GÄNSEHAUT

Als Bond um die Kurve raste und den großen Wagen mit einer leichten Neigung von Körper und Händen an der Biegung entlang lenkte, überlegte er sich bereits einen Angriffsplan, den er ausführen würde, sobald sich der Abstand zwischen beiden Fahrzeugen weiter verringert hatte. Er ging davon aus, dass der feindliche Fahrer versuchen würde, auf eine Seitenstraße abzubiegen, sobald er die Gelegenheit dazu erhielt. Als er um die Kurve bog und vor sich keine Rücklichter entdeckte, war es demnach eine normale Reaktion, etwas langsamer zu fahren. Sobald er das Straßenschild erblickte, bereitete er sich darauf vor, auf die Bremse zu treten.

Er fuhr nur knapp hundert, als er sich dem schwarzen Fleck rechts von der Straße näherte, den er für den Schatten eines Baumes hielt. Dennoch blieb ihm keine Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Plötzlich funkelte ein Teppich aus Stahlspitzen direkt vor seinem Kotflügel auf. Sekunden später fuhr er genau darüber.

Bond trat automatisch mit voller Wucht auf die Bremse und stemmte sich mit aller Kraft gegen das Steuer, um sein unvermeidliches Abdriften nach links auszugleichen, doch er konnte die Kontrolle über den Wagen nur für den Bruchteil einer Sekunde aufrechterhalten. Als das Gummi von den Reifen gerissen wurde und die Felgen für einen Augenblick über den Asphalt kratzten, wirbelte das schwere Fahrzeug quer über die Straße und schlug mit einem Aufprall, der Bond aus dem Fahrersitz schleuderte, gegen die Böschung auf der linken Seite. Dann bäumte es sich langsam auf, sodass sich die Vorderräder in der Luft drehten und die großen Scheinwerfer in den Himmel leuchteten. Während der Wagen für eine Sekunde auf dem Benzintank stehen blieb, wirkte er wie eine riesige Gottesanbeterin. Dann fiel er langsam hintenüber und kam mit einem gewaltigen Scheppern auf dem Boden auf, wo Glas und Karosserieteile zerbrachen.

In der ohrenbetäubenden Stille drehte sich eines der Vorderräder leise weiter und kam schließlich quietschend zum Stehen.

Le Chiffre und seine beiden Männer mussten von ihrem Hinterhalt nur ein paar Meter auf den Wagen zugehen.

»Stecken Sie Ihre Waffen weg und holen Sie ihn da raus«, befahl er schroff. »Ich gebe Ihnen Deckung. Seien Sie vorsichtig mit ihm. Ich will keine Leiche. Und beeilen Sie sich, es wird schon hell.«

Die beiden Männer gingen auf die Knie. Einer von ihnen zog ein langes Messer hervor, schnitt etwas von dem Stoff des Cabrioletverdecks weg und packte Bonds Schulter. Er war bewusstlos und rührte sich nicht. Der andere Mann quetschte sich zwischen das auf dem Dach liegende Auto und die Böschung und zwängte sich durch den verbogenen Fensterrahmen. Er befreite Bonds Bein, das zwischen dem Steuer und dem Stoffdach festklemmte. Dann zogen sie ihn nach und nach durch das Loch im Verdeck nach draußen.

Sie schwitzen und waren voller Staub und Öl, als sie ihn endlich flach auf die Straße gelegt hatten. Der dünne Mann tastete nach seinem Herzschlag und schlug ihm dann hart links und rechts ins Gesicht. Bond stöhnte und bewegte eine Hand. Der dünne Mann schlug ihn erneut.

»Das genügt«, sagte Le Chiffre. »Fesseln Sie seine Arme und setzen Sie ihn in den Wagen. Hier«, er warf dem Mann eine Rolle Kabel zu. »Leeren Sie zuerst seine Taschen und geben Sie mir seine Pistole. Womöglich hat er noch andere Waffen, aber die können wir ihm später abnehmen.«

Er nahm die Gegenstände entgegen, die der dünne Mann ihm reichte, und verstaute sie zusammen mit Bonds Beretta in seinen weiten Taschen, ohne sie sich anzusehen. Er überließ die Männer ihrer Arbeit und ging zurück zum Auto. In seinem Gesicht zeigte sich weder Freude noch Aufregung.

Der beißende Schmerz des Drahtkabels, das in seine Handgelenke schnitt, ließ Bond wieder zu sich kommen. Sein ganzer Körper schmerzte, als wäre er mit einem Holzknüppel verprügelt worden, doch als er auf die Füße gezogen und auf die schmale Seitenstraße zugestoßen wurde, wo der Citroën bereits mit leise laufendem Motor wartete, stellte er fest, dass er keine gebrochenen Knochen hatte. Allerdings fühlte er sich nicht zu irgendwelchen verzweifelten Fluchtversuchen in der Lage und ließ daher ohne den geringsten Widerstand zu, dass man ihn auf den Rücksitz zerrte.

Er fühlte sich völlig entmutigt und schwach, sowohl was seine Entschlossenheit als auch seine körperliche Verfassung anging. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden hatte er einfach zu viel durchmachen müssen, und nun erschien ihm dieser letzte Schlag des Feindes fast schon zu endgültig. Dieses Mal würden keine Wunder geschehen. Niemand wusste, wo er war und für die nächsten Stunden würde ihn niemand vermissen. Das Wrack seines Wagens würde sicher bald gefunden werden, aber es würde Stunden dauern, bis man herausgefunden hatte, wem er gehörte.

Und Vesper. Er schaute nach rechts, vorbei an dem dünnen Mann, der sich mit geschlossenen Augen zurückgelehnt hatte. Seine erste Reaktion war Verachtung. Dieses Mädchen war verdammt noch mal dumm genug gewesen, sich wie ein gerupftes Huhn zusammenschnüren zu lassen. Ihr Kleid war über ihren Kopf gezogen, als wäre die ganze Sache nicht mehr als ein Studentenstreich. Doch dann tat sie ihm leid. Ihre nackten Beine sahen so kindlich und hilflos aus.

»Vesper«, raunte er leise.

Das Bündel in der Ecke reagierte nicht, und Bond überkam ein plötzlicher Schauer, doch dann regte sie sich kaum merklich.

Im gleichen Augenblick schlug ihm der dünne Mann hart auf die Brust.

»Ruhe.«

Bond krümmte sich vor Schmerz und zum Schutz vor einem weiteren Hieb zusammen, woraufhin er einen Schlag in den Nacken kassierte, der dafür sorgte, dass er sich wieder aufrichtete und durch zusammengebissene Zähne ein Keuchen ausstieß.

Der dünne Mann hatte ihm einen harten, professionellen Schlag mit der Handkante versetzt. Seine Genauigkeit und sein Mangel an Anstrengung hatten etwas Tödliches an sich. Nun saß er wieder zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen da. Er war ein Mann, der einem Angst einjagte, ein böser Mann. Bond hoffte, dass er eine Gelegenheit bekommen würde, ihn zu töten.

Plötzlich wurde der Kofferraum des Wagens geöffnet, und ein schepperndes Krachen ertönte. Bond vermutete, dass sie gewartet hatten, bis der dritte Mann den Teppich aus stacheligen Ketten wieder im Auto verstaut hatte. Er ging davon aus, dass es sich dabei um eine Adaption der mit Nägeln besetzten Vorrichtungen handelte, die die Widerstandsbewegung gegen deutsche Stabsfahrzeuge eingesetzt hatte.

Wieder dachte er über die Effizienz dieser Leute und die Genialität der Ausrüstung nach, die sie benutzt hatten. Hatte M ihren Einfallsreichtum unterschätzt? Er unterdrückte das Bedürfnis, London die Schuld zu geben. Er hätte es selbst wissen müssen. Er hätte die kleinen Warnsignale erkennen und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen. Er verzog das Gesicht bei dem Gedanken daran, wie er im Roi Galant Champagner geschlürft hatte, während der Feind damit beschäftigt gewesen war, seinen Gegenschlag vorzubereiten. Er verfluchte sich selbst und die Überheblichkeit, die ihn so sicher gemacht hatte, dass die Schlacht gewonnen und der Feind auf der Flucht war.

Die ganze Zeit über hatte Le Chiffre kein Wort gesagt. Gleich nachdem der Kofferraum geschlossen worden war, stieg der dritte Mann, den Bond sofort erkannte, neben ihm in den Wagen, und Le Chiffre fuhr rückwärts auf die Hauptstraße zurück. Er schaltete durch die Gänge hoch und raste bald darauf mit über hundertzehn die Küstenstraße entlang.

Mittlerweile dämmerte es bereits – es musste etwa fünf Uhr sein, schätzte Bond –, und er überlegte, dass sich nur zwei oder drei Kilometer weiter die Abfahrt zu Le Chiffres Villa befinden musste. Er hätte nicht gedacht, dass sie Vesper dorthin bringen würden. Nun, da ihm klar wurde, dass Vesper nur der Speck gewesen war, um die Maus zu fangen, erkannte er, worum es hier wirklich ging.

Es war keine besonders angenehme Erkenntnis. Zum ersten Mal seit seiner Gefangennahme überkam Bond Angst, und er spürte, wie sie an ihm hochkroch.

Zehn Minuten später bog der Citroën nach links ab und fuhr eine kleine Seitenstraße entlang, die zum Teil mit Gras bewachsen war. Dann passierte er ein Paar maroder Stucksäulen und gelangte auf einen ungepflegten Vorhof, der von einer hohen Mauer umgeben war. Sie hielten vor einer weißen Tür an, von der die Farbe abblätterte. Über einem rostigen Klingelknopf im Türrahmen stand in kleinen Zinkbuchstaben auf einem hölzernen Untergrund: »Les Noctambules« und darunter »Sonnez SVP«.

Dem Wenigen nach zu urteilen, was Bond von der Betonfassade erkennen konnte, war die Villa im Stil typischer französischer Küstenhäuser gehalten. Er konnte sich vorstellen, wie eine Putzfrau, die der Immobilienmakler in Royale hergeschickt hatte, zu Beginn des Sommers die toten Schmeißfliegen eilig weggefegt und die muffigen Räume kurz gelüftet hatte. Alle fünf Jahre wurden die Räume und das Gebälk im Außenbereich weiß übertüncht, und ein paar Wochen lang bot die Villa der Welt einen freundlichen Anblick. Dann machten sich die winterlichen Regenfälle und die eingesperrten Fliegen ans Werk, und die Villa nahm schnell wieder ihr verlassenes Aussehen an.

Doch, so überlegte Bond, für Le Chiffres Absichten an diesem Morgen war sie perfekt geeignet, sofern er diese richtig deutete. Sie hatten seit seiner Gefangennahme kein anderes Haus passiert, und von seiner Erkundung am Tag zuvor wusste er, dass es in Richtung Süden nur hin und wieder einen vereinzelten Bauernhof gab.

Als er mit einem heftigen Ellbogenhieb in die Rippen von dem dünnen Mann aus dem Auto gedrängt wurde, wusste er, dass Le Chiffre sie sich mehrere Stunden lang ungestört vornehmen konnte. Wieder überkam ihn ein Schauer.

Le Chiffre öffnete die Tür mit einem Schlüssel und verschwand im Inneren des Hauses. Vesper, die im frühen Morgenlicht unglaublich anrüchig aussah, wurde mit einem Schwall unzüchtiger französischer Worte von dem Mann, den Bond insgeheim als »den Korsen« bezeichnete, hinter ihm hergestoßen. Bond folgte ihnen, ohne dem Dünnen die Gelegenheit zu geben, ihn anzutreiben.

Der Schlüssel der Vordertür drehte sich im Schloss.

Le Chiffre stand rechts von ihnen im Durchgang zu einem Zimmer. Er krümmte einen Finger und rief Bond mit dieser stummen, spinnenartigen Geste zu sich.

Vesper wurde durch einen Flur in den hinteren Bereich des Hauses geführt. Bond fällte eine Entscheidung.

Mit einem heftigen Rückwärtstritt, der das Schienbein des dünnen Manns traf und ihm einen unterdrückten Schmerzensschrei entlockte, warf er sich in den Flur und folgte Vesper. Da seine Füße seine einzige Waffe waren, bestand sein Plan darin, den beiden Bewaffneten so viel Schaden wie möglich zuzufügen und ein paar eilige Worte mit dem Mädchen zu wechseln. Ein anderer Plan war nicht möglich. Er wollte ihr nur mitteilen, dass sie nichts verraten sollte.

Als sich der Korse aufgrund des Aufruhrs umdrehte, stürzte sich Bond bereits auf ihn, setzte zum Tritt an und zielte mit seinem rechten Schuh auf die Leistengegend des anderen Mannes.

Der Korse warf sich blitzschnell gegen die Wand des Flurs, und als Bonds Fuß an seiner Hüfte vorbeirauschte, ließ er eilig, aber dennoch elegant seine linke Hand hervorschnellen, ergriff Bonds Schuh mitten in der Luft und verdrehte ihn ruckartig.

Bond verlor das Gleichgewicht, und sein anderer Fuß hob vom Boden ab. In der Luft drehte sich sein gesamter Körper und wurde schließlich durch den Schwung seitlich zu Boden geworfen.

Für einen Moment lag er einfach nur atemlos da. Dann kam der dritte Mann, zerrte ihn mit einer Hand am Kragen hoch und drückte ihn gegen die Wand. In der anderen Hand hielt er eine Waffe. Er sah Bond neugierig in die Augen. Dann beugte er sich ohne Eile vor und schlug den Lauf der Waffe hart gegen Bonds Schienbeine. Bond stöhnte auf und sackte zusammen.

»Beim nächsten Mal werden es nicht deine Schienbeine, sondern deine Zähne sein«, sagte der Dünne in schlechtem Französisch.

Eine Tür schlug zu. Vesper und der Korse waren verschwunden. Bond drehte den Kopf nach rechts. Le Chiffre war ein paar Schritte in den Flur hinausgetreten. Wieder krümmte er den Finger und bedeutete Bond, zu ihm zu kommen. Dann sprach er zum ersten Mal.

»Kommen Sie, mein lieber Freund. Wir verschwenden unsere Zeit.«

Er sprach akzentfreies Englisch. Seine Stimme war leise, sanft und gemächlich. Er zeigte keinerlei Emotionen. Er hätte ebenso gut ein Arzt sein können, der den nächsten Patienten aus dem Wartezimmer zu sich hereinbat – einen hysterischen Patienten, der kleinlaut mit einer Krankenschwester diskutiert hatte.

Erneut fühlte sich Bond winzig und machtlos. Nur ein Experte im Jiu-Jitsu hätte ihn so schnell und mühelos erledigen können wie der Korse. Die kühle Präzision, mit der der dünne Mann es ihm mit gleicher Münze heimgezahlt hatte, war ruhig und sogar künstlerisch gewesen.

Fast fügsam ging Bond den Flur entlang. Sein ungeschickter Widerstand gegen diese Leute hatte ihm lediglich ein paar neue blaue Flecke eingebracht.

Als er vor dem dünnen Mann über die Schwelle trat, wusste er, dass er sich voll und ganz in ihrer Gewalt befand.

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