Kapitel 10

Fidelma versuchte sich aufzurichten, um sich, so gut sie konnte, zu verteidigen.

»Leise!« hauchte eine Stimme.

Fidelma schnappte ungläubig nach Luft. »Eadulf!« flüsterte sie teils erleichtert, teils verblüfft. »Was tust du denn hier? Ich dachte, du seist längst über alle Berge

Eadulf hockte sich neben sie. Seine flinken Hände machten sich an ihren Fesseln zu schaffen.

»Ich hoffe, Clydog und seine Bande denken das gleiche - daß ich nämlich mit einem Pferd geflohen bin«, erwiderte er vergnügt.

»Wie ist es dir gelungen, dich zu befreien?«

»Ganz einfach. Als mir der Mann die Bratenscheiben brachte, bat ich ihn, mir eine Hand loszubinden, damit ich das Essen zum Mund führen könnte. Das tat der Trottel dann auch. Er dachte wohl, ich sei immer noch ausreichend gefesselt, und ging wieder. Zügig knüpfte ich einen Knoten nach dem anderen auf und ...«

»Wenn uns Clydog noch einmal zu fassen kriegt, wird er uns beide umbringen«, unterbrach sie ihn.

»Ich weiß. Ich habe gehört, was hier vorging. Hat er dir etwas getan?« fragte er ein wenig verlegen.

»Mir ist nichts geschehen. Doch Clydog ist in seinem Stolz verletzt.«

»Ich wußte, daß du ihn mit deinen Verteidigungskünsten hinhalten würdest. Erst wollte ich in der Hütte warten und dich befreien. Doch als ich hörte, daß Clydog entschlossen war, mich auf der Höhe meiner Jugend zum Märtyrer zu machen, habe ich mich lieber davongeschlichen. Ich versteckte mich im Wald und konnte beobachten, wie sie dich in die Hütte zerrten. Da band ich ein Pferd los und gab ihm einen Klaps auf die Hinterhand, so daß es fortgaloppierte.«

Fidelma spürte, wie sich das Seil um ihre Hände lockerte.

»Ich bin frei!« sagte sie schnell. Sie rieb sich die Handgelenke, damit das Blut wieder normal fließen konnte.

Eadulf half ihr auf die Beine.

»Und was nun?« fragte sie ihn, obwohl sie wußte, daß er schon einen Plan hatte.

»Sie haben unsere beiden Pferde hiergelassen. Ich schlage vor, wir reiten einfach in die entgegengesetzte Richtung.«

Sie traten gerade aus der Hütte, als Fidelma ihn plötzlich wieder zurückzog. Er bemerkte sofort den Grund.

»Halt!« rief eine Stimme. Einer der Banditen war als Wache im Lager zurückblieben und rannte auf die Hütte zu. Auf seinem erhobenen Schwert sahen sie den Widerschein des Feuers. »Bleibt stehen. Ihr könnt nicht entkommen.«

Eadulf handelte rasch. Er bückte sich, nahm eine Handvoll Dreck und schleuderte ihn dem Mann entgegen. Er warf nicht einmal mit besonderer Kraft, sondern nur, um den Bewacher abzulenken, der dem Wurf auszuweichen versuchte. Im selben Augenblick hatte sich Eadulf von einem Holzstapel den erstbesten Knüppel gegriffen. Er drehte sich mit schneller Bewegung um seine Achse und ging in Verteidigungsstellung. Inzwischen hatte sein Gegner bemerkt, daß von dem geschleuderten Dreck keine Gefahr drohte. Da stand Eadulf auch schon vor ihm, den Knüppel über dem Kopf des Mannes. Die beiden waren sich nun viel zu nah, als daß der andere sein Schwert hätte einsetzen können. Blitzschnell schlug Eadulf zu.

»Komm, los!« rief er Fidelma zu, noch ehe der Bandit zu Boden gegangen war. Fidelma band schon die Pferde los. Dann ritten sie, Eadulf voran, in raschem Tempo in entgegengesetzter Richtung zu Cly-dog und seinen Männern davon.

Es war ziemlich dunkel, und im Wald wirkte alles noch finsterer. Plötzlich fuhr ein Windstoß durch die Baumkronen. Fidelma blickte nach oben.

»Es wird bald regnen, Eadulf«, rief sie. »Dieser Wind ist der Vorbote eines Gewitters, das garantiere ich.«

»Das sollte uns eher helfen, als uns zu behindern«, erwiderte Eadulf. »Zumindest wird der Regen unsere Spuren verwischen.«

Sie konnte nicht einschätzen, wie lange sie schon geritten waren, aber es mußte ein beträchtliches Stück Wegs sein. Ein Blitz zuckte am Himmel auf, ein Donnergrollen folgte. Die Pferde scheuten und wieherten. Ein kalter, eisiger Regen setzte ein, der rasch an Stärke zunahm.

»So werden wir nicht weit kommen«, rief Fidelma. »Hast du eine Ahnung, wo wir sein könnten?«

»Die Sterne sind nicht zu sehen. Es sind zu viele Wolken am Himmel«, erwiderte Eadulf. »Doch ich glaube, daß wir uns nach Westen oder Südwesten bewegen. Genau südlich von Llanpadern lag der Wald.«

Seine Worte wurden von einem weiteren Blitz begleitet, und wieder folgte unmittelbar darauf Donnergepolter.

»Wir müssen irgendeinen Unterschlupf finden«, erklärte Eadulf. »Der Regen ist viel zu stark.«

»Aber jetzt hinterlassen wir keine Spuren«, entgeg-nete Fidelma. »Am besten wir steigen ab und führen die Pferde. Donner und Blitz machen sie ohnehin nervös.«

Widerstrebend gestand sich Eadulf ein, daß sie recht hatte. Er wußte, daß Fidelma eine ausgezeichnete Reiterin war.

Von Kindesbeinen an war sie mit Pferden vertraut. Er war es mehr gewohnt, sich zu Fuß fortzubewegen. Sie saßen ab und führten die Pferde am Zügel. Der prasselnde Regen verwandelte den Boden unter ihren Füßen in Schlamm.

Nach einem grellen Blitz blieb Eadulf stehen und deutete auf einen kleinen Pfad, der vom Hauptweg abging und eben kurz sichtbar geworden war.

»Mir war so, als hätte ich da eine Felswand gesehen. Dort muß es einen Überhang geben, der uns Schutz bieten könnte. Das wäre besser als gar nichts.« Er hatte mit lauter Stimme gesprochen, um den sintflutartigen Regen und das Gewittergrollen zu übertönen.

Fidelma nickte nur.

»Warte hier!« rief ihr Eadulf zu. »Ich werde prüfen, ob es dort sicher ist.«

Schon war er in der Dunkelheit verschwunden. Fidelmastand bei ihrem unruhigen Pferd, sprach ihm gut zu und streichelte besänftigend seine Nüstern.

Dann tauchte Eadulf wieder auf. »Alles in Ordnung«, rief er. »Du kannst kommen. Der Überhang führt in eine Höhle, wo wir mit den Pferden Unterschlupf finden können. Ich habe meins schon dort gelassen. Die Höhle ist geräumig und trocken.«

Sie folgte ihm und führte ihr Pferd vorsichtig über den schlammigen Pfad unter tief herabhängenden Zweigen hindurch.

Obwohl es kaum möglich schien, nahm der Regen noch an Intensität zu. Das Gewitter stand über dem Wald, als hätte sie ein zorniger Gewittergott aufs Korn genommen. Der schleuderte seine grellen Blitze vom Himmel und ließ ihnen explosionsartige Donnerschläge folgen. Ein Blitz hatte offenbar ganz in der Nähe eingeschlagen, denn sie sahen, wie auf einem Hügel ein Feuer ausbrach, das kurze Zeit darauf die Sturzbäche des Regens wieder gelöscht hatten.

Fidelma kam auf einmal der Gedanke, daß der Gewittergott der Sachsen, Thunor, wohl Rache an ihnen nehmen wollte. Es war gar nicht lange her, daß auch ihr Volk die Gewitterunbilden als Zeichen der Macht der Götter und Göttinnen betrachtet hatte. Sie fragte sich, warum der Name des sächsischen Gewittergottes dem seines irischen Kollegen Torann und dem britischen Gott Taranis so ähnlich war.

Der Überhang war recht breit. Wie Eadulf gesagt hatte, befand sich unter dem Felsvorsprung eine Höhle. Eadulf hatte seinem Pferd mit den Zügeln die Vorderfüße gefesselt, damit es nicht davonlief. Eine Möglichkeit, die Pferde anzubinden, gab es in der Höhle nicht. Fidelma lächelte vor sich hin, sie freute sich über seine Weitsicht. Er wird schon noch ein guter Reiter werden, dachte sie. Rasch tat sie es ihm nach.

Die Höhle wirkte groß und einigermaßen trocken, doch sie hatten beide Hunger und froren.

»Vermutlich werden wir hier kein Feuer anbekommen, oder?« fragte sie.

»Wir haben nichts Trockenes zum Anzünden und auch kein Holz«, erwiderte Eadulf, der als schattenhafte Gestalt am Höhleneingang stand und nur von den Blitzen erhellt wurde. »Und selbst wenn ich was fände, bin ich mir nicht sicher, ob es klug wäre, ein Feuer zu machen. Wir haben uns noch nicht weit genug von Clydogs Lager entfernt, fürchte ich, und müssen jedes Aufsehen vermeiden.«

»Er und seine Männer haben sicher während des Gewitters die Suche nach uns eingestellt«, sagte sie. »Vorerst müssen wir uns wohl hier einrichten.«

Sobald es hell genug war und sich, wie sie hofften, das Unwetter gelegt hatte, wollten sie weiterreiten. Doch zunächst mußten sie dafür sorgen, daß ihre Sachen trockneten und sie nicht mehr froren. Eadulf hatte recht: Es war nirgends etwas Brennbares zu finden, also mußten sie sich irgendwie behelfen.

Eadulf hatte mehr tastend als sehend den Pferden in dem Dunkel die Sättel abgenommen. An einer Seite der Höhle hatte er einen glatten Stein entdeckt. Fidelmahörte, wie er sich dort zu schaffen machte.

»Ich habe hier die Satteldecken ausgebreitet. Die sind zwar feucht, aber besser als der blanke Fels. Wir sollten uns aneinander wärmen. Vielleicht werden wenigstens unsere Unterkleider von allein trocknen.«

Fidelma und Eadulf hockten sich Seite an Seite gegen die Felswand. Ihre Umarmung entsprang der Notwendigkeit zu überleben, jeder brauchte die Wärme des anderen. Vor der Höhle verzog sich das Gewitter langsam. Doch die dunklen Wolken fegten immer noch über den Wald und schickten prasselnden Regen auf die Erde nieder.

»Bis zum Morgen wird der Himmel klar sein«, murmelte Fidelma, während sie sich in Eadulfs Arm schmiegte.

Einen Moment lang schwieg Eadulf. »Wenn wir nach Westen reiten, werden wir bald die Küste erreichen. Doch vielleicht gibt es auch noch einen Weg nach Süden.«

»Warum nach Süden?« wollte sie wissen.

»Zurück zur Abtei Dewi Sant.«

»Aber wir haben den Auftrag, den uns Gwlyddien erteilt hat, doch noch nicht erfüllt«, entgegnete Fidelma.

»Wieso? Wir wissen, daß Llanpadern von plündernden Piraten überfallen wurde. Wir haben die Leiche eines Kriegers der Hwicce entdeckt. Ich glaube, daß es ganz klar auf der Hand liegt, was mit dem Kloster und dem Sohn des Königs geschehen ist.«

»Ich halte das überhaupt nicht für klar. Ich möchte nach Llanferran, um mit Dewi zu sprechen und mehr über die Toten zu erfahren, die er gefunden hat.«

»Wie können wir hierbleiben, wo dieser verrückte Clydog in allernächster Nähe ist?« fragte Eadulf bestürzt. »Wir können unmöglich weitere Ermittlungen anstellen, wenn uns diese Bande von besessenen Mördern auf den Fersen ist.«

»Ich kann jetzt keinen Rückzieher machen, Eadulf«, antwortete Fidelma ruhig. »Damit würde ich gegen meinen Eid als dalaigh verstoßen, ganz zu schweigen von dem Auftrag, den uns Gwlyddien erteilt hat.«

»Aber gewiß ...«, sagte Eadulf resigniert. Gegen ihren Entschluß würde er nicht ankommen.

»Wenn du möchtest, reite zur Abtei zurück«, sagte Fidelma ohne jeden Groll. »Du kannst dort auf mich warten. Doch hier ist viel zuviel Böses im Gange, als daß ich mich geschlagen geben will, ohne den Versuch unternommen zu haben, dagegen vorzugehen.«

Eadulf schwieg einen Moment. »Hast du also vor, auch noch mal nach Llanpadern zu reiten?«

»Nach Llanpadern nicht. Clydog würde uns sicher dorthin folgen. Vorerst haben wir getan, was wir an diesem traurigen, verlassenen Ort tun konnten. Wir müssen nach Llanferran und sehen, worauf wir dort stoßen.«

»Und wohin dann?«

»Wieder nach Llanwnda. Ich muß Bruder Meurig und Gwnda über Clydog und seine Bande informieren. Gwnda ist offenbar in der Lage, seine Leute zu schützen, und ich werde ihn bitten, uns ebenfalls unter seinen Schutz zu nehmen. Bruder Meurig und Gwnda haben vielleicht schon von Clydog und seinen Banditen gehört.«

»Reicht es dir denn nicht, zu wissen, daß Clydog ein Dieb, ein Vergewaltiger und demnächst auch Mörder ist?«

»Ich möchte mehr erfahren über ihn.« Fidelma ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. »Sowohl Clydog als auch Corryn sind gebildet und offenbar vornehmer Herkunft. Ihr Auftreten deutet darauf hin, daß sie zu herrschen geboren und es gewöhnt sind, Befehle zu erteilen. Das macht mich neugierig.«

»Doch was hat das mit den verschwundenen Mönchen zu tun? Darauf müssen wir uns doch wohl konzentrieren, wenn du entschlossen bist, hierzubleiben und Licht in das Dunkel zu bringen.« Er spürte, wie sich Fidelma bei diesen Worten entspannte, denn damit fügte er sich stillschweigend ihrem Entschluß.

»Also bleibst du bei mir?« fragte sie.

Eadulf zog die Nase kraus. »Hast du daran irgendwie gezweifelt?«

Er hörte ihren Seufzer. »Natürlich nicht«, gestand sie. »Doch wie dem auch sei, ich werde dir beweisen, daß du unrecht hattest.«

»Unrecht? Was meinst du damit?«

»Du hast gesagt, daß Clydog nichts mit dem Verschwinden der Mönche von Llanpadern zu tun hat. Ich glaube, er weiß mehr, als er sagte, was, zugegebenermaßen, nicht sehr viel war.«

»Du vergißt, daß man angelsächsische Seeräuber gesichtet hat. Daß man Leichname von ein paar Brüdern gefunden hat und daß es den toten Hwicce in Llanpadern gibt. Reicht dir das nicht? Welche Verbindung sollte Clydog zu den plündernden Sachsen haben?«

»Ich gehe davon aus, wie du weißt, daß er schon vorher im Kloster gewesen sein muß. Oder man hat ihn gewarnt und ihm unsere Anwesenheit dort mitgeteilt, sonst hätte er sich mit seinen Männern nicht so lautlos angeschlichen!«

»Dafür gibt es eine andere Erklärung.«

»Die da wäre?«

»Er hat uns vielleicht ausgespäht, als wir uns auf das Kloster zubewegten, hat unsere Ankunft dort beobachtet und gewartet, bis wir lange genug drin waren, ehe er sich uns leise näherte.«

»Soweit ich mich erinnere, waren wir etwa eine Stunde in den verschiedenen Klosterräumen, bevor wir zur Scheune gingen. Da hätte er ziemlich lange warten müssen.«

»Offenbar hast du bereits eine andere Theorie«, meinte Eadulf resigniert.

Zu seiner Überraschung schüttelte sie den Kopf. »Im Augenblick habe ich nur Fragen.«

»Weshalb glaubst du aber, daß es eine Verbindung zwischen Clydog und den verschwundenen Mönchen gibt? Der Überfall auf uns in der Scheune sagt noch lange nichts darüber aus, daß Clydog etwas mit dem Angriff der Angelsachsen zu tun hat.«

»Du hast behauptet, daß er nichts von dem Hwicce in dem Sarg wußte.«

»Ja. Sonst hätte er irgendeine üble Bemerkung darüber gemacht, als er erfuhr, daß ich ein Sachse bin.«

»Das hat er aber getan.«

»Das muß mir entgangen sein«, erwiderte er zu seiner Verteidigung.

»Seine ersten Worte, als ich ihm sagte, wer wir sind. Erinnerst du dich nicht daran?«

»Er hat so etwas wie >eine Gwyddel und ein Sachse< gemurmelt.«

»Nein, so nicht. Er sagte vielmehr >eine Gwyddel und noch ein Angelsachse<, wer sollte der andere sein, wenn nicht .«

»Der Hwicce?« warf Eadulf rasch ein.

»Clydog wußte, daß sich der Hwicce in dem Steinsarg befindet. Als er erfuhr, daß du ein Angelsachse bist, entschlüpfte ihm unbewußt >noch ein An-gelsachse<.«

Eadulf dachte nach. Dann sagte er: »Er hat also mit Sicherheit gewußt, daß sich die Leiche dort befand?« Auf einmal stöhnte er auf. »Was bin ich nur für ein Dummkopf. Sualda!«

»Genau. Ich glaube, der Krieger wurde im Refektorium von Sualda in die Enge getrieben. Er nahm das Fleischmesser und stach damit auf Sualda ein, der ihn dann umbrachte.«

»Doch warum versteckte man die Leiche im Sarkophag?«

»Das können wir im Augenblick noch nicht sagen.«

Eadulf schnalzte verärgert mit der Zunge. »Ich wette, daß Clydog uns das erklären könnte. Was mögen die Worte, die Sualda murmelte, wohl für einen Sinn gehabt haben?«

Er hörte, wie Fidelma gähnte, und blickte zum Höhlenausgang. Es war immer noch dunkel und regnete.

»Wir sollten ein wenig schlafen«, riet er. »Beim ersten Tageslicht müssen wir die Straße nach Llanferran erreichen. Wir können dann nur hoffen, daß wir nicht auf unseren Freund Clydog stoßen.«

Kein Laut war zu hören, nur die regelmäßigen Atemzüge seiner Gefährtin. Fidelma war bereits eingeschlafen.

Lautes Vogelgezwitscher weckte Eadulf. Es war immer noch dunkel, aber man konnte das Morgengrauen bereits erahnen. Er war wohl auch eingenickt. Es kam ihm vor, als hätte er erst vor ein paar Sekunden noch gedacht, daß er unmöglich in den feuchten Kleidern, auf dem harten Stein des Höhlenbodens und mit Fidelmaim Arm Schlaf finden könnte.

Er versuchte, keine ruckartigen Bewegungen zu machen, drehte seinen Kopf langsam zur Seite und sah auf Fidelma herab, die immer noch schlief. Sie wirkte so verletzlich, ganz anders als die Fidelma, die er sonst kannte.

Langsam schweifte sein Blick zum Höhlenausgang. Der Himmel hellte sich langsam auf, und das Vogelkonzert wurde lauter. Es war Zeit zum Aufbruch.

Er bewegte sich. Fidelma stöhnte aus Protest. Er rüttelte sie sanft mit seinem freien Arm an der Schulter.

»Wir müssen fort von hier«, sagte er leise.

Wieder stöhnte sie, dann blinzelte sie vorsichtig. Sie richtete sich auf und schaute um sich. Die Kälte machte sie zittern.

»Haben wir verschlafen?« fragte sie und rieb sich die Augen.

»Nein«, beruhigte Eadulf sie. »Doch bald bricht der Tag an.«

Fidelma schaute zum Höhlenausgang und sah den Himmel. »Und wir sollten losreiten«, meinte sie, erhob sich und streckte sich. Sie fröstelte, die feuchten Kleider waren ihr unangenehm. Die Pferde standen geduldig wartend da, sie bliesen und schnaubten in die kalte Luft hinein, ihr Atem entwich in kleinen Dampfwolken.

»Zumindest scheint der Regen aufgehört zu haben«, meinte Eadulf, der sich zum Ausgang begeben hatte und hinausblickte. »Die Kälte ist allerdings geblieben.«

Der Boden vor der Höhle war feucht, und am Himmel drohten immer noch viele dunkle Wolken. Eadulf murmelte etwas auf Sächsisch, das wie ein Fluch klang. Fidelma hob mißbilligend eine Augenbraue. Eadulf zuckte mit der Schulter und wies mit einem Kopfnicken auf die Erde.

»So wird man unsere Fährte leicht entdecken können, falls Clydog immer noch nach uns sucht.«

Fidelma sattelte ihr Pferd. »Das stimmt«, bestätigte sie ihm. »Mit ein wenig Glück finden wir vielleicht einen steinigen Pfad oder einen Fluß, dem wir folgen können.«

»Was würde ich für etwas zu essen und zu trinken geben!« seufzte Eadulf, schickte sich aber an, es ihr gleichzutun und die Satteldecke auf sein Pferd zu legen.

Auch Fidelma entsann sich nun, daß sie seit dem vergangenen Morgen nichts mehr zu sich genommen hatten. Sie wünschte, sie hätte gegessen, was man ihr gestern abend angeboten hatte. Eadulf erging es ähnlich, er hatte den Braten unberührt stehenlassen, um sich ins Freie zu retten.

»Wir können nur hoffen, daß wir unterwegs etwas finden - auf dem Ritt nach Llanferran«, sagte sie munter. »Denk dran, daß unsere Pferde genauso darben wie wir. Sie sind weder abgerieben worden, noch haben sie Wasser oder etwas zu fressen bekommen.«

Eadulf schritt voran, als sie die Höhle verließen und den kleinen, sich windenden schlammigen Pfad entlang auf den Hauptweg zuliefen, von dem sie am vergangenen Abend abgebogen waren. Es war ein kalter, steingrauer Morgen. Selbst der Vogelgesang machte ihn nicht heiterer.

Sie stiegen auf ihre Pferde und ritten los. Doch auch wenn es schien, als fühlten sie sich dabei wohl, hätte ein aufmerksamer Beobachter feststellen können, daß sie sich ab und an recht angespannt nach hinten umdrehten, als erwarteten sie ihre Verfolger.

Wann mochte Clydog das reiterlose Pferd eingeholt und bemerkt haben, daß man ihn reingelegt hatte? Wie lange war es wohl her, daß er ins Lager zurückgekehrt war, wo er hatte feststellen müssen, daß sie nun auch verschwunden war?

Sie gelangten zu einer sumpfigen Lichtung, die von Stechpalmen und Steineichen eingegrenzt war. Seitlich standen ein paar wilde Birnbäume, im Herbst hätten sie sich hier den Bauch mit Birnen vollschlagen können.

Eadulf blickte sich suchend um, plötzlich stieß er einen leisen Pfiff aus und lenkte sein Pferd auf eine Baumgruppe zu. Er stieg ab und machte sich mit seinem Messer an einem der Stämme zu schaffen.

»Was ist das?« rief Fidelma.

»Hoffentlich unser Frühstück«, erwiderte er. »Mir sind diese alten Schwarzholunder hier aufgefallen, und ich hoffte, daß wir vielleicht Glück haben.«

»Glück?« fragte Fidelma verblüfft. Sie kam näher und blickte auf das hinunter, was er da von der gefurchten graubraunen Borke abschnitt. »Uhhh!« stieß sie angewidert hervor. »Das sieht ja aus wie ein Ohr.«

Eadulf grinste zu ihr hinauf. »Es wird tatsächlich Judasohr genannt.«

Fidelma begriff, daß es sich um einen Pilz handelte; rotbraun, mit durchsichtigem, schwammigem Fleisch.

»Kann man den essen?« fragte sie unsicher.

»Er ist nicht gerade eine Delikatesse, aber ich kenne Leute, die ihn roh und gekocht verspeisen. Vielleicht quält uns der Hunger dann nicht mehr ganz so.«

»Oder wir übergeben uns«, erwiderte Fidelma sarkastisch und untersuchte voller Abscheu das Stück Pilz, das er ihr reichte. »Warum nennt man dieses Zeug Judasohr?«

»Es heißt, daß Judas Ischariot, der Jesus Christus für dreißig Silberlinge verraten hat, sich an einem ähnlichen Baum erhängt hat. Dieser Schwamm wächst nur an alten Holunderstämmen.«

Fidelma kostete zaghaft davon. Er schmeckte nicht gerade unangenehm, und sie hatte Hunger. Kurze Zeit darauf stießen sie auf eine kleine Quelle und stillten ihren Durst. Dort machten sie auch Rast und ließen die Pferde eine Weile trinken und auf der feuchten Wiese grasen, die die Quelle umgab. Dann ritten sie weiter nach Westen, mit der aufsteigenden Sonne in ihrem Rücken.

Bald wurde der Wald lichter, bis sie sich in einem gewundenen Tal wiederfanden, durch das ein kleiner Bach rauschte. Auf Fidelmas Vorschlag hin liefen die Pferde durch das seichte Wasser, so hinterließen sie keine Spuren.

Nach einer Weile verloren sich die Bäume und damit ihr Schutz, und vor ihnen breitete sich eine sumpfige Ebene aus. Sie hörten das klagende Gekreisch der Möwen. Die Luft roch salzig.

»Das Meer kann nicht mehr weit sein«, bemerkte Eadulf unnötigerweise.

»Dann müssen wir uns nun nach Norden wenden«, erwiderte Fidelma. »Ich kann ein paar Gebäude erkennen ...«

»Vielleicht bekommen wir dort etwas Richtiges zu essen.«

Kläglich schaute Fidelma nun ihren Gefährten an. »Ich gestehe, hätte ich die Wahl zwischen Hunger oder noch einmal Judasohr, ich würde es vorziehen zu verhungern.«

Sie ritten zu einem felsigen, höher gelegenen Gelände, das nach Westen hin abfiel. Nun erblickten sie eine breite Bucht mit einem Sandstrand, der etwas entfernt von grobem Kies abgelöst wurde. Dahinter ergoß sich aus dem Landesinneren ein Fluß ins Meer. Um den Fluß zu umgehen, mußten sie ein Stück zurückreiten; zu einer Seite ragte eine Felswand auf, zur anderen erstreckte sich sumpfiges Marschland.

Es stellte sich heraus, daß die Gebäude, die sie gesehen hatten, zu einem Weiler gehörten, hinter dem sich ein kleiner Berg erhob. Fidelma bemerkte nicht weit entfernt mehrere alte Steine, die einen Steinkreis bildeten. Aus Hütten vor ihnen stieg Rauch auf, also waren dort Menschen.

Eadulf seufzte erleichtert. »Zivilisation und Nahrung.«

»Wir wollen erst einmal herausfinden, wo wir überhaupt sind.«

Als sie sich der Ortschaft näherten, fiel Fidelma auf, daß sie nicht einmal groß genug war, um Weiler genannt zu werden. Es gab nur eine Schmiede samt Ne-bengebäuden und ein Haus, das wie jene Art Herberge aussah, wie man sie auch in ihrer Heimat fand. Gewöhnlich kamen da die Leute zusammen, um zu trinken, zu essen oder auch zu übernachten.

Sie entdeckten einen alten Mann mit einem großen Holzbündel auf dem Rücken.

Eadulf beschloß, seine Sprachkenntnisse anzuwenden.

»Shw mae! Pa un yw’ rff ort i...?«

Der Alte starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Angelsachse?«

»Ja, ich bin ein Angelsachse«, gab Eadulf zu.

Zu ihrer Überraschung ließ der Alte sein Bündel fallen und rannte, mit hoher Stimme laut rufend, auf die Hütten zu.

»Wie es aussieht, mögen sie in diesem Teil der Welt keine Angelsachsen«, stellte Fidelma fest.

Ehe Eadulf etwas darauf entgegnen konnte, hatte sich Fidelma schon entschlossen an die Fersen des Alten geheftet. Dieser war inzwischen stehengeblieben und winkte, immer noch laut rufend, alle anderen Bewohner des Weilers herbei. Ein Mann mit breiten Schultern, wahrscheinlich der Schmied, und ein paar andere Männer hatten nach verschiedenen Gerätschaften gegriffen, die ihnen offenbar als Waffen dienen sollten, und beobachteten mit wachsamen Augen, wie sich die Fremden näherten.

»Was wollt ihr hier?« rief der breitschultrige Mann ihnen zu.

Fidelma blieb stehen, Eadulf hatte sie inzwischen eingeholt. »Pax vobiscum, meine Brüder. Ich bin Schwester Fidelma von Cashel.«

»Eine Gwyddel?« Der Schmied zog die Augenbrauen hoch. »Der Alte meinte, ihr seid Angelsachsen, die uns ausrauben und umbringen wollen.«

Fidelma lächelte beruhigend und ließ sich von ihrem Pferd hinabgleiten. Sie gab Eadulf ein Zeichen, es ihr gleichzutun. »Mein Begleiter ist ein Angelsachse. Bruder Eadulf. Wir sind weder hier, um euch auszurauben, noch um euch zu töten. Wir sind Christen.«

Die Anspannung unter den Männern schwand bis zu einem gewissen Grad, doch der Schmied betrachtete sie weiterhin mißtrauisch.

»Es ist ungewöhnlich, daß ein angelsächsischer Mönch in unserem Land auf Reisen ist. Angelsachsen treten hier meist in Räuberbanden auf, wie wir an dieser Küste sehr zu unserem Leidwesen erfahren mußten. Viele unserer Verwandten haben bei solchen Überfällen ihr Leben verloren.«

»Wir haben keine bösen Absichten. Wir suchen einen Ort namens Llanferran.«

»Und was noch?«

Fidelma war einen Augenblick verwirrt. »Wir brauchen auch etwas zu essen und Futter für unsere Pferde, die sehr erschöpft sind. Wenn du uns dann zeigst, wo Llanferran liegt, brechen wir sofort auf.«

Der Schmied starrte sie kurz an, dann zuckte er mit den Schultern und ließ seine Waffe sinken.

»Ihr habt Llanferran gefunden. Ich heiße Goff.«

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