DAS BLUTENDE HERZ
Der patron brachte ihm den Brief am nächsten Morgen.
Er stürzte in Bonds Zimmer und hielt ihm den Umschlag hin, als stünde er in Flammen.
»Es hat einen schrecklichen Unfall gegeben. Madame …«
Bond sprang aus dem Bett und lief durchs Badezimmer, doch die Durchgangstür war verschlossen. Er stürmte zurück, lief durch sein Zimmer und dann den Flur entlang, vorbei an einem zurückweichenden, erschrockenen Zimmermädchen.
Vespers Tür stand offen. Das Sonnenlicht strömte durch die Fensterläden in den Raum. Nur ihr schwarzes Haar lugte unter der Bettdecke hervor, der Rest ihres Körpers lag kerzengerade darunter wie eine steinerne Statue auf einem Grab.
Bond fiel neben ihr auf die Knie und zog die Decke weg.
Sie schlief. Es musste so sein. Ihre Augen waren geschlossen. In ihrem schönen Gesicht war keine Veränderung zu erkennen. Sie sah genauso aus wie immer und doch, und doch war sie so still, bewegte sich nicht, hatte keinen Puls, atmete nicht. Das war es. Sie atmete nicht.
Nach einer Weile kam der patron zu ihm und berührte seine Schulter. Er deutete auf das leere Glas auf dem Tisch neben ihr. Auf dem Boden des Glases befanden sich weiße Rückstände. Es stand neben ihrem Buch und ihren Zigaretten und Streichhölzern und dem kleinen armseligen Häufchen, das ihr Spiegel, ihr Lippenstift und ihr Taschentuch bildeten. Und auf dem Boden stand das leere Fläschchen Schlaftabletten, eben jene Tabletten, die Bond am ersten Abend im Badezimmer gesehen hatte.
Bond stand auf und schüttelte sich. Der patron hielt ihm den Brief hin. Er nahm ihn entgegen.
»Bitte benachrichtigen Sie den Commissaire«, sagte Bond. »Ich werde in meinem Zimmer sein, falls er mich zu sprechen wünscht.«
Er ging davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Er setzte sich auf die Kante seines Betts und starrte aus dem Fenster auf das friedliche Meer hinaus. Dann sah er mit leerem Blick auf den Umschlag. Darauf stand in großer runder Handschrift einfach nur »Pour Lui«.
Bond kam der Gedanke, dass sie die Anweisung hinterlassen haben musste, früh geweckt zu werden, damit nicht er derjenige sein würde, der sie fand.
Er drehte den Umschlag um. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie ihn mit ihrer warmen Zunge versiegelt.
Er schüttelte den Gedanken ab und öffnete den Umschlag.
Der Brief war nicht lang. Nach den ersten paar Worten las er ihn schnell und atmete dabei schwer durch die Nase.
Dann warf er ihn aufs Bett, als ob es sich um einen giftigen Skorpion handeln würde.
Mein liebster James [so begann der Brief],
ich liebe dich von ganzem Herzen, und während du diese Worte liest, hoffe ich, dass du mich immer noch liebst, denn nun, mit diesen Worten, erfolgt der letzte Moment, in dem unsere Liebe noch bestehen wird. Sag Lebewohl, mein Liebster, solange wir uns noch lieben. Lebewohl, mein Liebling.
Ich bin eine Agentin des MWD. Ja, ich bin eine Doppelagentin für die Russen. Ich bin ein Jahr nach dem Krieg übergelaufen und habe seitdem für sie gearbeitet. Ich war in einen Polen bei der RAF verliebt. Bis ich dich traf, liebte ich ihn immer noch. Du kannst herausfinden, wer er war. Er hatte zwei Kriegsverdienstorden, und nach dem Krieg wurde er von M ausgebildet und nach Polen zurückgeschickt. Sie nahmen ihn gefangen und folterten ihn, wodurch sie eine Menge erfuhren, auch über mich. Sie fanden mich und sagten, er könne leben, wenn ich für sie arbeiten würde. Er wusste nichts davon, doch er durfte mir schreiben. Die Briefe kamen immer am fünfzehnten jeden Monats an. Ich konnte einfach nicht anders. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass eines Tages kein Brief mehr kommen würde. Das hätte bedeutet, dass sie ihn getötet hätten. Ich versuchte, ihnen so wenig wie möglich zu geben. Das musst du mir glauben. Und dann kamst du. Ich verriet ihnen, dass du den Auftrag in Royale bekommen hattest, welche Tarnidentität du benutzen würdest und so weiter. Deswegen wussten sie bereits vor deiner Ankunft von dir und hatten Zeit, die Mikrofone zu installieren. Sie verdächtigten Le Chiffre, aber sie wussten nicht, wie dein Auftrag lautete, sondern nur, dass er etwas mit ihm zu tun hatte. Das habe ich ihnen verraten.
Dann trug man mir auf, mich im Casino nicht hinter dich zu stellen und dafür zu sorgen, dass Mathis und Leiter es ebenfalls nicht taten. Deswegen gelang es Le Chiffres Mann beinahe, dich zu töten. Dann musste ich die Entführung inszenieren. Du wirst dich sicher gefragt haben, warum ich im Nachtclub so still war. Sie haben mir nichts angetan, weil ich für das MWD arbeite.
Doch als ich herausfand, was dir angetan wurde, auch wenn Le Chiffre derjenige war, der es tat, und er sich später als Verräter erwies, beschloss ich, dass ich so nicht weitermachen konnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich bereits in dich verliebt. Sie wollten, dass ich ihnen Informationen von dir beschaffte, während du dich von deinen Verletzungen erholtest, doch ich weigerte mich. Ich bekam von Paris aus Anweisungen. Ich musste zweimal täglich eine Nummer im Quartier des Invalides anrufen. Sie drohten mir, und schließlich bekam ich keine Anweisungen mehr, und ich wusste, dass mein Liebhaber in Polen sterben musste. Doch sie befürchteten wohl, dass ich reden würde, denn ich erhielt eine letzte Warnung, dass SMERSCH mich holen würde, wenn ich nicht gehorchte. Ich kümmerte mich nicht darum. Ich war in dich verliebt. Dann sah ich den Mann mit der schwarzen Augenklappe im Splendide und fand heraus, dass er sich über mich erkundigt hatte. Das war an dem Tag, bevor wir herkamen. Ich hoffte, ihn abschütteln zu können. Ich beschloss, mich auf eine Affäre mit dir einzulassen und von Le Havre aus nach Südafrika zu fliehen. Ich hoffte, ein Kind von dir zu bekommen und irgendwo ganz neu anfangen zu können. Doch sie folgten uns. Man kann ihnen nicht entkommen.
Ich wusste, dass es das Ende unserer Liebe sein würde, wenn ich es dir erzählen würde. Mir war klar, dass ich entweder darauf warten konnte, von SMERSCH umgebracht zu werden, wobei du vielleicht ebenfalls zu Tode kommen würdest, oder ich konnte mich selbst umbringen.
So ist es, mein Liebster. Du kannst mich nicht daran hindern, dich so zu nennen oder zu sagen, dass ich dich liebe. Das und die Erinnerungen an dich nehme ich mit mir.
Ich kann dir nicht viel sagen, was dir helfen wird. Die Pariser Nummer war Quartier des Invalides 55200. Ich habe nie jemanden von ihnen in London getroffen. Alles wurde über eine Kontaktadresse geregelt, ein Zeitungsgeschäft am Charing Cross Place 450.
Bei unserem ersten gemeinsamen Abendessen hast du über diesen Mann in Jugoslawien gesprochen, der des Verrats angeklagt wurde. Er sagte: »Ich wurde vom Sturm der Welt fortgetragen.« Das ist meine einzige Entschuldigung. Das, und meine Liebe für den Mann, dessen Leben ich zu retten versuchte.
Es ist spät und ich bin müde, und du bist direkt hinter dieser Tür. Aber ich muss tapfer sein. Du könntest mein Leben vielleicht retten, aber ich könnte es nicht ertragen, dir in die Augen zu sehen.
Mein Liebster, mein Liebster.
V.
Bond warf den Brief zu Boden. Automatisch rieb er seine Finger aneinander. Plötzlich schlug er sich mit geballten Fäusten gegen die Schläfen und stand auf. Einen Augenblick lang schaute er auf das ruhige Meer hinaus, dann fluchte er laut und heftig.
Seine Augen waren feucht, und er wischte sie trocken.
Er zog sich ein Hemd und eine Hose an, ging mit steinharter Miene nach unten und begab sich in die Telefonzelle.
Während er nach London durchgestellt wurde, ging er noch einmal in Ruhe die Fakten aus Vespers Brief durch. Alles passte zusammen. Die kleinen Schatten und Fragezeichen der vergangenen vier Wochen, die sein Instinkt bemerkt, sein Verstand jedoch verdrängt hatte, sie alle standen nun vor ihm wie Signalschilder.
Er sah sie nun nur noch als Spionin. Ihre Liebe und seine Trauer wurden in die Abstellkammer seines Geistes verbannt. Später würde er sie vielleicht wieder hervorholen, sie leidenschaftslos untersuchen und sie dann verbittert zu dem anderen sentimentalen Ballast zurückstecken, den er lieber vergessen wollte. Momentan konnte er nur an ihren Verrat am Geheimdienst und an ihrem Land denken – und an den Schaden, den sie damit angerichtet hatte. Sein professioneller Verstand war voll und ganz mit den Folgen beschäftigt – die Tarnungen, die im Laufe der Jahre aufgeflogen sein mussten, die Codes, die der Feind geknackt haben musste, die Geheimnisse, die aus der Zentrale genau jener Abteilung nach draußen gesickert sein mussten, die sich der Infiltrierung der Sowjetunion verschrieben hatte.
Es war entsetzlich. Gott allein wusste, wie dieses Durcheinander wieder in Ordnung gebracht werden konnte.
Er knirschte mit den Zähnen. Plötzlich kamen ihm Mathis’ Worte wieder in den Sinn: »Es gibt eine Menge böser Zielpersonen auf dieser Welt.« Zuvor hatte er gesagt: »Und was ist mit SMERSCH? Ich kann Ihnen versichern, dass mir die Vorstellung, dass diese Kerle durch Frankreich laufen und jeden umbringen, den sie als Verräter an ihrem kostbaren politischen System betrachten, ganz und gar nicht gefällt.«
Wie schnell Mathis recht bekommen hatte und wie schnell ihm seine eigenen kleinen Spitzfindigkeiten um die Ohren geflogen waren!
Während Bond über die Jahre Cowboy und Indianer gespielt hatte (ja, Le Chiffres Beschreibung war absolut zutreffend), hatte der wahre Feind im Geheimen gearbeitet, kaltblütig, ohne Heldentaten, direkt vor seiner Nase.
Plötzlich sah er im Geiste Vesper vor sich, die mit Dokumenten in der Hand einen Flur entlangging. Auf einem Tablett. Sie bekamen die Informationen ganz einfach auf einem Tablett serviert, während sich der tolle Geheimagent mit der Doppelnullnummer in der Weltgeschichte herumtrieb – und Cowboy und Indianer spielte.
Seine Fingernägel gruben sich in seine Handflächen, und er begann vor Scham zu schwitzen.
Nun, es war noch nicht zu spät. Er hatte ein Ziel, das zum Greifen nah war. Er würde sich SMERSCH vornehmen und sie zur Strecke bringen. Ohne SMERSCH, ohne diese kalte Waffe des Todes und der Rache, wäre das MWD nur ein weiterer Haufen aus Beamtenspionen, der nicht besser oder schlechter als einer der westlichen Geheimdienste war.
SMERSCH war der Antrieb. Sei loyal, spioniere gut, oder du stirbst. Du wirst unvermeidlich und ohne Frage gejagt und getötet.
So war es bei der ganzen russischen Maschinerie. Angst war ihr Antrieb. Für sie war es stets sicherer, anzugreifen, als den Rückzug anzutreten. Greife den Feind an, und die Kugel könnte dich verfehlen. Tritt den Rückzug an, weiche aus, begehe Verrat, und die Kugel wird dich niemals verfehlen.
Doch nun würde er den Arm angreifen, der die Peitsche und die Pistole hielt. Das Spionagegeschäft würde er den Bürohengsten überlassen. Sollten die doch spionieren und die Spione fangen. Er würde sich der Bedrohung hinter den Spionen widmen, der Bedrohung, die sie zum Spionieren zwang.
Das Telefon klingelte, und Bond nahm den Hörer ab.
»Die Verbindung« war dran, der Außenkontaktoffizier, der der einzige Mann in London war, den er aus dem Ausland anrufen durfte. Und auch nur dann, wenn ihm keine andere Wahl blieb.
»Hier spricht 007. Dies ist eine offene Leitung. Es handelt sich um einen Notfall. Können Sie mich hören? Geben Sie folgende Information sofort weiter: 3030 war eine Doppelagentin, die für die Roten gearbeitet hat.
Ja, verdammt, ich sagte ‚war‘. Das Miststück ist tot.«
James Bond kehrt zurück in
LEBEN UND STERBEN LASSEN