DIE SCHWARZE AUGENKLAPPE

Als er leise von der Terrasse ins Halbdunkel des noch geschlossenen Esszimmers trat, war er überrascht, Vesper zu sehen, die aus der gläsernen Telefonzelle in der Nähe des Eingangs kam und langsam auf die Treppe zu ihren Zimmern ging.

»Vesper!«, rief er, da er dachte, dass sie eine dringende Botschaft erhalten hatte, die sie beide etwas angehen könnte.

Schnell drehte sie sich um, eine Hand vor den Mund haltend.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn einen Moment länger als nötig an.

»Was ist los, Liebling?«, fragte er. Welche Krise konnte nun in ihr Leben gedrungen sein?

»Oh«, sagte sie atemlos, »du hast mich erschreckt. Es war nur … ich habe nur Mathis angerufen. Mathis«, wiederholte sie. »Ich habe ihn gefragt, ob er mir vielleicht ein zweites Kleid besorgen kann. Du weißt schon, von dieser Freundin, von der ich dir erzählt habe. Die vendeuse. Weißt du«, sie sprach schnell, ihre Worte überschlugen sich beinahe, »ich habe nichts Richtiges zum Anziehen. Ich dachte, ich könnte ihn vielleicht noch zu Hause erreichen, bevor er ins Büro fährt. Ich habe die Telefonnummer meiner Freundin nicht, und ich dachte, ich könnte dich damit überraschen. Ich wollte nicht, dass du mich herumlaufen hörst und dadurch aufwachst. Ist das Wasser angenehm? Warst du schwimmen? Du hättest auf mich warten sollen.«

»Es ist wundervoll«, sagte Bond, der entschieden hatte, die Sache nicht weiter zu verfolgen, auch wenn ihn ihre offensichtlichen Schuldgefühle wegen dieser kindischen Heimlichtuerei irritierten. »Geh doch auch ins Meer. Danach können wir auf der Terrasse frühstücken. Ich bin völlig ausgehungert. Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Ich war nur überrascht, hier um diese Zeit überhaupt jemanden anzutreffen.«

Er legte seinen Arm um sie, doch sie löste sich von ihm und lief schnell die Treppe hoch.

»Ich war so überrascht, dich zu sehen«, sagte sie und versuchte, den Zwischenfall zu überspielen. »Du hast ausgesehen wie ein Geist, ein Ertrunkener, so wie dir die Haare über die Augen hängen.« Sie lachte abgehackt. Als ihr klar wurde, wie hart es klang, wandelte sie das Lachen in ein Husten um.

»Ich hoffe, ich habe mich nicht erkältet«, sagte sie.

Sie baute weiter an ihrem Lügengebäude, bis Bond sie übers Knie legen und sie zwingen wollte, ihm die Wahrheit zu sagen. Doch stattdessen tätschelte er ihr vor ihrem Zimmer beruhigend den Rücken und meinte, sie solle sich beeilen und schwimmen gehen.

Dann ging er in sein Zimmer.


Dies war das Ende der Unversehrtheit ihrer Liebe. Die folgenden Tage waren ein Scherbenhaufen aus Lügen und Scheinheiligkeit, vermischt mit ihren Tränen und Momenten voll animalischer Leidenschaft, der sie sich mit einer Gier hingab, die aufgrund der Leere ihrer Tage anstößig wirkte.

Mehrere Male versuchte Bond, die schrecklichen Mauern des Misstrauens zwischen ihnen einzureißen. Wieder und wieder sprach er das Thema des Telefonats an, doch sie blieb stur und bauschte ihre Geschichte mit Ausschmückungen auf, von denen Bond wusste, dass sie sie sich erst später ausgedacht hatte. Sie warf Bond sogar vor, zu denken, dass sie einen anderen Liebhaber hätte.

Diese Szenen endeten immer mit ihren bitteren Tränen und Momenten, in denen sie fast in Hysterie verfiel.

Mit jedem Tag wurde die Atmosphäre hasserfüllter.

Bond konnte kaum fassen, dass menschliche Beziehungen über Nacht zusammenbrechen und zu Staub werden konnten, und er durchforstete immer wieder seine Gedanken nach dem Grund dafür.

Er spürte, dass es Vesper ebenso schlecht ging wie ihm, und dass ihr Leid vielleicht sogar noch größer war als seines. Doch das Geheimnis des Telefonats, das sich Vesper vehement, fast schon ängstlich, wie Bond fand, weigerte aufzuklären, war wie ein Schatten, der immer größer wurde, da täglich andere kleine Geheimnisse und Lügen hinzukamen.

An diesem Tag verschlimmerte sich die Situation bereits beim Mittagessen.

Nach dem Frühstück, das für sie beide höchst unangenehm verlaufen war, sagte Vesper, sie habe Kopfschmerzen und werde daher in ihrem Zimmer bleiben und sich von der Sonne fernhalten. Bond nahm sich ein Buch und spazierte ein paar Kilometer am Strand entlang. Als er zurückkehrte, hatte er sich selbst eingeredet, dass sie in der Lage sein würden, das Problem beim Mittagessen aus der Welt zu schaffen.

Als sie sich setzten, entschuldigte er sich umgehend dafür, sie an der Telefonzelle erschreckt zu haben und ließ das Thema dann fallen, um ihr zu erzählen, was er bei seinem Spaziergang erlebt hatte. Doch Vesper war unkonzentriert und gab nur einsilbige Kommentare von sich. Sie schob ihr Essen auf dem Teller hin und her, wich Bonds Blicken aus, schaute gedankenverloren an ihm vorbei.

Als sie ein- oder zweimal nicht auf eine Frage geantwortet hatte, verfiel Bond ebenfalls in Schweigen und widmete sich seinen düsteren Gedanken.

Plötzlich versteifte sie sich. Ihre Gabel fiel klirrend auf den Rand ihres Tellers und dann vom Tisch auf den Boden der Terrasse.

Bond sah auf. Sie war leichenblass geworden und starrte voller Schrecken über seine Schulter.

Bond drehte seinen Kopf herum und stellte fest, dass ein Mann gerade ein gutes Stück von ihnen entfernt an einem Tisch auf der anderen Seite der Terrasse Platz genommen hatte. Er schien ganz gewöhnlich zu sein, vielleicht ein wenig dunkel gekleidet, doch auf den ersten Blick ordnete Bond ihn sofort als Geschäftsmann ein, der auf seiner Reise entlang der Küste zufällig an diesem Gasthaus vorbeigekommen war oder es sich aus einem Reiseführer herausgesucht hatte.

»Was ist los, Liebling?«, fragte er nervös.

Vespers Augen blieben auf die ferne Gestalt gerichtet.

»Das ist der Mann aus dem Auto«, brachte sie mit erstickter Stimme hervor. »Der Mann, der uns gefolgt ist. Ich weiß, dass er es ist.«

Bond sah erneut über seine Schulter. Der patron sprach mit dem neuen Gast über die Speisekarte. Es war ein völlig normaler Anblick. Sie lächelten, als sie auf etwas in der Speisekarte deuteten, und schienen sich einig zu sein, dass es die richtige Wahl war, denn der patron nahm die Karte an sich und zog sich nach einer weiteren kurzen Unterhaltung, bei der es vermutlich um den passenden Wein ging, zurück.

Der Mann schien zu merken, dass er beobachtet wurde. Er sah auf und schaute sie einen Moment lang neugierig an. Dann griff er nach einer Aktentasche auf dem Stuhl neben sich, holte eine Zeitung heraus und fing an, darin zu lesen, wobei er seine Ellbogen auf dem Tisch abstützte.

Als der Mann ihnen sein Gesicht zugewandt hatte, war Bond aufgefallen, dass er über einem Auge eine schwarze Augenklappe trug. Sie war nicht mit einem Band befestigt, sondern festgeklemmt wie ein Monokel. Abgesehen davon wirkte er wie ein freundlicher Mann mittleren Alters mit dunkelbraunem, ordentlich zurückgekämmtem Haar und, wie Bond aufgefallen war, als er mit dem patron gesprochen hatte, außergewöhnlich großen weißen Zähnen.

Er wandte sich wieder an Vesper. »Also wirklich, Liebling. Er sieht absolut harmlos aus. Bist du sicher, dass es derselbe Mann ist? Wir können nicht erwarten, diesen Ort ganz für uns allein zu haben.«

Vespers Gesicht war immer noch kreidebleich. Sie klammerte sich mit beiden Händen an die Tischkante. Er befürchtete, dass sie in Ohnmacht fallen könnte, und wäre beinahe aufgestanden, um zu ihr zu gehen, doch sie hielt ihn mit einer Geste davon ab. Dann griff sie nach ihrem Weinglas und nahm einen großen Schluck. Das Glas klapperte an ihren Zähnen, und sie hob die andere Hand, um es still zu halten. Dann stellte sie das Glas wieder ab.

Sie sah ihn aus leeren Augen an.

»Ich weiß, dass es derselbe Mann ist.«

Er versuchte, vernünftig mit ihr zu reden, doch sie hörte ihm nicht zu. Nachdem sie ein- oder zweimal mit einem seltsam unterwürfigen Ausdruck in den Augen über seine Schulter geschaut hatte, sagte sie, dass ihre Kopfschmerzen immer noch sehr heftig seien und sie den Nachmittag in ihrem Zimmer verbringen werde. Sie verließ den Tisch und ging ohne einen weiteren Blick zurück ins Haus.

Bond war fest entschlossen, sie zu beruhigen. Er bestellte einen Kaffee, stand dann auf und ging schnell zum Hof hinter dem Haus. Der schwarze Peugeot, der dort stand, mochte tatsächlich die Limousine sein, die sie gesehen hatten, aber es konnte sich genauso gut um eine von Millionen anderen auf Frankreichs Straßen handeln. Er warf einen schnellen Blick hinein, doch das Innere des Wagens war leer, und als er versuchte, den Kofferraum zu öffnen, erwies sich dieser als verschlossen. Er notierte sich das Pariser Nummernschild, eilte dann zu der Toilette, die ans Esszimmer angeschlossen war, zog die Kette und kehrte auf die Terrasse zurück.

Der Mann aß und sah nicht auf.

Bond setzte sich auf Vespers Stuhl, damit er den anderen Tisch beobachten konnte.

Ein paar Minuten später bat der Mann um die Rechnung, bezahlte und ging. Bond hörte, wie der Peugeot gestartet wurde, und bald war der Lärm des Auspuffs in Richtung der Straße nach Royale verschwunden.

Als der patron an seinen Tisch kam, erklärte Bond, dass Madame unglücklicherweise einen leichten Sonnenstich erlitten habe. Nachdem der patron sein Bedauern darüber ausgedrückt und sich über die Gefahren des Ausgehens bei fast jedem Wetter ausgelassen hatte, fragte Bond beiläufig nach dem anderen Gast. »Er erinnert mich an einen Freund, der ebenfalls ein Auge verlor. Sie tragen ähnliche Augenklappen.«

Der patron antwortete, dass der Mann ein Fremder sei. Das Essen habe ihm geschmeckt und er habe gesagt, er werde in ein oder zwei Tagen erneut vorbeikommen und sein Essen dann wieder in der auberge einnehmen. Offenbar sei er Schweizer, worauf auch sein Akzent hindeute. Er sei Handlungsreisender und verkaufe Armbanduhren. Es sei schrecklich nur ein Auge zu haben, habe er erklärt, und sehr anstrengend, die Augenklappe den ganzen Tag lang an Ort und Stelle zu halten. Doch er habe sich mittlerweile daran gewöhnt.

»Es ist wirklich sehr traurig«, sagte Bond. »Sie haben ebenfalls Pech gehabt.« Er deutete auf den leeren Ärmel des Gastwirts. »Ich selbst hatte großes Glück.«

Eine Weile unterhielten sie sich über den Krieg. Dann stand Bond auf.

»Übrigens«, sagte er, »Madame hat ein frühes Telefonat geführt, für das ich nicht vergessen darf, zu bezahlen. Nach Paris. Eine Nummer im Arrondissement de l’Elysée, glaube ich«, fügte er hinzu und erinnerte sich, dass Mathis dort seinen Anschluss hatte.

»Danke, Monsieur, aber diese Angelegenheit wurde bereits geregelt. Ich habe heute Morgen mit Royale telefoniert und das Telefonamt erwähnte, dass einer meiner Gäste einen Anruf nach Paris tätigte, der jedoch nicht angenommen wurde. Sie wollten wissen, ob Madame die Verbindung weiterhin aufrechterhalten möchte. Ich fürchte, diese Sache ist mir entfallen. Vielleicht wäre Monsieur so freundlich, es Madame gegenüber zu erwähnen. Lassen Sie mich überlegen, ja, der Anruf ging an eine Nummer im Quartier des Invalides.«

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