Kapitel 2

In den wenigen Sekunden zwischen Bewußtlosigkeit und Erwachen gibt es einen Augenblick lebhaften Träumens. Eadulf kämpfte in dunklem Gewässer, er bekam keine Luft. Er versuchte, an die Oberfläche zu schwimmen, er ruderte mit Armen und Beinen, und ihm war, als würde er in Kürze ersticken. Doch wie sehr er sich auch anstrengte, er hatte das Gefühl, völlig kraftlos zu sein. Gerade als er alle Hoffnung aufgeben wollte, erlangte er wieder das Bewußtsein: jener Übergang vollzog sich so rasch, daß er einen Moment zitternd dalag; der Schweiß rann ihm von der Stirn, er war nicht sicher, was mit ihm geschah. Doch dann, ganz langsam - so kam es ihm vor - wurde ihm klar, daß er geträumt hatte. Er mühte sich, einen Ton hervorzubringen, irgendeinen Laut, doch seiner Kehle entwich nur ein Rasseln.

Er bemerkte, daß sich ein Schatten über ihn gebeugt hatte, und strengte sich an, die Dinge genauer zu erfassen, doch alles blieb verzerrt.

Eine Stimme sagte etwas. Er verstand nichts. Er bemühte sich erneut, nach oben zu blinzeln. Er fühlte, wie jemand seinen Kopf packte und ihn etwas hochhob. Dann spürte er etwas Festes an seinem Mund. Eine kalte Flüssigkeit wurde über seine Lippen gespült und rann ihm zwischen die Zähne. Gierig schluckte er. Viel zu rasch wurde das Gefäß wieder fortgenommen, und die Hand legte seinen Kopf auf das Kissen zurück.

Ein Weilchen lag er so da, dann öffnete er die Augen und zwinkerte. Eine Gestalt verschwamm vor ihm, nahm aber gleich danach Konturen an.

Es handelte sich um einen Mann, kurz, stämmig und im Gewand eines Mönchs.

Eadulf überlegte angestrengt, was ihm wohl widerfahren sei und wo er sich befand. Er konnte es sich nicht erklären.

Wieder sagte die Stimme etwas. Wieder verstand er nichts, doch dieses Mal erkannte er am Tonfall, daß jemand in der Sprache der Britannier auf ihn einredete. Er befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen und versuchte, einen Satz in jener Sprache hervorzubringen, die er nur unzulänglich beherrschte.

»Wo bin ich?« stieß er schließlich hervor, wobei er sofort bemerkte, daß er seine Muttersprache verwendet hatte.

Die Lippen im rundlichen Gesicht des Geistlichen schürzten sich abschätzig.

»Sacsoneg?« Der Mann schüttete nun einen ganzen Wortschwall über Eadulf aus.

Der versuchte sich zu konzentrieren, denn in seinem Kopf dröhnte es immer noch, um einen Satz in der Sprache der Britannier zu bilden. Es war schon viele Jahre her, daß er sie zum letztenmal benutzt hatte. Es wollte ihm nicht gelingen. Also griff er auf Latein zurück, denn das beherrschte er weitaus besser, wie er sich nun erinnerte.

Als der Mönch seine lateinischen Worte vernahm, blickte er erleichtert. Auf seinem rundlichen Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab.

»Du befindest dich in Porth Clais, angelsächsischer Bruder.«

Der Mann hielt ihm erneut den Becher hin, in dem sich Wasser befand. Eadulf hob den Kopf diesmal ohne Hilfe und trank. Er ließ sich wieder auf das Kissen fallen. Da dämmerte es ihm.

»Porth Clais? Ich war an Bord eines Schiffes, das von Loch Garman abgelegt hatte. Wo liegt Porth Clais und was ist geschehen .? Fidelma? Wo ist meine Gefährtin, Schwester Fidelma? Sind wir Schiffbrüchige? Mein Gott! Was ist geschehen ...?«

Eadulf versuchte sich aufzurichten. Der untersetzte Mönch drückte ihn sanft, aber entschlossen wieder auf sein Lager zurück. Er mußte wohl sehr geschwächt sein, wenn er einer einzigen Hand nichts entgegensetzen konnte.

»Alles zu seiner Zeit, angelsächsischer Bruder«, erwiderte der Mann freundlich. »Es war kein Schiffbruch. Alles ist in Ordnung. Du bist, wie ich schon sagte, in Porth Clais im Königreich von Dyfed. Es ist dir nicht so gut ergangen, mein Freund.«

In Eadulfs Kopf pochte es. Er fuhr sich mit der Hand darüber und war überrascht, als er an der Schläfe eine leichte Beule fühlte.

»Ich begreife nicht. Was ist geschehen?«

»Woran erinnerst du dich als letztes, angelsächsischer Bruder?«

Eadulf versuchte, den Wirrwarr in seinem Kopf zu ordnen. »Ich befand mich an Bord eines Schiffs. Wir waren erst eine Tagesreise von Loch Garman entfernt und segelten auf die Küste von Kent zu . Ah, jetzt fällt es mir wieder ein. Es gab einen Sturm.«

Blitzartig wurde ihm alles klar. Sie waren erst eine Tagesreise von Loch Garman entfernt gewesen. Die Küste von Laigin, dem südöstlichen der fünf Königreiche von Eireann, war hinter dem Horizont verschwunden, als ein heftiger Wind aufkam und hohe Wellen über das schwankende Schiff schlugen. Gnadenlos wurden sie hin und her geworfen. Noch ehe der Kapitän und die Mannschaft die Segel einholen konnten, hatte eine heftige Böe sie in Fetzen gerissen, so unerwartet war der Sturm losgebrochen. Eadulf erinnerte sich, daß er Fidelma unter Deck gelassen hatte und hinaufgegangen war, um den Seeleuten seine Hilfe anzubieten.

Der Kapitän hatte sein Angebot schroff abgelehnt.

»Eine Landratte nützt mir soviel wie ein Eimer mit Loch«, rief er barsch. »Geh wieder runter und bleib da!«

Vor seinen Augen sah er nun, wie er über das schwankende, überspülte Deck zurückgegangen war, gekränkt und verärgert, bis zu den Stufen, die zu den Kajüten hinunterführten. Gerade als er sich hinunterbegeben wollte, schien die mächtige See das Schiff hochzuwerfen und es nach vorn zu schleudern. Er verlor den Halt, und seine letzte Erinnerung war die, daß er nach vorn gerissen wurde und dann . dann nichts, bis zu seinem Erwachen vor ein paar Augenblicken.

Der stämmige Mönch lächelte.

»Und wie ist dein Name?« fragte er.

»Ich bin Eadulf von Seaxmund’s Ham, Abgesandter des Erzbischofs Theodor von Canterbury«, erwiderte Eadulf auf der Stelle und fragte dann verwirrt: »Doch wo ist Schwester Fidelma, meine Begleiterin? Was geschah mit dem Schiff? Wie bin ich hierhergekommen? Wo, sagst du, befinde ich mich?«

Der rundgesichtige Mönch grinste und hob die Hand, um der Flut von Fragen Einhalt zu gebieten. »Es scheint, daß der Stoß gegen den Kopf weder deinen geistigen Fähigkeiten noch deiner Ungeduld geschadet hat, angelsächsischer Bruder.«

»Meine Geduld hängt am seidenen Faden«, entgeg-nete Eadulf heftig und versuchte wieder, sich im Bett aufzurichten und seine pochende Schläfe zu vergessen. »Antworte mir, denn ich weiß nicht, wie ich meine Ungeduld im Zaum halten soll.«

Der stämmige Mann schüttelte den Kopf mit spöttischem Bedauern, wobei er mit der Zunge ein abschätziges Geräusch von sich gab. »Hast du nie das Sprichwort Vincit qui patitur gehört, angelsächsischer Bruder?«

»Das ist keine meiner Maximen, Bruder. Häufig zeigt die Geduld allein keine Resultate. Manchmal ist sie nur ein Vorwand, nichts zu tun. Erkläre mir, was geschehen ist.«

Der Mönch richtete die Augen zur Decke und hob resignierend die Arme. »Nun gut. Ich bin Bruder Rhodri, und das hier ist, wie ich schon gesagt habe, Porth Clais im Königreich von Dyfed.«

»An der Westküste Britanniens?«

Bruder Rhodri machte eine bestätigende Handbewegung. »Du befindest dich im Land der Kymren, den wahren Britanniern. Dein Schiff ist gestern am späten Nachmittag hier an der Küste vor Anker gegangen, um Schutz zu suchen. Unser Hafen ist nur klein, aber viele Schiffe aus Eireann laufen ihn an, um ihren ersten Halt zu machen. Du warst bewußtlos durch deinen Sturz an Bord. Also trug man dich vom Schiff herunter und brachte dich in das kleine Hospiz, das ich leite. Fast einen Tag hast du gebraucht, um wieder zu dir zu kommen.«

Eadulf lehnte sich auf das Kissen zurück und schluckte. »Einen ganzen Tag?« fragte er erschrocken.

»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Doch, iuvenante deo, du bist gesundet«, sagte Bruder Rhodri ernst.

Eadulf richtete sich plötzlich auf, woraufhin ihm schwindlig wurde. Eine seiner Fragen hatte Rhodri noch nicht beantwortet.

»Meine Gefährtin, Schwester Fidelma . Was ist mit ihr?«

»Sie hat sich sehr große Sorgen um dich gemacht, angelsächsischer Bruder. Wir haben dich abwechselnd gepflegt. Heute vormittag allerdings wurde sie in unser Mutterhaus gerufen, um mit Abt Tryffin etwas zu besprechen.«

»Abt Tryffin? Mutterhaus?«

»Auf der Halbinsel, die auf Latein als Menevia bekannt ist, befindet sich die Abtei Dewi Sant.«

Eadulf hatte schon von der großen Abtei Dewi Sant gehört. Er wußte, daß die Britannier, die im Westen dieser Insel lebten, die sie nun mit den Angeln und den Sachsen teilten, die Abtei für beinahe so bedeutend hielten wie die Iren Iona, die Heilige Insel im nördlichen Königreich von Dal Riada. Zwei Pilgerreisen nach Dewi Sant kamen einer Pilgerfahrt nach Rom gleich, und ein Pilger konnte soviel Vergebung seiner Sünden dabei erlangen - das heißt die Vergebung seiner zeitlichen Strafen im Diesseits für von ihm begangene Sünden -, daß es für viele Jahre reichte. Eadulf bemerkte, daß er ganz im Sinne der Lehren Roms dachte, wo der Heilige Vater Vergebung aus dem Thésaurus ecclesiae, dem »Schatz der Kirche« gewährte, daß heißt aus dem Schatz von Verdiensten, die von Christus, der Jungfrau Maria und den Heiligen für die Kirche erworben worden waren. Eadulf wußte nur zu gut, daß die Kirchen der Iren und Britannier nicht an diese Art der Sündenvergebung glaubten oder gar daran, daß man sich von der eigenen Verantwortung entbinden lassen konnte, wenn man sie erwarb.

»Sie wurde dorthin gerufen? Schwester Fidelma? Ist die Abtei hier in der Nähe?« erkundigte er sich.

»In der Nähe? Ja, sie ist gut zu Fuß zu erreichen, liegt weniger als zwei Meilen von hier entfernt. Schwester Fidelma wird am Abend wieder zurück sein.«

»Und du sagst, daß wir uns auf der Halbinsel von Dyfed befinden, die als Menevia bekannt ist?«

»In unserer Sprache wird sie Moniu genannt«, bestätigte ihm Bruder Rhodri.

»Warum ist Fidelma ... Schwester Fidelma dort hinbestellt worden?«

Bruder Rhodri hob die Schultern. »Keine Ahnung, angelsächsischer Bruder. Wo du jetzt in besserer Verfassung bist, möchtest du vielleicht einen Kräutertee oder Brühe?«

Eadulf bemerkte auf einmal, wie ausgehungert er war. »Ich würde gern etwas essen, Bruder«, sagte er vorsichtig.

Wohlwollend lächelte Bruder Rhodri. »Ah, ein gutes Zeichen für deine Genesung, mein Freund. Dennoch ist es ratsam, daß du dich mit etwas Brühe begnügst. Du solltest dich auch nicht groß bewegen. Bleib hier liegen und erhole dich noch eine Weile.«

Ein paar Stunden später ging es Eadulf deutlich besser. Er hatte eine Fleischbrühe zu sich genommen, und seine Kopfschmerzen waren dank einer Kompresse, die ihm Bruder Rhodri auf die Stirn gelegt hatte, wie weggeblasen. Offenbar war Bruder Rhodri ausgebildeter Apotheker. Eadulf, der selbst an der großen medizinischen Schule von Tuam Brecain studiert hatte, war aufgefallen, daß der Umschlag aus Blättern des Fingerhuts bestand, der bei Kopfschmerzen ganz ausgezeichnete Linderung brachte. Langsam war er in einen Dämmerzustand hinübergeglitten und schließlich eingeschlafen.

Der Klang von Fidelmas Stimme weckte ihn. Als sie den Raum betrat, war er schon vollkommen wach. Eadulf richtete sich in seinem Bett auf, und die sorgenvolle Miene wich von ihrem Gesicht. Mit ausgestreckten Armen eilte sie auf ihn zu und setzte sich an den Rand seines Bettes.

»Wie geht es dir? Bist du wohlauf?« fragte sie besorgt. »Die Schwellung an deiner Schläfe scheint zurückzugehen.«

Eadulf antwortete ihr mit einem mühsamen Lächeln. »Ich fühle mich so, wie jemand sich eben fühlt, der durch einen Sturz einen Tag lang bewußtlos war.«

Sie seufzte erleichtert, hielt aber seine Hände nach wie vor in den ihren. Dann besah sie sich seinen Kopf. Sie war zufrieden und entspannte sich sichtlich.

»Ich habe mir solche Sorgen gemacht«, sagte sie lächelnd. Als sie Bruder Rhodri bemerkte, der nun in der Tür stand, ließ sie schnell Eadulfs Hände los und rückte von ihm ab. »Hat dir Bruder Rhodri erklärt, wo du dich befindest und was geschehen ist?«

»Wie ich verstanden habe, hat unser Schiff Porth Clais angelaufen, um Schutz vor dem Sturm zu suchen.«

»An der Küste von Dyfed«, fügte Fidelma hinzu. »Es war wirklich ein fürchterliches Unwetter. Sobald wir den Hafen erreicht hatten, bestand ich darauf, dich in dieses Hospiz zu bringen, denn es war nicht sicher, ob du durch den Sturz nicht noch weitere Verletzungen davongetragen hattest.«

»Man hat sich anscheinend bestens um mich gekümmert.« Eadulf lächelte. »Wir können sofort an Bord des Schiffes zurückkehren und unsere Reise fortsetzen, wenn du es möchtest.«

Zu seiner Überraschung schüttelte Fidelma den Kopf. »Unser Schiff ist heute morgen mit der Flut ausgelaufen. Der Kapitän wollte nach dem Sturm so schnell wie möglich weitersegeln. Die zerfetzten Segel hat er rasch austauschen lassen.«

»Was?« Eadulf hievte sich mühsam hoch und saß nun steif im Bett. »Er hat uns hier im Stich gelassen? Wir haben ihn dafür bezahlt, daß er uns ins Königreich Kent bringt. Willst du etwa sagen, daß er auf und davon ist und uns hier, fern von allem, zurückgelassen hat?«

Fidelma spitzte vorwurfsvoll die Lippen. Ihre Augen wanderten zu Bruder Rhodri hinüber. Sie hatten sich in Fidelmas Muttersprache unterhalten, die Eadulf genausogut beherrschte wie seine eigene und vielleicht noch besser als Latein. Wollte sie ihn warnen?

»Wir sind hier nicht fern von allem. Das Königreich von Dyfed unterhält gute Beziehungen zu anderen Ländern und Königreichen. Und im übrigen hat uns der Kapitän einen Teil unseres Reisegeldes zurückgezahlt.«

Eadulf schaute nun auch zu Bruder Rhodri. Offenbar verstand er ihre Sprache ein wenig, denn er schien der Unterhaltung gefolgt zu sein.

»Ich wollte nur sagen, daß wir von Canterbury noch weit weg sind«, stellte Eadulf klar. »Es ist schon ärgerlich, daß der Kapitän nicht warten konnte.«

»Kommt Zeit, kommt Rat. Es wird sich schon ein Weg finden«, tröstete ihn Fidelma.

Unwillig zuckte Eadulf mit den Schultern. »Wir haben nicht so viel Geld, als daß wir es uns leisten könnten, etwas unnütz auszugeben«, mahnte er sie. »Wir müssen ein neues Schiff finden, und die Reise nach Canterbury wird teurer als erwartet für uns werden.«

Fidelma tat seine Worte mit einer Geste ab. »Wichtig ist, daß du dich ausruhst und wieder ganz zu Kräften kommst, Eadulf«, entgegnete sie mit Nachdruck. »Denk dran, die Gezeiten des Meeres kommen und gehen.« Sie wollte aufstehen.

»Bleib noch ein wenig sitzen«, drängte Eadulf sie. »Ich bin nicht müde.«

Fidelma schaute wieder zu Bruder Rhodri, der gerade eine Lampe anzündete, denn während ihrer Unterhaltung war die Dämmerung langsam hereingebrochen.

»Es ist Zeit für die Abendmahlzeit«, sagte er. »Soll ich dir auf einem Tablett etwas bringen, Schwester?«

»Danke, Bruder. Das wäre sehr freundlich.«

Der Mönch wandte sich an Eadulf. »Du siehst aus, als könntest du noch ein wenig Brühe vertragen, Bruder. Ich kümmere mich darum.«

Als er fort war, lächelte Eadulf Fidelma schüchtern an. »Es tut mir leid, daß ich dich in diese Situation gebracht habe.«

»Warum? Es ist immer faszinierend, ein neues Land kennenzulernen, auch wenn man es gar nicht beabsichtigt hat.«

Auf einmal wirkte Eadulfs Gesicht düster. »Das Land der Britannier mag vielleicht für dich faszinierend sein, aber für mich ist es das nicht.«

»Was meinst du damit?«

»Die Sachsen sind bei den Britanniern nicht gerade willkommen, auch wenn Bruder Rhodri sich von christlicher Nächstenliebe leiten läßt.«

»Haben die Britannier einen Grund, die Sachsen nicht zu mögen?« fragte Fidelma.

Eadulf blickte sie scharf an. Machte sie sich über ihn lustig? Sie kannte die jüngste Geschichte dieser beiden Inseln nur zu gut.

»Du weißt, daß das seine Gründe hat, Fidelma. Und du kennst die irische Geschichte besser als jeder andere, dem ich begegnet bin. Du wirst dich auch erinnern, daß die Britannier hier einst alles beherrschten. Dann kamen vor zwei Jahrhunderten die Vorfahren meines Volkes aus Gegenden hinter dem östlichen Meer, um das Land hier zu erobern und sich zu unterwerfen. Das waren die Jüten, die Angeln und Sachsen, die man später gemeinhin Angelsachsen nannte. Sie drängten die Britannier immer weiter nach Westen und Norden ab und eigneten sich ihre Gebiete an. Ich verstehe die Gefühle der Vertriebenen. Mein Volk ist ein Kriegsvolk, das die christlichen Werte nur recht oberflächlich angenommen hat. Ich vermute, daß sich die Angelsachsen, auch wenn sie dem neuen Glauben folgen, noch immer vor Wotan fürchten, dem alten Kriegsgott. Und nach wie vor sind sie davon überzeugt, daß der einzige Weg zur Unsterblichkeit darin besteht, mit dem Schwert in der Hand zu sterben und Wotans Namen dabei auf den Lippen zu haben. Nur dieser Weg führt nach Walhall, wo all die Unsterblichen leben.«

Fidelma war erstaunt über die Leidenschaftlichkeit seiner Rede. »Das hört sich an, als würdest du das auch glauben, Eadulf.«

Eadulf warf ihr einen finsteren Blick zu. »Ich war ein junger Mann, als mich Missionare aus Eireann zum Christentum hinführten, Fidelma. Ich studierte erst in deinem Land, dann in Rom. Du weißt, daß ich, bevor ich Christ wurde, nach dem Erbrecht Friedensrichter von Seaxmund’s Ham war. Man kann nicht so leicht die Traditionen vergessen, in denen man aufgewachsen ist. Wir alle erinnern uns noch daran, wie König Eadbald von Kent wieder zum Wotan-Kult zurückkehrte. Es leben heute noch Leute, die persönlich Zeuge wurden, wie die Ost-Sachsen alle christlichen Missionare umbrachten oder ins Exil jagten.«

»Das ist wahr«, stimmte ihm Fidelma zu. »Doch die meisten Königreiche der Sachsen sind inzwischen zum christlichen Glauben übergetreten.«

Eadulf schüttelte den Kopf.

»Es gibt immer noch eine Reihe von Königreichen, in denen der christliche Glaube nur toleriert wird. Zum Beispiel Mercia, das ist nach wie vor nicht völlig christianisiert. Und obwohl mein Volk den neuen Glauben angenommen hat, kommt es immer wieder zu Kriegen mit den Britanniern. Solche Fehden hat es ständig gegeben, seit wir mit dem Schwert unsere Königreiche aufbauten. Christliche Britannier gegen christliche Sachsen. Es ist uns auch noch frisch im Gedächtnis, wie Athelfrith von den Sachsen den Bri-tannierkönig Selyf, Sohn von Cynan, besiegte. Nach jener Schlacht ging Athelfrith nach Bangor in die große Abtei der Britannier, ließ dort Tausende christlicher Mönche abschlachten und feierte so seinen Sieg. Können uns die Britannier dieses Blutbad verzeihen, Fidelma? Ich glaube nicht. Solange ich mich im Königreich der Britannier befinde, werde ich mich unbehaglich fühlen.«

Sie dachte über seine Ängste nach. »Für die bösen Taten deines Volkes kann man dich nicht verantwortlich machen, Eadulf. Ich glaube, die Britannier sind nicht so engstirnig, daß sie allen Sachsen Schuld an Ereignissen geben, die frühere Generationen zu verantworten haben. Die Britannier haben über Jahrhunderte hinweg am christlichen Glauben festgehalten, auch zur Zeit der römischen Besetzung. Ohne einen gerechtfertigten Grund würden sie niemandem Schaden zufügen. Das Massaker an den Mönchen von Bangor fand im Königreich von Gwynedd im Norden statt. Und wir halten uns im Königreich von Dyfed auf, das im Süden liegt. Dyfed unterhält enge Beziehungen zu fiireann. Und nun hat uns Abt Tryffin von Dewi Sant gebeten, morgen gemeinsam mit ihm zu speisen.«

Eadulf blickte sie überrascht an. »Er hat uns beide zu sich gebeten?«

Fidelma lächelte. »Nun, die Einladung galt vor allem mir, doch man versicherte mir nachdrücklich, daß du mich begleiten sollst, wenn es dein Gesundheitszustand erlaubt. Ich habe das Gefühl, daß irgend etwas den Abt beunruhigt. Er scheint eine gute Seele zu sein. Ich glaube, er möchte mich um Hilfe bitten, hat aber bei unserer Begegnung heute nachmittag nicht die rechte Gelegenheit dazu gefunden.«

Eadulf wirkte konsterniert. »Warum sollten dich die Britannier um Hilfe bitten?«

»Wie ich schon sagte, es gibt enge Beziehungen zwischen Dyfed und Eireann.«

»Als da wären?« bohrte Eadulf weiter.

Da kehrte Bruder Rhodri mit einem Tablett zurück, auf dem sich zwei Schalen heiße Brühe und Brot befanden, und stellte es auf den Tisch neben dem Bett.

Eadulf warf einen schiefen Blick auf die Brühe. »Ich könnte einen halben Braten verschlingen«, sagte er seufzend in ihrer gemeinsamen Sprache und schaute zu Fidelma.

Bruder Rhodri sah ihn vorwurfsvoll an. »Morgen kannst du vielleicht ein paar Scheiben kalten Braten und etwas Käse zu dir nehmen, angelsächsischer Bruder. Doch heute würde ich dir empfehlen, deinen Gelüsten noch nicht nachzugeben.«

Ein wenig beschämt verzog Eadulf das Gesicht, denn erst jetzt wurde ihm bewußt, wie gut der Bri-tannier die Sprache von Eireann beherrschte. Vielleicht hätte er in seinen Äußerungen vorsichtiger sein sollen.

»Ich bin dir dankbar, sowohl für die Pflege als auch für deinen Rat, Bruder Rhodri.«

Der Mönch lächelte, das tat er wohl meistens. »Nie hat Gott gesagt, daß ein Mund ohne Speise sein soll«, bemerkte er, als er den Raum verließ. »Also denk daran, daß ein Rat nie Vorschrift ist.«

»Worin bestehen denn nun diese Verbindungen?« nahm Eadulf die Unterhaltung mit Fidelma wieder auf.

»Den alten Schriften nach stieß vor zweihundert Jahren der Stammesfürst der Deisi, Aonghus vom Schrecklichen Speer, in einem Wutausbruch Großkönig Cormac Mac Art ein Auge aus. Weil das eher ungewollt und versehentlich geschah, fiel die Strafe nicht so hart aus, wie sie hätte sein können. Sie bestand darin, daß Aonghus und seine ganze Sippe ihre fruchtbaren Ländereien im Königreich von Midhe für immer verlassen mußten. Ein Teil des Stammes siedelte sich im Königreich meines Bruders an.«

Eadulf nickte. Er erinnerte sich, daß ein Stamm, den man die Deisi nannte, im Süden von Muman ansässig war. »Und die anderen?«

»Andere Teile des Stammes fuhren übers Meer. Einer wurde von Eochaid angeführt, welcher seine Leute in diesem Gebiet siedeln ließ, das war damals das Land der Demetae. Eochaid wurde hier der Herrscher, und es heißt sogar, daß ihm das mit friedlichen Mitteln gelang und nicht durch Krieg. Seit dieser Zeit haben hier zehn weitere Könige aus seiner Linie geherrscht, und viele Adlige der Gegend stammen von den Deisi ab. Deshalb kann sich so mancher in diesem Königreich immer noch in der Sprache von Eireann unterhalten, und deshalb studieren auch eine Menge Geistliche hier.«

Eadulf hatte davon bisher nichts gewußt. Er dachte eine Weile über die alte Geschichte nach und kam dann wieder auf ihr Thema zurück.

»Wenn Abt Tryffin dich um Hilfe bitten will, warum hat er es deiner Meinung nach nicht bei deinem Besuch heute nachmittag getan?«

»Ich weiß es nicht. Er war sehr herzlich und äußerst besorgt darum, daß man dir die beste Pflege angedeihen läßt. Er erkundigte sich nach unserer Reise und fragte mich, ob es dir gut genug ginge, um mich morgen nachmittag zu ihm zu begleiten.«

»Warum braucht er deine Hilfe? Woher weiß er eigentlich, wer du bist? Ich schätze, ihm ist bekannt, daß du eine dalaigh bist?«

»Da hast du gut aufgepaßt, Eadulf«, bemerkte Fidelmaein wenig von oben herab. »Er war genau im Bilde, wer ich bin, und wußte, daß ich als dalaigh bei den Gerichten wirke. Die Britannier verfügen über ein ähnliches Rechtssystem wie wir. Offensichtlich muß er bald nach unserer Ankunft in Dyfed alles über meine Person erfahren haben. Ich habe dir erzählt, daß viele Geistliche aus meinem Land hier zum Studium an die Abtei von Muine kommen.«

»Muine?«

»Lateinisch heißt die Halbinsel Menevia. In der hiesigen Sprache Moniu.«

»Oh, ja. Bruder Rhodri erwähnte den Namen bereits«, erwiderte Eadulf.

Fidelma lächelte schelmisch. »Du willst vielleicht nicht gern an Fearna erinnert werden, Eadulf, aber der heilige Maedoc, der die Abtei gegründet hat, war auch ein Schüler von Dewi Sant und hat hier studiert.«

Eadulf überlief ein leichter Schauer. Er dachte daran, wie er erst kürzlich in der Abtei von Fearna beinahe sein Leben eingebüßt hätte.

»Nun«, fuhr Fidelma fort, »man hat Abt Tryffin darüber informiert, daß wir ein gewisses Ansehen genießen, was das Lösen von rätselhaften Kriminalfällen betrifft ...«

Eadulf fühlte sich sehr geschmeichelt, von ihr so selbstverständlich einbezogen zu werden. »Also glaubst du, daß er mit uns eine bestimmte Angelegenheit erörtern möchte?« fragte er rasch.

»Ja, das denke ich.«

»Das kommt mir höchst eigenartig vor.«

»Bald werden wir mehr wissen. Es hat keinen Sinn, weitere Spekulationen anzustellen.« Sie ergriff seine Hände. »Es ist schön, daß du dich wieder erholt hast, Eadulf. Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht.«

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