Kapitel 3

Der folgende Tag war strahlend schön und wolkenlos. Eadulf trat vorsichtig vor das Hospizgebäude und mußte feststellen, daß er sich immer noch schwach auf den Beinen fühlte und ihm ein wenig schwindlig war, ganz so, wie es Bruder Rhodri ihm warnend vorausgesagt hatte. Dennoch tat ihm die kalte frische Luft gut, und bald war auch der Schwindel verschwunden.

Der Hafen von Porth Clais lag in einer Flußmündung an einer langen schmalen Bucht am Meer. Zu beiden Seiten des Flusses erhoben sich Berge. Ein paar kleine Fischerboote schaukelten sanft auf dem Wasser. Hier und da schmiegten sich einzelne Häuser in die mit Stechginster und Heidekraut überzogenen Hügel.

Eadulf fielen die Vögel auf, für die die schmale Bucht einen natürlichen Zufluchtsort bildete. Sie kreischten laut, stießen hinab und schwangen sich wieder empor. Er nahm auch die Seerobben wahr, die im Wasser planschten. Es war einfach idyllisch hier. Er bemerkte, wie ein Robbenjunges auf das schlammige Ufer ihm gegenüber kroch. Da näherte sich dem Tier der dunkle Schatten eines Raubvogels. Nun erschollen Schreie, und der graue Kopf der kleinen Robbe wurde blutig, denn die Klauen des Vogels hatten sich in ihn gebohrt. Doch war es dem Raubvogel nicht gelungen, seine Beute davonzutragen. Die besorgte Robbenmutter tauchte aus den Wellen auf und lockte das Junge zu sich. Eadulf sah den rostbraunen Räuber, den er als Turmfalken ausmachte, hoch oben in den Lüften, wie er zu einem zweiten Sturzflug ansetzte. Das Robbenjunge, ermutigt von den Rufen der Mutter, hatte es aber bereits ins Wasser geschafft. Das Leben war nie idyllisch, wie Eadulf diese Szene vor Augen führte.

Er drehte sich um, ging den Weg entlang, bis er einen Baumstamm fand, auf den er sich niederließ. Die Sonne, die zwar nicht die Kraft des Sommers besaß, schien dennoch warm und wohltuend. Ein, zwei Leute zogen an ihm vorbei und grüßten ihn in ihrer Mundart. Er rief sich seine spärlichen Kenntnisse der britannischen Sprache wieder ins Gedächtnis und erwiderte ihren Gruß. Während seines Studiums in Tu-am Brecain war er mit zwei Mönchen aus dem Königreich von Powys zusammengekommen. Eine Zeitlang hatte er sich bemüht, ihre Sprache zu erlernen. Er war sich der Feindschaft zwischen Britanniern und seinem eigenen Volk sehr bewußt. Wenn Eadulf manchmal in aller Ruhe darüber nachsann, konnte er sehr wohl begreifen, wo die Wurzeln dieser Feindschaft lagen.

Zu seines Vaters Zeiten war das britannische Königreich von Elmet zerschlagen worden. Man hatte Ceretic, den Herrscher des Reiches, ermordet, und die Bevölkerung war vom sächsischen Kriegsfürsten Snot nach Westen getrieben worden. Snot hatte seine Siedlung oder sein ham am Westufer des Flusses errichtet, der die Grenze des winzigen Königreiches bildete. Inzwischen war Snotingaham zu einer blühenden angelsächsischen Stadt herangewachsen, doch einst hatten dort Britannier gelebt. Natürlich konnte Eadulf verstehen, warum die Britannier die Angelsachsen haßten. War es nicht auch so, daß die meisten Angelsachsen diesen Haß erwiderten? Dadurch, daß die Angelsachsen das Christentum angenommen hatten, war die Kluft zu den Britanniern eher noch größer geworden.

Eadulf hatte von den Altvorderen gehört, wie sich vor über sechzig Jahren der römische Benediktiner Augustinus, vom Papst aus Rom gesandt, mit vierzig Mönchen aus Snotingaham im Königreich Kent niedergelassen hatte, um die Christianisierung des Landes voranzutreiben. Er war dabei auf irische Missionare gestoßen, vor allem im Norden, die versuchten, den heidnischen Angelsachsen den christlichen Glauben näherzubringen - und das Lesen und Schreiben. In Canterbury kam er zu einer Kirche, die dem heiligen Martin von Tours geweiht war und die die Britannier errichtet hatten, ehe sie von den Jüten vertrieben wurden. Die christliche Gattin des Königs von Kent, die aus dem Frankenreich stammte, und ihr Kaplan feierten dort ihren Gottesdienst. Augustinus wußte, daß die Britannier seit der römischen Eroberung Christen waren und forderte ein Treffen mit ihren Bischöfen an der Grenze zwischen ihren restlichen Gebieten und dem Land der Angelsachsen.

Durch die vielfältigen Berichte über Augustinus war Eadulf klargeworden, daß ihm die alte römische Arroganz der Eroberer eigen gewesen war. Für Augustinus waren die Britannier Barbaren, eine Haltung, die auch die Befehlshaber der römischen Legionen geteilt hatten. Augustinus hatte Deniol, den Bischof von Bangor, gefragt, warum die Geistlichen der Britannier ihrer Pflicht gegenüber dem neuen Glauben nicht nachgekommen waren und die Angelsachsen zum Christentum bekehrt hatten. Deniol hatte sarkastisch entgegnet, daß es schwierig sei, einem Menschen Liebe und Vergebung zu predigen, dem man gerade die Frau und die Kinder abgeschlachtet hatte. Augustinus war hochnäsig genug, damit zu drohen, daß er, falls man seine und die Autorität Roms nicht anerkannte, die Waffen der Angelsachsen segnen würde und die Britannier Vergeltung spüren würden. Tatsächlich kam ebenjener Bischof Deniol wenige Jahre später bei dem Massaker in Bangor zu Tode.

Eadulf schreckte aus seinen Betrachtungen hoch, als ein hochgewachsener Britannier in Mönchskutte an ihm vorbeilief und ihn lächelnd mit Worten begrüßte, die er nicht verstand. Ganz selbstverständlich erwiderte Eadulf sein Lächeln und grüßte ihn in der Sprache der Britannier, so gut es ging. Eadulf wollte niemandes Feind sein, doch ihm fiel auf einmal ein Sprichwort seines Volkes ein, nach dem es auch dann keine Sicherheit gäbe, wenn man sich seinen Feind zum Freund gemacht hatte. Aber gewiß war das Sprichwort falsch. Viel eher sollte man sich an die Lehren des Christentums erinnern. Was hatte Jakobus geschrieben? »Woher kommt Streit und Krieg unter euch? Kommt es nicht daher: aus euren Lüsten, die da streiten in euren Gliedern? Ihr seid begierig und erlanget es damit nicht; ihr mordet und neidet und gewinnet damit nichts; ihr streitet und kämpfet.« War das der Hauptgrund für die Kriege und das Blutvergießen der letzten zweihundert Jahre, seit die Sachsen in Britannien Fuß gefaßt hatten? Was hatte Christus gesagt? »Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet.« Nun, wenn es nach Eadulf ginge, so würde er dieses Gebot auch einhalten. Doch damit konnte er sich nicht beruhigen; seine Furcht davor, in einem fremden Land zu sein, von Leuten umgeben, die ihm nicht trauten, schwand dadurch nicht.

Einige Stunden später kehrte Fidelma zu ihm zurück und fragte ihn, ob er sich kräftig genug fühle, um sie zur Abtei Dewi Sant zu begleiten. Ihm hatte die Zeit an der frischen Luft gutgetan, und so sagte er ja.

Die große Abtei, die Dewi Sant geweiht war, lag weniger als anderthalb Meilen nordöstlich von dem kleinen Hafen. Mit gemächlichen Schritten verließen sie Porth Clais und liefen am farnbewachsenen Flußufer entlang. Fidelma erklärte, daß dieser Fluß Alun genannt wurde, war sie doch schon am Vortag hier entlanggegangen. Über diesen Weg wurden auch Fuhren von Gold transportiert, das aus Irland stammte und per Schiff bis nach Porth Clais gelangte. Dann brachte man das Gold in die Abtei, wo die Goldschmiede es zu sakralen Objekten verarbeiteten. Weiter flußaufwärts führte der Pfad durch eine Moorlandschaft, doch Fidelma bewegte sich mit unbeschwerter Leichtigkeit durch das sumpfige Gelände. Der Tag war noch nicht weit fortgeschritten, und obwohl sich nun ein leichter Wind erhoben hatte, war es nicht zu kalt für den Herbst. Es war eine recht angenehme Wanderung.

Schon nach kurzer Zeit kam die große Anlage der Abtei in Sicht. Eadulf mußte zugeben, daß die vielen unterschiedlichen Bauten ziemlich beeindruckend waren. Nur in Rom hatte er bisher etwas Ähnliches gesehen. Die Gebäude waren aus grauem Granit und einheimischem Holz errichtet.

Am Tor wurden sie von einem der Mönche empfangen. Es schien, als hätte er ihre Ankunft erwartet, denn er führte sie ohne Zögern direkt zu den Räumen von Abt Tryffin.

Der Abt erhob sich aus seinem Stuhl und ging auf sie zu, um sie aufs herzlichste in Fidelmas Muttersprache zu begrüßen. Offensichtlich beherrschte er die Sprache genauso gut wie Bruder Rhodri. Seine Tonsur war in der Art des heiligen Johannes gehalten; jener Haarschnitt war von den Kirchen Britanniens und Ei-reanns übernommen worden. Die Haare waren von der Stirn an abrasiert bis zur Höhe der Ohren, manche meinten, daß diese Tonsur jener der Druiden ähnlich sei, der weisen Priester aus alten keltischen Zeiten. Der Abt war etwa Ende vierzig und hatte ein hageres Gesicht, schmale Lippen und eine lange Nase, die wie mit einem Spinnennetz von winzigen roten Äderchen durchzogen war. Er lächelte, und seine Begrüßung schien aufrichtig und herzlich. In seinen dunklen Augen lag jedoch Besorgnis.

Vor einem Feuer nahmen sie Platz. Man reichte ihnen Glühwein, den Eadulf als angenehm und wohltuend empfand.

»Wie steht es um deine Gesundheit, Bruder Eadulf?« fragte der Abt, während er sich auf seinem Lehnstuhl niederließ. »Bist du von deinem Sturz an Bord des Schiffes wieder ganz genesen?«

»Ja«, bestätigte ihm Eadulf ernst.

»Ich vermute, daß ihr beide eure Reise nach Canterbury so schnell wie möglich fortsetzen wollt? Ist das so?«

»So ist es«, erwiderte Fidelma. »Sobald wir ein Schiff dorthin ausfindig machen können, natürlich.«

Gedankenverloren nickte der Abt. Dabei trommelte er mit den Fingern auf seine Stuhllehne, ohne sich dessen bewußt zu sein. Es war ganz offensichtlich, daß ihn eine äußerst wichtige Angelegenheit beschäftigte und es ihm schwerfiel, darüber zu sprechen.

»Nun ...«, setzte er an.

»Nun«, fiel Fidelma ein, »es gibt da eine Sache, bei der du vermutlich unsere Hilfe brauchst.«

Überrascht schaute sie der Abt an. Seine Augen glichen auf einmal schmalen Schlitzen. »Woher weißt du das? Hat es dir jemand erzählt?«

»Man kann es dir von der Stirn ablesen«, entgegnete Fidelma.

Abt Tryffin zuckte mit den Schultern. »Das mag schon sein. Wir stehen hier wahrlich vor einem Rätsel und benötigen dringend den Rat einer Expertin, wie du es bist. Vielleicht findest du eine Erklärung dafür. Doch ehe ich etwas über die Angelegenheit verlautbaren möchte, darf ich dir eine Frage stellen, Schwester Fidelma?«

Fidelma blickte zu Eadulf und entgegnete mit trok-kenem Humor: »Nicht jede Frage verdient eine Antwort.«

Der Abt rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Da hast du wohl recht, Schwester. Ich werde dennoch fragen. Wenn ich dir einen rätselhaften Fall darlege, der dich interessiert, wärst du dann bereit, noch ein paar Tage in diesem Königreich zu bleiben und der Sache auf den Grund zu gehen?«

»Ich begleite eigentlich nur den Abgesandten des Erzbischofs Theodor von Canterbury. Du solltest die Frage lieber ihm stellen«, erwiderte Fidelma und wies auf Eadulf.

Eadulf setzte seinen Weinbecher ab und dachte nach. Es war wohl wahr, daß er sich fast ein Jahr länger als beabsichtigt in Muman aufgehalten hatte, ehe er sich entschloß, nach Canterbury zurückzukehren. Was würde es da schon ausmachen, wenn er noch ein paar Tage im Königreich von Dyfed bliebe? Wahrscheinlich würde es ohnehin eine Weile dauern, bis sie ein geeignetes Schiff fanden. Doch was mochte den Abt derart quälen, daß er sich von Fremden, ja gar von einem Angelsachsen, Aufklärung erhoffte?

Der Abt sah ihn eindringlich an, wartete mit fast unverhohlener Ungeduld auf seine Antwort. »Für eure Dienste wird man sich erkenntlich erweisen«, fügte er rasch hinzu, als hätte sich Eadulf über eine Bezahlung Gedanken gemacht.

»Warum bittest du ausgerechnet Fremde um Hilfe? In Dyfed gibt es sicher genügend kluge Köpfe, die sich mit der Angelegenheit befassen können.« Eadulfs Stimme verriet Beunruhigung.

Hinter einer Wand am Ende des Raumes bewegte sich etwas, ein großer älterer Mann trat hervor. Er hatte die Statur eines Kriegers, und trotz seines Alters hatte sein durchtrainierter Körper viel Jugendliches bewahrt. Seine lockigen weißen Haare zierte ein goldener Reif, seine eindrucksvollen Augen waren hellblau, fast violett, und ließen auf den ersten Blick keine Pupillen erkennen. Seine Kleider waren aus kostbarem Samt, Leinen und Wolle. Offensichtlich handelte es sich um eine Person von hohem Rang.

Eadulf bemerkte, daß sich Fidelma erhoben hatte, also tat er es ihr widerstrebend gleich.

Der Abt hustete nervös. »Ihr befindet euch in Gegenwart von .«

»Gwlyddien, König von Dyfed«, unterbrach ihn Fidelma und verneigte sich.

Der König kam auf sie zu, lächelte herzlich und streckte ihr zur Begrüßung die Hand entgegen. »Du hast ein scharfes Auge, Fidelma von Cashel, und einen wachen Verstand, denn ich bin mir sicher, daß wir uns zuvor noch nie begegnet sind.«

»Nein, doch über den Sohn von Nowy wird unter den Geistlichen dieser Inseln immer voller Respekt gesprochen. War dein Vater nicht auch berühmt dafür, daß er der Kirche große Unterstützung angedeihen ließ?«

Gwlyddien senkte den Kopf. »Ganz gleich, welches Ansehen ich genieße, es gibt nur wenige Anhaltspunkte, an denen du mich erkennen könntest.«

»Das ist wohl wahr. Ich habe dich an dem königlichen Zeichen von Dyfed erkannt, das auf deinem Mantel eingestickt ist, und an dem goldenen Siegelring an deinem Finger. Es war recht einfach.«

Gwlyddien lachte. »Was ich von dir gehört habe, scheint zu stimmen, Fidelma von Cashel.« Jetzt wandte er sich mit ausgestreckter Hand Eadulf zu, der, von ihrem Wortwechsel ein wenig befremdet, abseits gestanden hatte. »Und wo Fidelma hingeht, da ist natürlich auch ihr Begleiter Eadulf von Seaxmund’s Ham. Unsere Barden berichten uns, daß vor zweihundert Jahren das Land des Südvolks, das Land, aus dem du stammst, einst das Königreich jener Britannier war, die man die Trinovantes nennt. Aus diesem Stamm ist einer unserer größten Könige hervorgegangen - Cu-nobelinos, der Hund von Belinos, gegen den nicht einmal die römischen Kaiser Krieg zu führen wagten.«

Eadulf trat nervös von einem Bein aufs andere. »Tempus edax rerum«, murmelte er eine Zeile von Ovid.

Einen Augenblick lang starrte ihn Gwlyddien mißbilligend an. Dann seufzte er und senkte den Kopf, als akzeptiere er das Unvermeidliche.

»Ja, die Zeit verschlingt alle Dinge. Doch sagt nicht auch Vergil, daß das Schicksal einen Weg findet? Was einst war, kann vielleicht wieder sein.«

Eadulf war das unangenehm. Er hatte gehört, daß die Britannier nicht die Hoffnung aufgegeben hatten, eines Tages die Angelsachsen wieder aufs Meer hinauszutreiben. Er fragte sich, wie er dem König antworten sollte, doch das brauchte er nicht mehr. Gwlyddien hatte auf dem Lehnstuhl Platz genommen, den der Abt ihm frei gemacht hatte, während der sich nun auf einem einfachen Stuhl niederließ.

»Setzt euch«, forderte sie der König mit einer ungeduldigen Handbewegung auf. »Die Antwort auf die Frage unseres sächsischen Freundes ist einfach. Von den Reisenden, die von Eireann durch unser Land kommen, und von den vielen Brüdern und Schwestern aus deinem Land, die an dieser Abtei studieren, erfuhren wir, wie Fidelma von Cashel dieses oder jenes rätselhafte Geheimnis gelöst oder diesen und jenen Fall aufgeklärt hat. Nachdem ich mit Abt Tryffin die Sache besprochen habe, glaube ich, daß du von Gott persönlich hierher in unsere Abtei gesandt worden bist, damit du uns beistehst.«

Es war allzu deutlich, daß ihr Besuch der Abtei Dewi Sant allein dem Ansehen seiner Gefährtin zu verdanken war. Ihn tolerierten die Britannier gerade -mehr nicht. Eadulf versuchte, sich seine finsteren Gedanken nicht anmerken zu lassen.

Fidelma hatte sich zurückgelehnt und betrachtete Gwlyddien mit gelassener Miene. »Mein Mentor Bre-hon Morann sagte immer, daß Komplimente nichts kosten und man doch teuer dafür bezahlt. Nach solchen Komplimenten für mich und Bruder Eadulf muß ich fragen, welcher Preis dafür gezahlt werden muß?« Sie hatte Eadulfs Namen mit leichtem Vorwurf ein wenig betont, weil der König ihn nicht erwähnt hatte.

Gwlyddien war so offene Worte anscheinend nicht gewohnt, und dem Abt schien ihre Frage peinlich zu sein. Doch der König blieb freundlich.

»Glaub mir, Fidelma von Cashel, ich bin kein Schmeichler.«

»Oh, da bin ich mir sicher«, erwiderte Fidelma rasch. »Also wollen wir gleich auf den Kern deines Anliegens zu sprechen kommen, als uns weiter mit Nebensächlichkeiten aufzuhalten.«

Auf eine Handbewegung des Königs hin sprach nun Abt Tryffin.

»Etwa zwanzig Meilen nördlich von uns befindet sich eines unserer Tochterhäuser, die Abtei von Llan-padern. Die Bezeichnung Abtei ist vielleicht ein wenig übertrieben für die kleine Klostergemeinschaft, die dort lebt. Bruder Cyngar, ein Mönch aus einem anderen Kloster, kam auf seinem Weg zu uns an Llanpa-dern vorbei und wollte dort um Gastfreundschaft bitten. Er traf gestern zutiefst bestürzt und verängstigt hier ein. Er ist jedoch jung und leicht zu beeindruk-ken. Seinen Berichten entnehmen wir, daß das Kloster verlassen und leer ist. Wie ausgestorben.«

Abt Tryffin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, als erwarte er eine Reaktion auf seine Worte.

Fidelma erkundigte sich ruhig: »Wie viele Mönche leben sonst in Llanpadern?«

»Siebenundzwanzig. Sie arbeiten auf dem Feld, führen einen kleinen Bauernhof und versorgen sich selbst.«

Fidelmas Augen weiteten sich. »Siebenundzwanzig? Ist diese Zahl zufällig gewählt worden?«

Abt Tryffin zeigte sich erstaunt über ihre Frage.

»Wenn es einer längeren Erklärung bedarf, ist es eher unwichtig«, überging Fidelma ihre Frage rasch. In ihrem Land hatte die Zahl siebenundzwanzig eine mystische Bedeutung. »Also, Bruder Cyngar fand das Kloster menschenleer vor, und er konnte vermutlich nicht feststellen, warum das so war?«

»Nein, das konnte er nicht.«

»Hat er alle Gebäude gründlich durchsucht?«

»Ja. Ihm fiel auf, daß die Kerzen fast alle noch brannten, daß das Essen auf den Tischen stand, halb gegessen. Man hatte offenbar nur wenige Stunden zuvor alles stehen- und liegenlassen. Ratten hatten sich inzwischen breitgemacht. Selbst das Vieh auf dem Hof war verschwunden.«

Fidelma wandte sich nun Gwlyddien zu. »Weshalb mißt du ausgerechnet diesem Vorfall eine solche Bedeutung bei?«

Der König blickte überrascht auf. »Wieso kommst du darauf, daß er mich besonders interessiert?«

»Ich frage mich, warum sich der König von Dyfed über eine kleine religiöse Gemeinschaft und ihren Verbleib Sorgen macht. Du könntest die Angelegenheit doch auch Abt Tryffin überlassen. Aber du scheinst Wert darauf zu legen, daß wir eine Erklärung für das Geschehen finden.«

»Du hast einen scharfen Verstand, eine rasche Auffassungsgabe, Fidelma von Cashel. Richtig, ich habe am Schicksal dieser Gemeinschaft besonderes Interesse.« Er zögerte, als versuchte er, seine Gedanken zu ordnen »Mein Sohn ... Mein ältester Sohn heißt Rhun, ein gescheiter Bursche. Vor sechs Monaten beschloß er, dem Kloster Llanpadern beizutreten. Eigentlich hatte ich gedacht, er würde danach streben, die Herrschaft über dieses Land zu übernehmen, mich darin eines Tages abzulösen. Doch dann entschied er sich plötzlich, Mönch zu werden.«

»Und dein Sohn Rhun befindet sich nun unter den Mönchen, die in Llanpadern vermißt werden?« fragte Fidelma.

»So ist es.«

Kurzes Schweigen trat ein. Dann erkundigte sich Fidelma: »Was denkst du selbst darüber, Gwlyddien?«

Der König schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an Hexerei, Schwester Fidelma. Und dennoch: Wenn nicht durch Hexerei, wie kann sich eine ganze Klostergemeinschaft sonst plötzlich in Luft auflösen?«

Fidelma lächelte schmerzlich. »Hast du darauf eine Antwort?«

»Es gibt eine Antwort.«

Alle wandten sich nach der fremden, gebieterischen Stimme um, die sich zu Wort gemeldet hatte. Sie gehörte einem jungen Mann, der unbemerkt die Tür ge-öffnet hatte. Er war groß, mit angenehmen Zügen ausgestattet und hellem Haar, das von einem Silberreif zusammengehalten wurde. Er wirkte wie ein jüngeres Abbild von Gwlyddien, seine Augen leuchteten in der gleichen eindrucksvollen Farbe wie die des Königs. Gwlyddien zeigte mit ungeduldiger Geste auf ihn, als er den Raum betrat.

»Das ist mein jüngerer Sohn, Prinz Cathen.«

Abt Tryffin stellte ihm Fidelma und Eadulf vor.

»Du sagst, daß es eine Antwort auf die Frage deines Vaters gibt?« wollte Fidelma wissen.

»Kannst du die politische Lage des Landes einschätzen?« erwiderte Cathen, wobei er sich auf einen Stuhl fallen ließ.

»Nur sehr wenig«, räumte Fidelma ein.

»Während des letzten Jahrzehnts ist dieses Königreich ständig von unseren nördlichen Nachbarn überfallen worden, den Königen von Ceredigion. Der derzeitige König, Artglys, ist ein ehrgeiziger und grausamer Mann. Sein Sohn und Erbe ist kaum besser. Die beiden verkörpern das Böse geradezu. Einst ist Ceredigion von den Königen von Gwynedd regiert worden, aber dann gab es Streitereien unter den herrschenden Sippen. Ungefähr vor einer Generation gelang es König Artbodgu, die vielen Herrschaftsgebiete von Ceredigion zu einem unabhängigen Königreich zu vereinigen. Seit dem Aufstieg von Artglys, dem Sohn von Artbod-gu, trachtet Ceredigion danach, sein Land zu vergrößern, und fällt in viele Nachbarreiche ein. Artglys’ Ehrgeiz besteht darin, sich auch Dyfed einzuverleiben.«

»Wie erklärt das das Verschwinden der Klostergemeinschaft von Llanpadern?« fragte Fidelma.

»Die Krieger von Ceredigion haben uns schon vorher angegriffen und Geiseln genommen.«

»Du meinst also, daß Artglys von Ceredigion für das Geschehene irgendwie verantwortlich ist? Daß die Mönche bei einem Überfall verschleppt wurden?«

»Ich bin mir nicht sicher. Ich sage nur, es ist möglich, daß die Krieger von Ceredigion Llanpadern überfallen haben, um meinen Bruder Rhun als Geisel zu nehmen.«

»Möglich, aber nicht wahrscheinlich«, fügte sein Vater hinzu. »Rhun hat seinen Anspruch auf den Thron aufgegeben, als er Mönch wurde. Warum sollten sie ihn entführen? Um mich unter Druck zu setzen? Meine Feinde wissen, daß ich so schwach nicht bin. Mein Eid als König und das Wohl meines Volkes stehen bei mir an erster Stelle. Was die Überfälle unserer Feinde betrifft, nun, sächsische Schiffe überfallen auch unsere Küsten.«

»Was erwartest du genau von uns?« fragte Fidelma rasch, um so Eadulfs Verlegenheit wegen der Erwähnung der sächsischen Angriffe zu überspielen. »Kriegerische Auseinandersetzungen sind nicht gerade unsere Stärke.«

»Ich glaube, daß diese Angelegenheit rein gar nichts mit Ceredigion oder mit den Überfällen von Artglys an unseren Grenzen zu tun hat ...«, meldete sich Abt Tryffin zu Wort. Er blickte zu Cathen.

Fidelma bemerkte, daß Cathen am liebsten einen Disput eröffnet hätte. Schnell sagte sie: »Llanpadern liegt nördlich von hier? Wie weit entfernt ist es von der Grenze zum Königreich von Ceredigion?«

»Mindestens zwanzig Meilen oder mehr.«

»Ein Überfall von so weit her in euer Gebiet hinein? Ein Feind kann eine so lange Strecke kaum unbemerkt überwinden«, gab Fidelma zu bedenken.

»Vielleicht hat Artglys von See aus angegriffen? Er könnte mit seinen Leuten nur ein paar Meilen von Llanpadern entfernt an Land gegangen sein«, erwiderte Cathen mit Nachdruck.

»Ja, könnte, aber woher wissen wir das?« stellte Fidelmanachdenklich fest.

Der Abt machte den Eindruck, als wolle er etwas sagen, sei sich aber nicht sicher, ob er seinem Prinzen widersprechen sollte. Fidelma bemerkte das.

»Ich bin der festen Überzeugung, daß deine Meinung zu dieser Sache dankbar aufgenommen wird, Abt Tryffin. Wie also denkst du darüber?«

Der Abt schien nun all seinen Mut zusammenzunehmen. »Das Kloster liegt am Fuße der westlichen Hänge von Carn Gelli. Wenn die Krieger von Ceredigion das Kloster vom Meer aus angegriffen haben, dann hätten sie nur an wenigen Stellen der Küste anlegen können. Wo auch immer sie an Land gegangen wären, stets hätten sie noch einen Fußmarsch von drei Meilen zum Kloster vor sich gehabt. An ihrem Weg liegen zwei Ortschaften, dort hätte man eine feindliche Truppe bemerkt und sofort Alarm geschlagen. Pater Clidro und seine Gemeinschaft wären so vor den Angreifern gewarnt gewesen, noch ehe diese das Kloster erreicht hätten. Bruder Cyngar hat uns beschrieben, wie ordentlich die Klostergebäude hinterlassen wurden. Ich kann deshalb nicht glauben, daß Krieger dort waren, die ihre sich zur Wehr setzenden Gefangenen weggeschleppt haben. Es gibt offenbar keine Anzeichen für einen Angriff, keine Leichen, nichts, das auf Gewalt hindeutet.«

Cathen lachte höhnisch, bis sein Vater ihm mit einer Handbewegung zu schweigen bedeutete.

Fidelma wartete einen Moment, doch als der König zu all dem schwieg, fragte sie den Abt: »Wie erklärst du dir das Verschwinden der Mönche?«

Abt Tryffins Blick wirkte gequält. »Christus ist mein Zeuge, Schwester, mir fällt nichts ein, das diesen Vorfall auf der Grundlage von Naturgesetzen deuten kann.«

Cathen johlte verächtlich. »Hexerei! Willst du damit sagen, daß alles auf Magie hinausläuft? Das gefällt mir nicht, Abt Tryffin. Es gibt keine übernatürlichen Kräfte. Du bist genauso auf dem Holzweg wie Bruder Cyngar! Die Kräfte des Bösen existieren nicht.«

»Dem würde ich nicht zustimmen.«

Alle wandten sich überrascht Fidelma zu, die leise ihren Einwand hervorgebracht hatte.

»Das Übernatürliche ist das Natürliche, was wir noch nicht ganz begreifen können. Und wie verhält es sich mit den Mysterien unseres Glaubens? Kommen sie uns nicht auch übernatürlich vor? Wenn wir meinen, daß es das Gute gibt, müssen wir auch das Böse akzeptieren.«

»Es gibt von Gott gestiftete Mysterien!« warf Cathen rechtfertigend ein.

»Und bist du Richter darüber, was von Gott gefügt ist und was nicht?« sagte Fidelma ruhig.

Cathen öffnete den Mund, als wolle er ihr widersprechen, doch dann machte er ihn wieder zu, da er keine Antwort parat hatte. Mit gerötetem Gesicht sagte er steif: »Verzeiht, ich muß mich wieder meinen Verpflichtungen widmen.« Damit verließ er den Raum.

Gwlyddien rutschte unruhig auf seinem Lehnstuhl hin und her, als die Tür zufiel.

»Ich bitte um Entschuldigung, offensichtlich habe ich Prinz Cathen verstimmt«, sagte Fidelma, auch wenn ihr Tonfall alles andere als entschuldigend war.

»Er ist mein jüngster Sohn und etwas hitzig«, murmelte der König. »Er wollte euch gegenüber nicht respektlos sein.«

»Dergleichen haben wir auch nicht angenommen«, erwiderte Fidelma. »Dieser rätselhafte Vorfall hat uns jedoch neugierig gemacht. Sicher werden wir erst in ein paar Tagen ein Schiff für unsere Weiterreise nach Canterbury finden, da könnten wir die Zeit bis zur Abfahrt eigentlich auch sinnvoll nutzen.«

König Gwlyddiens Gesicht hellte sich auf. »Also werdet ihr euch der Sache annehmen?«

Fidelma blickte zu Eadulf hinüber. Als der die widersprüchlichen Deutungen der Vorkommnisse durch Prinz Cathen, dessen Vater und den Abt vernommen hatte, war ihm sofort klar, daß Fidelma dem König die Bitte nicht abschlagen würde. Für Fidelma waren mysteriöse Fälle so unverzichtbar wie für andere Leute der Wein. Resigniert zuckte er mit den Schultern und hoffte, sie würde ihm seinen Unmut nicht von den Augen ablesen.

»Das werden wir«, erwiderte Fidelma, die das offensichtlich so in Ordnung fand.

»Dann habt ihr die Vollmacht des Königs«, erklärte Gwlyddien mit Erleichterung. »Alle eure Kosten werden von uns übernommen, und ganz gleich, welchen Lohn ihr verlangt, er soll euch in Gold oder Silber ausgezahlt werden, wie ihr es wünscht.«

»Sehr gut«, stimmte ihm Fidelma zu. »Aber wir benötigen eine Art Pfand, damit wir beweisen können, daß wir in deinem Auftrag handeln, etwas, das dein Siegel trägt; außerdem genügend Geld, um unsere Ausgaben während des Aufenthalts in diesem Königreich zu bestreiten. Sollten wir die Gründe für das seltsame Geschehen in Llanpadern erklären können, bekommen wir zehn Goldstücke. Falls wir keinen Erfolg haben, sind wir mit fünf Goldstücken zufrieden. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

»Dann wollen wir mit Bruder Cyngar sprechen. Außerdem müßt ihr uns einen Führer zur Verfügung stellen, der uns zum Kloster Llanpadern geleitet.«

Eadulf unterdrückte ein Stöhnen.

»Das macht uns keine Mühe«, entgegnete Abt Tryf-fin. »Könntet ihr euch schon morgen vormittag dorthin begeben?«

»Warum so rasch?« erkundigte sich Eadulf, der nichts überstürzen wollte.

»Ich erwähnte die beiden Ortschaften, die womöglich Alarm geschlagen hätten, falls man dort Krieger aus Ceredigion bemerkt hätte«, erwiderte Abt Tryffin. »Eine der beiden Ortschaften hat mich gebeten, ihnen einen barnwr, einen Richter, zu senden. Morgen wird sich Bruder Meurig, der dieses Amt innehat, dorthin auf den Weg machen. Ihr könntet ihn begleiten, er würde euch führen.«

»Eine ausgezeichnete Idee!« pflichtete ihm Gwlyd-dien bei.

Fidelma war nachdenklich geworden. »Warum hat dieser Ort ...?«

»Er heißt Llanwnda«, ergänzte der Abt.

»Warum hat Llanwnda« - ihr fiel die Aussprache ein wenig schwer - »um einen Richter gebeten? Ich vermute, ein barnwr hat die gleiche Position wie ein dalaigh in meinem Land? Gibt es irgendeinen Zusammenhang zwischen dieser Bitte und dem Verschwinden der Mönche?«

Der Abt schüttelte den Kopf. »Der Fürst von Pen Caer, der Herrscher dieser Gegend, hat in einer völlig anderen Angelegenheit um einen Richter gebeten. Ein junges Mädchen ist von ihrem Freund vergewaltigt und ermordet worden. Sie war Jungfrau. In solch ländlichen Gegenden ist das ein sehr schweres Verbrechen. Der Junge hatte Glück, daß er nicht gleich von den aufgebrachten Einwohnern des Ortes zu Tode geprügelt wurde. Nein, zwischen diesen bei-den Vorfällen besteht nicht der geringste Zusammenhang.«

»Dann sollten wir morgen vormittag nach Llanpa-dern aufbrechen gemeinsam mit Bruder .«

»Bruder Meurig.«

». mit Bruder Meurig. Doch du hast gesagt, daß es sich um eine Wegstrecke von über zwanzig Meilen handelt, und Bruder Eadulf ist noch nicht ganz wiederhergestellt .«

»Natürlich komme ich mit«, warf Eadulf kühl ein. »Ich bin weder zu schwach noch zu inkompetent, um in dieser Sache nicht von Nutzen zu sein.«

»Ihr könnt Pferde von mir haben«, bot Gwlyddien an. »Dann sind wir uns einig.« Eadulf sah Fidelma wütend an. Sie fragte sich, warum er so außer sich war, wo sie doch versuchte, alles für ihn so angenehm wie möglich zu machen.

»Dann sind wir uns einig«, wiederholte sie.

»Vortrefflich. Unser Mittagsmahl wartet jetzt auf uns.« Abt Tryffin erhob sich. »Nachdem ihr beide gespeist und euch ausgeruht habt, werden wir Bruder Cyngar aufsuchen. Bruder Meurig hält sich auch in der Abtei auf. Ah . Das habe ich ganz vergessen. Mit den Adligen und den Mönchen hier könnt ihr in der Sprache von Eireann reden oder auch auf Griechisch, Latein und Hebräisch. Die gewöhnlichen Leute sprechen jedoch nur die Sprache der Kymren. Ihr werdet einen Dolmetscher brauchen.«

»Für mich stellt eure Sprache keine Schwierigkeit dar«, erwiderte Fidelma nun auf Kymrisch, der Sprache der keltischen Waliser. »Ich habe mein Noviziat mit Nonnen aus dem Königreich von Gwynedd verbracht und so manches von ihnen gelernt. Doch was eure Rechtssprache betrifft, werde ich einiges nicht verstehen, auch wenn ich mich bemühe.«

Eadulf wurde nicht weiter gefragt, ob er Kymrisch verstand. So behielt er für sich, daß er die Sprache zu einem gewissen Grad beherrschte.

»Dann gibt es für eure Arbeit ja keine weiteren Hindernisse«, sagte Abt Tryffin erfreut. »Bruder Meurig wird euch weiterhelfen, wenn ihr Schwierigkeiten habt.«

»Dafür sind wir dir dankbar«, entgegnete Fidelma.

»Dann wollen wir speisen gehen.«

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