»LIEBESGEFLÜSTER, HASSGEFLÜSTER«

»La partie continue«, verkündete der chef eindrucksvoll. »Un banco de trente-deux millions

Die Zuschauer reckten die Hälse. Le Chiffre gab dem Kartenschlitten einen harten Stoß. Als nachträglichen Einfall zog er seinen Benzedrin-Inhalator heraus und sog die Verdampfung mit seiner Nase tief ein.

»Ein widerlicher Rohling«, sagte Mrs Du Pont links von Bond.

Sein Geist war wieder klar und konzentriert. Durch ein Wunder hatte er eine verheerende Verwundung überlebt. Er spürte immer noch den Angstschweiß unter seinen Achseln. Aber der Erfolg seiner gewagten Aktion mit dem Stuhl hatte jede Erinnerung an das schreckliche Tal der Niederlage ausgelöscht, das er gerade noch hatte durchwandern müssen.

Er hatte sich zum Narren gemacht. Das Spiel war für mindestens zehn Minuten unterbrochen worden, eine in einem respektablen Casino beispiellose Verzögerung. Doch nun warteten die Karten im Schlitten auf ihn. Sie durften ihn nicht im Stich lassen. Er spürte, wie sich sein Herzschlag bei der Aussicht auf das, was nun folgen würde, beschleunigte.

Es war zwei Uhr morgens. Abgesehen von der dichten Menge um das große Spiel, waren drei der Chemin-defer-Tische sowie die gleiche Anzahl Roulettetische noch in Betrieb.

Durch das gespannte Schweigen an seinem eigenen Tisch hörte Bond plötzlich einen entfernten Croupier sagen: »Neuf. Le rouge gagne, impair et manque

War dieses gute Omen für ihn oder für Le Chiffre?

Die beiden Karten schlitterten über das grüne Meer auf ihn zu.

Le Chiffre beobachtete ihn von der anderen Seite des Tisches, wie ein Oktopus unter einem Felsen.

Bond streckte eine ruhige Hand aus und zog die Karten zu sich. Würde es der erleichternde Anblick einer Neun oder einer Acht sein?

Im Schutz seiner Hand warf er einen Blick auf sein Blatt. Er biss die Zähne zusammen, und sein ganzer Körper spannte sich in Selbstverteidigung.

Er hatte zwei Damen, zwei rote Damen.

Aus den Schatten heraus starrten sie ihn höhnisch an. Es waren die Schlimmsten. Sie waren nichts wert. Null. Baccara.

»Eine Karte«, sagte Bond, dem es schwerfiel, die Hoffnungslosigkeit aus seiner Stimme herauszuhalten. Er spürte, wie sich Le Chiffres Blick direkt in sein Hirn brannte.

Der Bankhalter schaute sich seine eigenen zwei Karten an.

Er hatte eine Punktzahl von drei – einen König und eine schwarze Drei.

Bond stieß eine Wolke Zigarettenrauch aus. Er hatte immer noch eine Chance. Das war der eigentliche Moment der Wahrheit. Le Chiffre stieß gegen den Schlitten, zog eine Karte heraus – Bonds Schicksal – und drehte sie langsam um.

Es war eine Neun, eine wundervolle Herz Neun, die Karte, die in der Zigeunermagie als »Liebesgeflüster und Hassgeflüster« bekannt war, die Karte, die für Bond den beinahe sicheren Sieg verkörperte.

Der Croupier schob sie zu ihm herüber. Für Le Chiffre bedeutete sie nichts. Bond konnte eine Eins haben, sodass er nun zehn Punkte hätte, also null – Bacarra. Oder er konnte eine Zwei, Drei, Vier oder sogar Fünf haben. In diesem Fall wäre sein Maximalstand vier.

Eine Drei auf der Hand zu haben und eine Neun herauszugeben, war einer der Scheidepunkte des Spiels. Die Chancen zwischen ziehen und nicht ziehen lagen praktisch gleich. Bond ließ Le Chiffre in seinem eigenen Saft schmoren. Da seine Neun nur geschlagen werden konnte, wenn der Bankhalter eine Sechs zog, hätte er normalerweise seine Punktzahl offengelegt. Aber dies war kein Freundschaftsspiel.

Bonds Karten lagen vor ihm auf dem Tisch, die beiden unpersönlichen, blassrosa Rückseiten und die offene Herz Neun. Diese Neun konnte Le Chiffre entweder die Wahrheit erzählen oder viele Variationen von Lügen.

Das ganze Geheimnis lag auf der anderen Seite der zwei rosafarbenen Rücken, wo die beiden Damen den grünen Filz küssten.

Dem Bankhalter lief der Schweiß zu beiden Seiten seiner imposanten Nase herunter. Seine dicke Zunge kroch verschlagen heraus und leckte einen Tropfen aus dem Winkel der roten Wunde seines Munds. Er blickte auf Bonds Karten, dann auf seine eigenen, und wieder zurück auf Bonds.

Dann zuckte sein ganzer Körper, und er zog eine Karte für sich selbst aus dem Schlitten.

Er sah sie an. Alle am Tisch reckten ihre Hälse. Es war eine wunderbare Karte, eine Fünf.

»Huit à la banque«, sagte der Croupier.

Als Bond stumm sitzen blieb, ließ Le Chiffre plötzlich ein wölfisches Grinsen aufblitzen. Er musste gewonnen haben.

Der Croupier streckte seine Palette fast entschuldigend über den Tisch aus. In der Runde gab es niemanden, der daran zweifelte, dass Bond verloren hatte.

Der Holzspatel drehte die beiden verdeckten Karten um. Die zwei roten Damen lächelten durchtrieben.

»Et le Neuf

Die Menge schnappte hörbar nach Luft und brach dann in Gemurmel aus.

Bonds Blick war auf Le Chiffre geheftet. Der große Mann fiel in seinen Stuhl zurück, als ob man ihn körperlich geschlagen hätte. Sein Mund öffnete sich ein, zwei Mal, um zu protestieren, und seine Hand hob sich an seine Kehle. Seine Lippen waren ganz grau.

Während der riesige Stapel Jetons zu Bond hinübergeschoben wurde, griff der Bankhalter in eine Innentasche seines Jacketts und warf ein Bündel Geldscheine auf den Tisch.

Der Croupier zählte sie schnell durch.

»Un banco de dix millions«, verkündete er und packte den Gegenwert in zehn Jetons auf den Tisch, die je eine Million Franc wert waren.

Das ist das Ende, dachte Bond. Dieser Mann steht mit dem Rücken zur Wand. Dies ist sein letztes Kapital. Er steht nun dort, wo ich vor einer Stunde stand, und er macht die letzte verzweifelte Geste, zu der ich auch gegriffen habe. Doch wenn dieser Mann verliert, wird ihm niemand zu Hilfe eilen und kein Wunder ihn retten.

Bond lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Auf einem kleinen Tisch neben ihm waren eine halbe Flasche Clicquot und ein Glas aufgetaucht. Ohne zu fragen, wer der Wohltäter war, füllte Bond sich das Glas bis zum Rand und stürzte den Champagner in zwei großen Zügen hinunter.

Dann lehnte er sich zurück und legte die Arme vorwärts auf den Tisch, wie ein Kampfsportler, der am Anfang einer Runde Jiu-Jitsu nach einem Halt sucht.

Die Spieler zu seiner Linken blieben stumm.

»Banco«, sagte er direkt zu Le Chiffre.

Wieder wurden ihm die zwei Karten herübergeschoben, und dieses Mal beförderte der Croupier sie direkt zwischen seine ausgestreckten Arme.

Bond drehte seine rechte Hand ein, warf einen kurzen Blick auf die Karten und warf sie aufgedeckt in die Mitte des Tisches.

»Le Neuf«, sagte der Croupier.

Le Chiffre starrte auf seine beiden schwarzen Könige.

»Et le baccarat.« Der Croupier beugte sich über den Tisch zu dem großen Stapel Jetons vor.

Le Chiffre sah ihnen nach, während sie zwischen den vielen Millionen im Schatten von Bonds linkem Arm verschwanden. Dann stand er langsam auf und schob sich ohne ein weiteres Wort an den Spielern vorbei zum Ausgang der Messingabsperrung. Er öffnete die samtüberzogene Kette, und ließ sie fallen. Die Zuschauer bildeten eine Gasse für ihn. Sie sahen ihn neugierig und ein wenig ängstlich an, als ob er den Geruch des Todes an sich tragen würde. Dann verschwand er aus Bonds Sicht.

Bond erhob sich. Er nahm einen Hunderttausend-Franc-Jeton vom Stapel neben sich und warf ihn dem chef de partie über den Tisch hinweg zu. Er winkte den überschwänglichen Dank beiseite und bat den Croupier, seine Gewinne zur caisse bringen zu lassen. Die anderen Spieler verließen ihre Plätze. Ohne Bankhalter konnte es kein Spiel geben, und inzwischen war es auch schon halb drei. Er tauschte mit seinen Nachbarn rechts und links ein paar Nettigkeiten aus und duckte sich dann unter dem Geländer hindurch, wo Vesper und Felix Leiter bereits auf ihn warteten.

Zusammen gingen sie zur caisse. Bond wurde in das Büro der Geschäftsleitung gebeten. Auf dem Schreibtisch lag sein großer Stapel Jetons. Er fügte noch den Inhalt seiner Taschen hinzu.

Alles in allem handelte es sich nun um eine Summe von über siebzig Millionen Franc.

Bond entnahm den Betrag, den Felix Leiter ihm geliehen hatte, und ließ sich einen Scheck über die verbliebene Summe von etwa vierzig Millionen aushändigen, um das Geld bei der Crédit Lyonnais einzahlen zu können. Ihm wurde herzlichst zu seinem Gewinn gratuliert. Die Geschäftsleitung hoffte, dass er am nächsten Abend erneut spielen würde.

Bond gab eine ausweichende Antwort. Dann ging er zur Bar und gab Leiter das Geld. Ein paar Minuten lang sprachen sie bei einer Flasche Champagner über das Spiel. Leiter zog eine .45-Kugel aus seiner Jacketttasche und legte sie auf die Theke.

»Ich habe die Waffe Mathis gegeben«, sagte er. »Er hat sie fortgeschafft. Er war über Ihren Sturz genauso verblüfft wie wir. Als es geschah, stand er mit dem Rücken zur Menge und sprach mit einem seiner Männer. Der Handlanger konnte sich problemlos aus dem Staub machen. Sie können sich bestimmt vorstellen, wie sehr sie sich geärgert haben, als sie die Waffe sahen. Mathis hat mir diese Kugel gegeben, um Ihnen zu zeigen, welchem Schicksal Sie entkommen sind. Die Spitze wurde abgefeilt, um sie zu einem Dumdum-Geschoss zu machen. Das hätte Sie ganz schön zugerichtet. Aber man kann den Angriff nicht zu Le Chiffre zurückverfolgen. Der Mann kam allein herein. Sie haben das Formular, das er ausfüllen musste, um seine Eintrittskarte zu bekommen. Natürlich wird alles frei erfunden sein. Er hatte die Erlaubnis, den Gehstock mitzubringen, da er die Bestätigung einer Kriegsverwundung vorweisen konnte. Diese Leute sind mit Sicherheit hervorragend organisiert. Sie haben seine Fingerabdrücke mit dem Belinografen nach Paris geschickt, also werden wir morgen mehr über ihn erfahren.« Felix Leiter drückte eine weitere Zigarette aus. »Nun ja, Ende gut, alles gut. Sie haben Le Chiffre ja ganz schön das Fell über die Ohren gezogen, auch wenn wir zwischendurch das Schlimmste befürchtet haben. Aber Sie ja wahrscheinlich auch.«

Bond lächelte. »Dieser Umschlag war das Beste, was mir jemals zugestoßen ist. Ich dachte wirklich, dass ich erledigt wäre. Das war kein sehr angenehmes Gefühl. Sie waren mir ein wahrer Freund. Ich hoffe, dass ich den Gefallen eines Tages erwidern kann.«

Er erhob sich. »Ich gehe mal kurz ins Hotel und packe das hier weg«, sagte er und klopfte sich auf die Jacketttasche. »Es gefällt mir nicht, mit Le Chiffres Todesurteil herumzulaufen. Er könnte auf Ideen kommen. Dann würde ich gerne ein bisschen feiern. Was denken Sie?«

Er drehte sich zu Vesper um. Sie hatte seit dem Ende des Spiels kaum etwas gesagt.

»Sollen wir ein Glas Champagner im Nachtclub trinken, bevor wir zu Bett gehen? Er heißt Roi Galant. Man kommt durch die öffentlichen Räume dorthin. Er sieht sehr gemütlich aus.«

»Gerne«, antwortete Vesper. »Ich werde mich vorher nur noch schnell ein wenig frisch machen, während Sie Ihren Gewinn ins Hotel bringen. Wir treffen uns dann in der Eingangshalle.«

»Was ist mit Ihnen, Felix?« Insgeheim hoffte Bond, dass er mit Vesper allein sein konnte.

Leiter schien seine Gedanken lesen zu können.

»Ich versuche lieber, vor dem Frühstück noch eine Mütze Schlaf zu bekommen«, sagte er. »Es war ein ziemlich aufregender Tag, und ich nehme an, Paris will, dass ich morgen ein wenig aufräume. Es gibt noch ein paar lose Enden, um die Sie sich keine Gedanken zu machen brauchen, ich allerdings schon. Aber ich gehe mit Ihnen zum Hotel. Jetzt kann ich das Schatzschiff auch noch bis in den Hafen eskortieren.«

Sie schlenderten durch die Schatten, die das Licht des Vollmonds warf. Beide hatten ihre Hände auf ihre Kanonen gelegt. Es war drei Uhr früh, aber es waren noch viele Menschen unterwegs, und der Vorplatz des Casinos war mit Autos gesäumt.

Der kurze Spaziergang verlief ereignislos.

Vor dem Hotel bestand Leiter darauf, Bond bis zu seinem Zimmer zu begleiten. Es war noch genau so, wie Bond es vor sechs Stunden verlassen hatte.

»Kein Empfangskomitee«, stellte Leiter fest, »aber ich würde es ihnen zutrauen, zumindest einen letzten Versuch zu starten. Denken Sie, ich sollte lieber wach bleiben und Ihnen beiden Gesellschaft leisten?«

»Gehen Sie ruhig schlafen«, erwiderte Bond. »Machen Sie sich um uns keine Sorgen. Ohne das Geld sind sie an mir nicht interessiert, und ich habe schon eine großartige Idee, wo ich den Scheck deponieren kann. Danke für alles, was Sie getan haben. Ich hoffe, dass wir eines Tages wieder zusammenarbeiten werden.«

»Das käme mir auch gelegen«, antwortete Leiter, »solange Sie stets eine Neun ziehen, wenn sie benötigt wird – und Vesper mitbringen«, fügte er trocken hinzu. Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Bond drehte sich zum vertrauten Anblick seines Zimmers um.

Nach der überfüllten Arena des Baccaratisches und der nervösen Anspannung, die sich während des dreistündigen Spiels angestaut hatte, tat es gut, einen Moment allein zu sein und seinen Pyjama auf dem Bett und seine Haarbürste auf der Anrichte liegen zu sehen. Er ging ins Badezimmer, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und gurgelte mit einem scharfen Mundwasser. Er spürte die Beule an seinem Hinterkopf und die Prellung auf seiner rechten Schulter. Vergnügt dachte er darüber nach, wie knapp er an diesem Tag zweimal dem Tod entronnen war. Würde er die ganze Nacht dasitzen und darauf warten müssen, dass sie wiederkamen, oder befand sich Le Chiffre bereits auf dem Weg nach Le Havre oder Bordeaux, um ein Schiff in irgendeine entfernte Ecke der Welt zu nehmen, wo er den Augen und den Waffen von SMERSCH entkommen konnte?

Bond zuckte mit den Schultern. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage habe. Er blickte einen Moment lang in den Spiegel und dachte über Vesper nach. Er wollte ihren kalten und arroganten Körper. Er wollte in ihren blauen Augen Tränen und Lust sehen, seine Hände in ihrem schwarzen Haar versenken und ihren langen, geschmeidigen Körper unter seinem zurückbiegen. Der Gedanke erregte ihn, und als er erneut in den Spiegel sah, blickte sein Gesicht voller Begierde zurück.

Er wandte sich ab und zog den Scheck über vierzig Millionen Franc aus der Tasche. Dann faltete er ihn so klein es ging zusammen, öffnete die Tür und sah sich im Gang um. Er ließ die Tür weit offen stehen. Und während er nach Schritten oder dem Geräusch des Aufzugs lauschte, machte er sich mit einem kleinen Schraubenzieher an die Arbeit.

Fünf Minuten später warf er einen letzten Blick auf sein Werk, packte ein paar frische Zigaretten in sein Etui, schloss die Tür ab und ging den Gang hinunter, durch die Empfangshalle und ins Mondlicht hinaus.

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