EIN ZERFURCHTES GESICHT

Es war seltsam, die dritte Stimme zu hören. Das einstündige Ritual hatte lediglich nach einer Zwiesprache über dem schrecklichen Lärm der Folter verlangt. Bonds abgestumpfte Sinne nahmen sie kaum wahr. Dann plötzlich war er fast wieder bei Bewusstsein. Er stellte fest, dass er wieder sehen und hören konnte. Er konnte die vollkommene Stille nach dem einen leisen Wort aus Richtung der Tür vernehmen. Er konnte sehen, wie Le Chiffre langsam den Kopf hob und ein Ausdruck blanken Erstaunens auf seinem Gesicht erschien – unschuldige Verwunderung, die langsam Furcht wich.

»Chalt«, hatte die Stimme leise gesagt.

Bond hörte langsame Schritte, die sich von hinten seinem Stuhl näherten.

»Fhallen lassen«, sagte die Stimme.

Bond sah, wie sich Le Chiffres Hand gehorsam öffnete und das Messer klappernd zu Boden fiel.

Er versuchte verzweifelt, aus Le Chiffres Gesicht abzulesen, was hinter ihm vor sich ging, doch alles, was er sah, war blindes Unverständnis und Schrecken. Le Chiffres Mund bewegte sich, doch es kam nur ein entsetztes Quicken heraus. Seine massigen Wangen zitterten, während er versuchte, genug Speichel in seinem Mund anzusammeln, um etwas sagen oder fragen zu können. Seine Hände bebten leicht auf seinem Schoß. Eine von ihnen bewegte sich vorsichtig in Richtung seiner Tasche, zuckte jedoch fast sofort wieder zurück. Seine runden starrenden Augen hatten den Blick für den Bruchteil einer Sekunde gesenkt, und Bond vermutete, dass eine Waffe auf ihn gerichtet wurde.

Ein Moment der Stille folgte.

»SMERSCH.«

Das Wort klang fast wie ein Seufzen. Es wurde mit einer Betonung ausgesprochen, die den Eindruck erweckte, dass nichts Weiteres gesagt werden musste. Es war eine endgültige Erklärung. Das letzte aller Wörter.

»Nein«, sagte Le Chiffre. »Nein. Ich …« Seine Stimme versagte.

Vielleicht wollte er sich erklären, sich entschuldigen, doch was immer er im Gesicht des anderen Mannes sah, machte all das sinnlos.

»Ihre zwei Männer. Beide tot. Sie sind ein Narr und ein Dieb und ein Verräter. Ich wurde von der Sowjetunion geschickt, um Sie zu eliminieren. Sie haben Glück, dass ich lediglich genug Zeit habe, um Sie zu erschießen. Meine Anweisung lautete, Sie nach Möglichkeit äußerst schmerzhaft sterben zu lassen. Sie haben uns unendlich viel Ärger bereitet.«

Die Stimme mit dem unverkennbar russischen Akzent hielt inne. Im Raum herrschte Stille, die nur von Le Chiffres rasselndem Atmen unterbrochen wurde.

Draußen begann irgendwo ein Vogel zu singen, und nach und nach erklangen auch andere Geräusche der erwachenden Natur. Die Sonnenstrahlen, die durch die Jalousien fielen, wurden stärker, und der Schweiß auf Le Chiffres Gesicht glänzte hell.

»Bekennen Sie sich schuldig?«

Bond kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Er riss seine Augen auf und versuchte, seinen Kopf zu schütteln, um einen klaren Gedanken fassen zu können, doch sein gesamtes Nervensystem war betäubt und leitete keinerlei Befehle an seine Muskeln weiter. Er konnte lediglich vor sich auf das große blasse Gesicht mit den Glubschaugen starren.

Ein dünner Speichelfaden floss aus dem offenen Mund und hing vom Kinn herunter.

»Ja«, sagte der Mund.

Ein scharfes Ploppen erklang, kaum lauter als eine Luftblase, die aus einer Zahnpastatube entweicht. Es gab kein anderes Geräusch, und plötzlich hatte Le Chiffre ein drittes Auge, das sich auf gleicher Höhe wie die anderen befand, genau dort, wo die dicke Nase aus der Stirn wuchs. Es war ein kleines schwarzes Auge ohne Wimpern oder Augenbrauen.

Eine Sekunde lang starrten die drei Augen durch den Raum, und dann schien das ganze Gesicht zu verrutschen und in die Knie zu gehen. Die beiden äußeren Augen wandten sich zitternd zur Decke. Dann fiel der schwere Kopf zur Seite. Ihm folgte die rechte Schulter, und schließlich kippte der gesamte Oberkörper über die Armlehne des Stuhls, als ob Le Chiffre schlecht geworden wäre. Seine Schuhsohlen kratzten noch einmal kurz über den Boden, dann regte er sich nicht mehr.

Die große schwarze Stuhllehne ragte teilnahmslos über dem toten Körper auf der Sitzfläche auf.

Hinter Bond bewegte sich etwas. Eine Hand schoss von hinten hervor, packte sein Kinn und zerrte es zurück.

Einen Moment lang sah Bond in zwei funkelnde Augen hinter einer schmalen schwarzen Maske. Er erkannte vage ein zerfurchtes Gesicht unter einer Hutkrempe und den Kragen eines beigefarbenen Trenchcoats. Mehr konnte er nicht wahrnehmen, bevor sein Kopf wieder nach unten gedrückt wurde.

»Sie haben Glück«, sagte die Stimme. »Ich habe keine Befehle, Sie zu töten. Ihr Leben wurde zweimal an einem Tag gerettet. Aber Sie können Ihrer Organisation mitteilen, dass SMERSCH nur aus Zufall oder aus Versehen gnädig ist. In Ihrem Fall wurden Sie zuerst durch einen Zufall und nun aus Versehen gerettet, da ich keinen ausdrücklichen Befehl dazu habe, fremde Spione zu töten, die sich um diesen Verräter scharen wie Fliegen um die Hinterlassenschaft eines Hundes.

Aber ich werde Ihnen meine Visitenkarte hinterlassen. Sie sind ein Spieler. Sie spielen Karten. Vielleicht werden Sie eines Tages gegen einen von uns spielen. Für diesen Fall sollte besser bekannt sein, dass Sie ein Spion sind.«

Hinter Bonds rechter Schulter bewegten sich Schritte. Das Klicken eines ausgeklappten Messers ertönte. Ein von grauem Stoff umgebener Arm erschien in Bonds Sichtfeld. Eine große haarige Hand, die aus einem schmutzigweißen Hemd herausragte, hielt ein dünnes Messer wie einen Füllfederhalter. Es verharrte für einen Augenblick über Bonds rechtem Handrücken, den er nicht bewegen konnte, da sein Handgelenk mit einem Kabel an die Armlehne des Stuhls gefesselt war. Die Spitze des Messers führte drei schnelle gerade Schnitte aus. Ein vierter Schnitt kreuzte sie an ihrem Ende unter den Fingerknöcheln. Blut trat in Form eines umgedrehten kleinen Ms hervor und tropfte langsam auf den Boden.

Der Schmerz war nichts im Vergleich zu dem, den Bond bereits erlitten hatte, aber er genügte, um ihn erneut bewusstlos werden zu lassen.

Die Schritte bewegten sich langsam durch den Raum. Die Tür wurde leise geschlossen.

In der Stille krochen die fröhlichen, sanften Geräusche des Sommertages durch das geschlossene Fenster. Hoch oben an der linken Wand befanden sich zwei pinke Lichtflecke. Es handelte sich um Spiegelungen der beiden Blutlachen auf dem Boden, die von den Sonnenstrahlen der Junisonne, die durch die Jalousie fielen, nach oben an die Wand geworfen wurden.

Während der Tag voranschritt, wanderten die pinken Flecke langsam an der Wand entlang. Und wurden langsam größer.

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