sie deswegen so leicht erwischen konnte. Sie fesselten meine Beine und setzten mich auf einen Stuhl in einer Ecke, der zur Wand gedreht war, sodass ich nichts von SMERSCH sah. Ich hörte einige seltsame Geräusche. Ich schätze, dass ich dadurch aufwachte. Und dann klang es so, als würde einer von ihnen von seinem Stuhl fallen. Ein paar leise Schritte waren zu hören, und eine Tür schloss sich. Danach geschah nichts mehr, bis Mathis und die Polizei Stunden später in den Raum stürmten. Ich schlief den Großteil der Zeit. Ich hatte keine Ahnung, was mit Ihnen passiert war, aber«, ihre Stimme versagte kurz, »einmal hörte ich einen schrecklichen Schrei. Er klang, als käme er von sehr weit weg. Zumindest glaube ich, dass es sich um einen Schrei handelte. Damals dachte ich, es wäre vielleicht ein Albtraum gewesen.«

»Ich fürchte, das muss wohl ich gewesen sein«, sagte Bond.

Vesper streckte eine Hand aus und berührte die seine. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Es ist schrecklich«, sagte sie. »Die Dinge, die sie Ihnen angetan haben. Und es war alles meine Schuld. Wenn ich nur …«

Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen.

»Ist schon gut«, sagte Bond tröstend. »Was geschehen ist, ist geschehen. Jetzt ist alles vorbei und Gott sei Dank haben die Sie in Ruhe gelassen.« Er tätschelte ihr Knie. »Sie wollten Sie ebenfalls foltern, sobald sie mich so richtig weichgeklopft hatten«, (weichgeklopft im wahrsten Sinne des Wortes, dachte er bei sich). »Wir verdanken SMERSCH eine Menge. Aber vergessen wir das Ganze. Es hatte sicherlich nichts mit Ihnen zu tun. Auf diese Notiz hätte jeder reinfallen können. Wie gesagt, was geschehen ist, ist geschehen«, fügte er fröhlich hinzu.

Vesper sah ihn aus tränenverschleierten Augen dankbar an. »Versprochen?«, fragte sie. »Ich dachte, dass Sie mir niemals vergeben würden. Ich … ich werde versuchen, es wiedergutzumachen. Irgendwie.« Sie hielt den Blick weiterhin auf ihn gerichtet.

Irgendwie?, dachte Bond bei sich. Er schaute sie an. Sie schenkte ihm ein Lächeln. Er erwiderte es.

»Sie sollten sich vorsehen«, scherzte er. »Ich könnte darauf zurückkommen.«

Sie sah ihm direkt in die Augen und erwiderte nichts, doch die rätselhafte Herausforderung war wieder da. Sie drückte seine Hand und stand auf. »Ein Versprechen ist ein Versprechen«, sagte sie.

Dieses Mal wussten sie beide, wie dieses Versprechen aussah.

Sie nahm ihre Tasche vom Bett und ging zur Tür.

»Soll ich morgen wiederkommen?« Sie sah Bond ernst an.

»Ja, bitte, Vesper«, sagte Bond. »Das würde mir gefallen. Schauen Sie sich in der Gegend noch ein wenig um. Es wird sicher Spaß machen, darüber nachzudenken, was wir unternehmen können, sobald ich wieder aufstehen darf. Werden Sie sich ein paar Sachen überlegen?«

»Ja«, sagte Vesper. »Bitte werden Sie schnell wieder gesund.«

Sie sahen sich noch ein paar Sekunden lang an. Dann ging sie hinaus und schloss die Tür, und Bond lauschte, bis das Geräusch ihrer Schritte verklungen war.

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