DAS MÄDCHEN AUS DEM HAUPTQUARTIER
Es war Punkt zwölf, als Bond das Splendide verließ und die Uhr des Rathauses durch ihr mittägliches Glockenspiel stolperte. Es duftete stark nach Pinien und Mimosen, und die frisch gewässerten Gärten auf der gegenüberliegenden Seite des Casinos, durch die ordentliche Kieswege verliefen, verliehen der Szenerie einen hübschen Formalismus, der einem Ballett eher angemessen schien als einem Melodram.
Die Sonne strahlte, und es lag eine Heiterkeit und Spannung in der Luft, die für die kleine Küstenstadt, die nach vielen Rückschlägen endlich wieder zu alter Größe finden wollte, Gutes verhieß.
Royale-les-Eaux, das an der Somme-Mündung lag, wo sich die flache Küstenlinie von den Stränden der nördlichen Picardie zu den bretonischen Klippen emporschwang, die bis nach Le Havre reichten, hatte ein ganz ähnliches Schicksal wie Trouville erlitten.
Royale (damals noch ohne das »Eaux«) hatte ebenfalls als kleines Fischerdorf begonnen, und sein Aufstieg zum Ruhm als eleganter Treffpunkt während des zweiten Kaiserreichs verlief so kometenhaft wie der von Trouville. Aber genau wie Deauville Trouville vernichtet hatte, so hatte Le Touquet nach einer langen Zeit des Verfalls Royale vernichtet.
Um die Jahrhundertwende, als es in Mode kam, das Vergnügen mit einer therapeutischen Wirkung zu kombinieren, und es um die kleine Küstenstadt sehr schlecht stand, wurde in den Hügeln hinter Royale eine natürliche Quelle entdeckt, die genügend Schwefel enthielt, um positive Auswirkungen auf die Leber zu haben. Und da alle Franzosen Probleme mit der Leber haben, wurde Royale im Handumdrehen zu »Royale-les-Eaux«. Und »Eau Royale« fand sich in seiner torpedoförmigen Flasche plötzlich ganz oben auf den Mineralwasserkarten der Hotels und Restaurants des Landes wieder.
Doch lange konnte es dem mächtigen Kartell von Vichy, Perrier und Vittel nicht widerstehen. Es gab eine Reihe von Klagen, einige Leute verloren eine Menge Geld, und schon bald wurde es nur noch vor Ort verkauft. Nun war Royale im Sommer wieder von den Einnahmen durch die französischen und englischen Urlauber und im Winter von seiner Fangflotte abhängig. Und natürlich von den Krümeln, die vom Tisch in Le Touquet auf sein elegant heruntergekommenes Casino abfielen.
Aber es lag etwas Besonderes in der verschnörkelten Pracht des Casino Royale mit seinem Hauch von viktorianischer Eleganz. 1950 fand ein Konsortium aus Paris, das große Geldmittel aus dem Vermögen geflohener Vichy-Anhänger zu verteilen hatte, gefallen an Royale.
Brighton war seit dem Krieg wiederbelebt worden, genau wie Nizza. Nostalgie nach der guten alten Zeit war schon immer eine gute Einnahmequelle gewesen.
Das Casino wurde wieder in seinem ursprünglichen Weiß und Gold gestrichen und die Räume in Hellgrau eingerichtet, dazu gab es weinrote Teppichböden und Vorhänge. Man installierte riesige Kronleuchter. Die Gärten wurden neu bepflanzt und die Springbrunnen wieder angestellt. Und die beiden Hotels, das Splendide und das Hermitage, wurden herausgeputzt und poliert und mit neuem Personal ausgestattet.
Selbst der kleinen Stadt mitsamt ihrem alten Hafen gelang es, ein einladendes Lächeln über ihr verwüstetes Gesicht zu legen. Die Hauptstraße wurde mit den Schaufenstern großer Pariser Juweliere und Modeschöpfer ausgestattet, die durch mietfreie Läden und großzügige Versprechungen für eine Saison hergelockt worden waren.
Dann wurde das Mahomet-Ali-Syndikat überredet, ein großes Turnier im Casino zu veranstalten, und die Société des Bains de Mer de Royale hatte das Gefühl, dass Le Touquet nun endlich einen Teil der Schätze, die es ihnen im Laufe der Jahre gestohlen hatte, wieder hergeben musste.
So stand Bond auf dieser strahlenden und funkelnden Bühne im Sonnenschein und empfand seine Mission als unpassend und abseitig und sein düsteres Gewerbe als Beleidigung seiner Mitschauspieler.
Er schob dieses vorübergehende Unbehagen beiseite, umrundete die Rückseite seines Hotels und ging die Rampe zur Garage hinab. Er hatte beschlossen, vor seiner Verabredung im Hermitage mit seinem Wagen an der Küste entlangzufahren und einen kurzen Blick auf Le Chiffres Villa zu werfen. Dann wollte er über die Inlandstraße zurückfahren, bis diese auf die Route Nationale nach Paris traf.
Bonds Wagen, einer der letzten Bentleys mit 4½-Liter-Motor und Amherst-Villiers-Kompressor, war sein persönliches Hobby. Er hatte ihn 1933 fast neu gekauft und während des Krieges sorgfältig eingelagert. Er wurde immer noch jedes Jahr gewartet, und ein ehemaliger Bentley-Mechaniker, der nun in einer Werkstatt in der Nähe von Bonds Wohnung in Chelsea arbeitete, kümmerte sich voller Leidenschaft um sein Wohlergehen. Bond fuhr ihn hart und gut und mit einem fast sinnlichen Vergnügen. Es war ein schlachtschiffgraues Cabriolet, das sich tatsächlich umstellen ließ, und fähig hundertvierzig Kilometer die Stunde zu fahren – mit 50 Kilometern die Stunde als Reserve.
Bond fuhr den Wagen aus der Garage und die Rampe hinauf, und schon bald hallte das satte Dröhnen des fünf Zentimeter dicken Auspuffrohrs über den mit Bäumen gesäumten Boulevard und durch die überfüllte Hauptstraße des kleinen Städtchens und verschwand schließlich durch die Sanddünen Richtung Süden.
Eine Stunde später betrat Bond die Bar des Hermitage und wählte einen Platz in der Nähe des breiten Schaufensters.
Der Raum war auf eine sehr männliche Art eingerichtet, die in Frankreich zusammen mit Bruyere-Pfeifen und Drahthaarterriern Luxus verkörperte. Dunkelbraunes Leder und poliertes Mahagoni dominierten die Einrichtung. Die Vorhänge und Teppiche waren königsblau. Die Kellner trugen gestreifte Westen und grüne Schürzen. Bond bestellte einen Americano und betrachtete die Ansammlung viel zu vornehm angezogener Gäste. Er vermutete, dass die meisten aus Paris stammten. Sie unterhielten sich konzentriert und lebhaft und schufen so diese theatralisch gesellige Atmosphäre der l’heure de l’apéritif.
Die Männer tranken Champagner aus nie versiegenden Piccolo-Flaschen, die Frauen nippten an ihren Dry Martinis.
»Moi, j’adore le ‚Dry‘«, sagte eine lebhafte junge Dame am Nebentisch zu ihrem Begleiter, der in seinem nicht der Jahreszeit entsprechenden Tweedanzug viel zu adrett aussah und sie mit glänzenden braunen Augen über einen teuren Jagdstock von Hermès hinweg anschaute. »Fait avec du Gordon’s, bien entendu.«
»D’accord, Daisy. Mais tu sais, un zeste de citron …«
Dann bemerkte Bond draußen auf dem Bürgersteig Mathis’ große Gestalt. Er unterhielt sich angeregt mit einer dunkelhaarigen jungen Frau in Grau. Sie war bei ihm untergehakt, und doch fehlte eine gewisse Vertrautheit zwischen ihnen. Im Gesicht der Frau lag ein Hauch von Ironie, der die beiden nicht wie ein Paar wirken ließ. Bond wartete, bis sie die Bar betreten hatten, beobachtete aber zum Schein weiter die Passanten draußen auf der Straße.
»Na, wenn das nicht Mr Bond ist?« Mathis’ Stimme hinter ihm war voll freudiger Überraschung. Bond erhob sich angemessen überrumpelt. »Sind Sie etwa alleine hier? Warten Sie auf jemanden? Darf ich Ihnen meine Kollegin vorstellen, Mademoiselle Lynd? Meine Liebe, das ist der Herr aus Jamaika, mit dem ich die Ehre hatte, heute Morgen Geschäfte zu machen.«
Bond nickte mit reservierter Freundlichkeit. »Es ist mir ein großes Vergnügen«, sagte er zu der Frau. »Ich bin tatsächlich alleine hier. Möchten Sie sich mir anschließen?« Er zog einen Stuhl hervor, und während sie sich hinsetzten, winkte er einen Kellner herbei und bestand trotz Mathis’ Einspruch darauf, die Getränke zu bestellen – einen »Fine à l’eau« für Mathis und einen Bacardi für die Dame.
Mathis und Bond unterhielten sich angeregt über das schöne Wetter und die Aussicht auf eine Wiederbelebung von Royale-les-Eaux. Die junge Frau sagte nichts. Sie nahm eine von Bonds Zigaretten an, betrachtete sie eingehend und rauchte sie dann genüsslich und ohne Getue. Sie sog den Rauch mit einem leisen Seufzen tief in ihre Lunge ein und atmete ihn dann lässig durch Lippen und Nase wieder aus. Ihre Bewegungen waren ökonomisch und präzise, ohne eine Spur von Unsicherheit.
Bond war sich ihrer Gegenwart enorm bewusst. Während er mit Mathis sprach, drehte er sich gelegentlich zu ihr um und bezog sie höflich in ihre Unterhaltung mit ein. Mit jedem Blick konnte er weitere Eindrücke sammeln.
Ihr Haar war tiefschwarz, und gerade geschnitten, sodass es ihr Gesicht bis zu ihrer eleganten Kinnlinie einrahmte. Auch wenn es üppig war und ihren Kopfbewegungen folgte, strich sie es sich nicht ständig zurück, sondern ließ es ganz natürlich fallen. Ihre dunkelblauen Augen standen recht weit auseinander und sie blickte Bond immer wieder mit einem Hauch ironischen Desinteresses an, das er, wie er verärgert feststellte, am liebsten gewaltsam zerschlagen wollte. Ihre Haut war leicht sonnengebräunt und bis auf ihren Mund, der breit und sinnlich war, ungeschminkt. Ihre nackten Arme und Hände wirkten ruhig, und der allgemeine Eindruck von Zurückhaltung wurde sogar von ihren Fingernägeln unterstützt, die kurz und unlackiert waren. Um den Hals trug sie eine einfache Goldkette mit breiten, flachen Gliedern, und am Ringfinger der rechten Hand steckte ein Ring mit einem großen Topas. Ihr mittellanges Kleid war aus grauer Wildseide mit einem gerade geschnittenen Oberteil, das sich lasziv über ihren wohlgeformten Brüsten spannte. Der Rock war plissiert und floss von einer schmalen, aber nicht dürren Taille herab. Sie trug einen sieben Zentimeter breiten schwarzen Gürtel. Auf dem Stuhl neben ihr lagen eine handbestickte schwarze Handtasche und ein Wagenradhut aus Stroh, dessen Kopfteil von einem dünnen schwarzen Samtband geschmückt wurde, das auf der Rückseite zu einer kleinen Schleife gebunden war. Ihre Schuhe hatten eine gerade Spitze und bestanden aus einfachem schwarzem Leder.
Bond war von ihrer Schönheit und Gelassenheit fasziniert. Die Aussicht auf eine Zusammenarbeit mit ihr erregte ihn. Gleichzeitig verspürte er ein unbestimmtes Unbehagen. Vorsichtshalber klopfte er auf Holz.
Mathis bemerkte, dass Bond mit den Gedanken woanders war. Nach einer gewissen Zeit erhob er sich.
»Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte er zu der jungen Frau. »Ich muss die Dubernes anrufen, um mich mit ihr zum Abendessen zu verabreden. Es macht Ihnen doch nichts aus, den heutigen Abend allein zu verbringen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Bond griff das Stichwort auf, und als Mathis zur Telefonkabine neben der Bar gegangen war, sagte er: »Wenn Sie heute noch nichts anderes vorhaben, würden Sie dann mit mir essen?«
Sie lächelte ihn mit einem verschwörerischen Funkeln in den Augen an. »Aber ja«, erwiderte sie, »und dann würde ich Sie gerne ins Casino begleiten, wo Sie sich laut Mathis ganz wie zu Hause fühlen. Vielleicht bringe ich Ihnen ja Glück.«
Jetzt, da Mathis fort war, lag in ihrem Verhalten ihm gegenüber eine plötzliche Wärme. Sie schien anzuerkennen, dass sie ein Team waren, und während sie Zeit und Ort ihres Treffens diskutierten, wurde Bond klar, dass es doch recht einfach sein würde, die Einzelheiten seines Projekts mit ihr zu besprechen. Er hatte das Gefühl, dass sie schließlich doch noch Interesse und Spaß an ihrer Rolle gefunden hatte und bereitwillig mit ihm zusammenarbeiten würde.
Er hatte es sich viel schwieriger vorgestellt, übereinzukommen, doch nun war er der Meinung, dass man direkt zu den Einzelheiten des Auftrags übergehen konnte. Er war sich der Scheinheiligkeit seiner Einstellung ihr gegenüber durchaus bewusst: Er wollte mit ihr schlafen. Aber erst, wenn die Mission vorbei war.
Als Mathis wieder an den Tisch zurückkehrte, bat Bond um die Rechnung. Er erklärte, dass er in seinem Hotel erwartet wurde, um mit Freunden zu Mittag zu essen. Als er für einen Augenblick ihre Hand in seiner hielt, spürte er eine warme Zuneigung zwischen ihnen, die er vor einer halben Stunde nicht für möglich gehalten hätte.
Ihr Blick folgte ihm auf die Straße hinaus.
Mathis schob seinen Stuhl näher an ihren und sagte leise: »Er ist ein sehr guter Freund. Ich bin froh, dass Sie beide sich kennengelernt haben. Ich kann bereits spüren, wie die Eisschollen auf beiden Flüssen aufbrechen.« Er lächelte. »Ich glaube nicht, dass Bond jemals zuvor geschmolzen ist. Es wird für ihn eine neue Erfahrung sein. Und für Sie auch.«
Sie antwortete nicht direkt.
»Er sieht sehr gut aus. Er erinnert mich an Hoagy Carmichael, aber es liegt auch etwas Kaltes und Skrupelloses in seinem …«
Der Satz wurde nie beendet. Plötzlich zersprang ein paar Meter entfernt die gesamte Fensterscheibe in kleine Splitter. Sie wurden von der Druckwelle einer gewaltigen Explosion erfasst und gegen ihre Stühle gedrückt. Einen Augenblick lang herrschte entsetztes Schweigen. Ein paar Gegenstände fielen draußen auf den Bürgersteig. Eine Flasche nach der anderen stürzte aus dem Regal hinter der Bar. Dann ertönten Schreie, und eine panische Flucht zur Tür begann.
»Bleiben Sie hier«, sagte Mathis.
Er stieß seinen Stuhl zurück und sprang durch den leeren Fensterrahmen auf die Straße.