»LA VIE EN ROSE?«

Der Eingang zum Roi Galant bestand aus einem zwei Meter hohen goldenen Bilderrahmen, der einst womöglich das riesige Porträt eines adligen Europäers umgeben hatte. Er befand sich in einer diskreten Ecke der »Küche« – dem öffentlichen Roulette- und Bouleraum, wo an einigen Tischen immer noch reges Treiben herrschte. Als Bond Vespers Arm nahm und sie über die vergoldete Schwelle führte, kämpfte er gegen das Verlangen an, sich ein wenig Geld von der caisse auszahlen zu lassen und damit am nächstbesten Tisch Maximaleinsätze zu spielen. Doch er wusste, dass das eine dreiste und billige Geste wäre, um Eindruck bei der Bourgeoisie zu schinden. Egal ob er gewinnen oder verlieren würde, es wäre ein Tritt ins Gesicht des Glücks, das ihm zuteilgeworden war.

Der Nachtclub war klein und dunkel. Er wurde nur von Kerzen in vergoldeten Kronleuchtern erhellt, deren warmes Licht durch Wandspiegel verstärkt wurde, die ebenfalls von goldenen Rahmen eingefasst waren. Die Wände waren mit dunkelrotem Satin bezogen, die Stühle und banquettes mit dazu passendem rotem Plüsch. In der gegenüberliegenden Ecke spielte ein Musikertrio auf Piano, elektrischer Gitarre und Schlagzeug eine gedämpfte, liebliche Version von »La Vie en Rose«. Der sanfte Rhythmus strahlte Verführung aus. Bond hatte das Gefühl, dass sich sämtliche Paare unter den Tischen leidenschaftlich berühren müssten.

Sie wurden an einen Ecktisch in der Nähe der Tür geführt. Bond bestellte eine Flasche Veuve Clicquot sowie Rührei mit Speck.

Eine Weile lang saßen sie schweigend da und lauschten der Musik. Dann wandte Bond sich an Vesper. »Es ist wundervoll, hier mit Ihnen zu sitzen und zu wissen, dass der Auftrag erledigt ist. Es ist ein schönes Ende für den Tag – die Belohnung.«

Er erwartete, dass sie lächeln würde. »Ja, nicht wahr?«, erwiderte sie in recht sprödem Tonfall. Sie schien darauf konzentriert zu sein, der Musik zu lauschen. Sie hatte einen Ellbogen auf den Tisch und ihr Kinn auf ihre Hand gestützt, allerdings auf den Handrücken statt auf die Handfläche, und Bond bemerkte, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, als ob sie die Hand zur Faust geballt hätte.

Zwischen dem Daumen und den ersten beiden Fingern der rechten Hand hielt sie eine von Bonds Zigaretten, wie ein Künstler seinen Zeichenstift halten würde, und obwohl sie gelassen rauchte, strich sie die Zigarette hin und wieder im Aschenbecher ab, ohne dass sich Asche daran befunden hätte.

Bond bemerkte diese Kleinigkeiten, weil er sich ihrer Präsenz intensiv bewusst war und sie in seinen eigenen Zustand der Wärme und der entspannten Sinnlichkeit ziehen wollte. Doch er akzeptierte ihre Zurückhaltung. Er nahm an, sie sei auf ein Verlangen zurückzuführen, sich vor ihm zu schützen. Oder es war ihre Reaktion auf die Kaltschnäuzigkeit, mit der er ihr früher an diesem Abend begegnet war, seine bewusste Kaltschnäuzigkeit, von der er wusste, dass sie sie als Zurückweisung empfunden haben musste.

Er war geduldig. Er trank Champagner und sprach ein wenig über die Ereignisse des Tages sowie über Mathis’ und Leiters Persönlichkeiten und die möglichen Konsequenzen für Le Chiffre. Er war diskret und erwähnte lediglich die Aspekte der Mission, über die sie in London informiert worden sein musste.

Sie antwortete oberflächlich. Sie sagte, natürlich hätten sie die beiden bewaffneten Männer bemerkt, sich aber nichts dabei gedacht, als sich der Mann mit dem Stock hinter Bonds Stuhl gestellt habe. Sie seien nicht davon ausgegangen, dass im Casino selbst etwas gegen ihn unternommen werden würde. Gleich nachdem Bond und Leiter in ihr Hotel zurückgegangen waren, hatte sie in Paris angerufen und Ms Vertreter das Ergebnis des Spiels mitgeteilt. Sie hatte vorsichtig sprechen müssen, und der Agent hatte kommentarlos aufgelegt. Sie sollte diesen Anruf unabhängig vom Ausgang des Spiels tätigen. M hatte verlangt, dass die Information zu jeder Tages- oder Nachtzeit persönlich an ihn weitergeleitet wurde.

Das war alles, was sie sagte. Sie nippte an ihrem Champagner und schaute Bond kaum an. Sie lächelte nicht. Bond war frustriert. Er trank eine Menge Champagner und bestellte eine weitere Flasche. Das Rührei wurde serviert, und er aß schweigend.

Um vier Uhr wollte Bond gerade nach der Rechnung verlangen, als der maître d’hôtel an ihrem Tisch erschien und nach Miss Lynd fragte. Er reichte ihr eine Notiz, die sie entgegennahm und eilig las.

»Oh, es ist nur Mathis«, sagte sie. »Er bittet mich, in den Eingangsbereich zu kommen. Er hat eine Nachricht für Sie. Vermutlich ist er nicht angemessen gekleidet und kann deswegen nicht selbst herkommen. Es wird nicht lange dauern. Vielleicht können wir danach gehen.«

Sie schenkte ihm ein angespanntes Lächeln. »Ich fürchte, ich bin heute Abend keine gute Gesellschaft. Es war ein nervenaufreibender Tag. Tut mir leid.«

Bond erwiderte etwas Oberflächliches und stand auf. »Ich lasse die Rechnung bringen«, sagte er und beobachtete, wie sie die paar Schritte zum Ausgang machte.

Er nahm wieder Platz und zündete sich eine Zigarette an. Er fühlte sich völlig ausgelaugt. Plötzlich wurde ihm klar, wie müde er war. Die Stickigkeit dieses Raums setzte ihm zu, genauso wie sie ihm in den frühen Morgenstunden des Vortags im Casino zugesetzt hatte. Er verlangte die Rechnung und nahm einen letzten Schluck Champagner. Er schmeckte bitter, wie es beim ersten Glas, das man zu viel trank, immer der Fall war. Er hätte gern Mathis’ fröhliches Gesicht gesehen und seine Nachricht gehört, vielleicht sogar ein paar beglückwünschende Worte.

Plötzlich kam ihm die Nachricht an Vesper seltsam vor. Diese Vorgehensweise passte nicht zu Mathis. Er hätte sie beide gebeten, ihn an der Bar des Casinos zu treffen, oder wäre einfach zu ihnen in den Nachtclub gekommen, egal, wie er gekleidet war. Sie hätten zusammen gelacht, und Mathis wäre aufgeregt gewesen. Er hatte Bond viel zu erzählen, viel mehr, als Bond ihm zu erzählen hatte. Die Verhaftung des Bulgaren, der vermutlich noch weitere Einzelheiten gestanden hatte. Die Jagd nach dem Mann mit dem Stock. Le Chiffres Vorgehen nach dem Verlassen des Casinos.

Bond schüttelte sich. Er bezahlte eilig die Rechnung und wartete nicht auf das Wechselgeld. Stattdessen stand er auf und ging schnell zum Ausgang, ohne auf die Abschiedsfloskeln des maître d’hôtel und des Portiers zu reagieren.

Er eilte durch den Spielsaal und ließ den Blick aufmerksam durch den langen Eingangsbereich schweifen. Er fluchte und beschleunigte seine Schritte. Dort befanden sich nur ein paar Mitarbeiter des Casinos und zwei oder drei Männer und Frauen in Abendgarderobe, die sich ihre Sachen an der Garderobe aushändigen ließen.

Keine Vesper. Kein Mathis.

Jetzt rannte er fast. Er erreichte den Eingang und sah sich auf den Stufen nach rechts und links und zwischen den verbliebenen Autos um.

Der Hotelportier kam auf ihn zu.

»Ein Taxi, Monsieur?«

Bond winkte ab und lief die Stufen hinunter, während er in die Schatten starrte und die kalte Nachtluft auf seinen schweißnassen Schläfen spürte.

Er war auf halbem Weg nach unten, als er einen entfernten Schrei vernahm, gefolgt vom Zuschlagen einer Tür zu seiner Rechten. Mit einem scharfen Fauchen und einem Stottern des Auspuffs schoss ein Citroën aus den Schatten ins Mondlicht hinaus. Sein Frontantrieb ließ ihn über die losen Kiesel auf dem Vorhof schlittern.

Sein Heck wackelte auf der weichen Federung, als ob auf dem Rücksitz ein heftiges Gerangel stattfinden würde.

Mit einem Dröhnen raste er durch das breite Eingangstor, sodass der Kies nur so spritzte. Ein kleiner schwarzer Gegenstand flog aus einem der hinteren Fenster und landete in einem Blumenbeet. Ein Aufschrei gequälten Gummis war zu hören, als die Reifen ruckartig nach links auf den Boulevard abbogen, und das ohrenbetäubende Echo des Auspuffs eines Citroën im zweiten Gang ertönte: ein lautes Krachen, das schnell zu einem Knistern abflachte, während das Auto an den Geschäften der Hauptstraße vorbeiraste und auf die Küstenstraße zuhielt.

Bond wusste, dass er Vespers Handtasche zwischen den Blumen finden würde.

Er lief mit der Tasche im Arm über den Kies zurück zu den hell erleuchteten Stufen und durchwühlte sie, während der Hotelportier um ihn herumwieselte.

Zwischen dem üblichen Inhalt einer Damenhandtasche befand sich die zerknüllte Notiz.


Können Sie für einen Moment in den Eingangsbereich kommen? Ich habe Neuigkeiten für Ihren Begleiter.

René Mathis

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