Kapitel 17

Als Eadulf am nächsten Morgen aufstand, war Fidelmaschon wach und angezogen. Sie saß gerade am Tisch und aß frischgebackenes Brot mit Honig und trank süßen Met dazu. Als er eintrat, schaute sie auf und lächelte ihm entgegen.

»Hat sich Gwnda schon gemeldet?« fragte er, setzte sich zu ihr und nahm sich vom Brot.

Gestern abend hatten sie den Fürsten von Pen Caer nicht zu Hause angetroffen. Buddog hatte ihnen gesagt, daß er bei Freunden zu Besuch sei. So hatten sie ein bescheidenes Abendessen zu sich genommen und waren gleich darauf zur Ruhe gegangen.

Wie aufs Stichwort ging die Tür auf, und Gwnda trat ein.

»Elen hat sich mit uns unterhalten«, waren Fidelmas erste Worte, nachdem sie sich begrüßt hatten.

Gwnda setzte sich zu ihnen an den Tisch. »Hat sie euch gesagt, daß ich ihr dazu geraten hatte?« fragte er.

»Sie meinte, du hättest nichts dagegen, wenn sie uns ihre Geschichte anvertrauen würde.«

»Vielleicht hatte ich in bezug auf Idwal unrecht«, räumte Gwnda ein, doch klang keine Reue aus seiner Stimme. »Ich hatte das Gefühl, daß es besser sei, wenn ihr auch ihre Sicht der Dinge kennt.«

»Du hattest vielleicht unrecht?« fragte Fidelma bissig. »Der Junge ist ermordet worden!«

»Als mir meine Tochter von ihrer Vermutung erzählte, wurde mir plötzlich klar, daß es auch eine andere Erklärung für Mairs Tod geben könnte.«

»Was bedeutet, daß Idwal unschuldig war«, betonte Eadulf.

»Es würde bedeuten, daß man dem Jungen großes Unrecht angetan hat«, gab Gwnda zu. Er wirkte beinah heiter.

»Ein Unrecht, bei dem du sowohl eine aktive als auch eine passive Rolle gespielt hast«, stellte Eadulf voller Strenge fest.

»Falls ich ein Unrecht begangen habe, bin ich bereit, meine Schuld zu büßen«, sagte Gwnda. »Doch die Hauptschuld trägt der aufrührerische Mob.«

»Wollen wir doch einmal deinen Anteil näher untersuchen«, sagte Fidelma. »Du warst der erste, der am Tatort auftauchte, kurz nachdem Mair umgebracht worden war, und du hast Idwal dort erwischt. Weshalb warst du zu dieser Zeit im Wald?«

Gwnda dachte nach. »Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich war einfach nur reiten.«

»An jenem Vormittag waren offenbar eine Menge Leute im Wald. Mair und Idwal, Iestyn . Ja sogar Buddog.«

Gwndas Stimmung schlug plötzlich um, er wirkte angespannt und ängstlich. »Durch den Wald führt der Hauptweg nach Süden. Da kommen täglich viele Leute entlang.«

»Bevor sich deine Tochter dir anvertraute, hattest du keine Zweifel an Idwals Schuld. Doch nun ist es anders?«

Gwnda überlegte einen Moment. »Meine Tochter hegt diese Zweifel. Ich bin nicht davon überzeugt, daß sie recht hat.«

»Hast du Mair und Idwal rein zufällig zusammen entdeckt?« wollte Fidelma wissen.

»Ja. Ich sah, wie Idwal sich über sie beugte. Das habe ich doch schon gesagt. Ich habe Bruder Meurig alles ausführlich berichtet.«

»Bruder Meurig ist tot, du mußt uns schon noch einmal erzählen, was an diesem Morgen geschah.«

Gwnda zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ich kam dazu, als Idwal sich über Mair beugte. Sie war tot. Kurz darauf hörte ich laute Stimmen. Idwal richtete sich auf und wollte wegrennen, da habe ich ihn festgehalten. Dann tauchte Iorwerth mit ein paar Männern aus dem Ort auf. Den Rest wißt ihr.«

»Die ganze Zeit über hast du behauptet, daß Idwal Mairs Mörder ist. Sogar den Lynchmord an ihm hast du verteidigt und uns Ermittlungen in diesem Fall untersagt. Nun scheinst du es dir auf einmal anders überlegt zu haben. Da frage ich mich natürlich, warum?«

»Ich bin der Fürst von Pen Caer. Ich muß mich euch gegenüber nicht verantworten«, erwiderte Gwnda. »Und überhaupt, wenn das Leben meiner Tochter in Gefahr ist, bin ich bereit, einen Fehler zuzugeben. Habe ich nicht einen Richter angefordert, um Idwal nach Recht und Gesetz vor Gericht zu bringen?«

»Das hat nicht verhindern können, daß er nie einen ordentlichen Prozeß bekam«, warf Eadulf trocken ein.

»Ob er nun Mair umgebracht hat oder nicht, ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, daß er Bruder Meurig erschlug, als er fliehen wollte. Deshalb ist er zu Recht gelyncht worden.«

»Warst du dabei, als man ihn aufhängte?« wollte Eadulf plötzlich wissen.

Gwnda schüttelte heftig den Kopf. »Ich bin erst später dort eingetroffen. Als ich ankam, war er schon tot.«

»Als Fürst von Pen Caer ist es deine Pflicht, dafür zu sorgen, daß Gerechtigkeit geübt wird. Doch offenbar sprichst du jene von Schuld frei, die ihn ermordet haben.«

»Ich verstehe, daß sie wütend waren auf den Jungen.«

»Doch jetzt sagst du, daß er vielleicht unschuldig ist?« unterstrich Fidelma noch einmal.

Gwnda schwieg.

»Gestern nachmittag warst du strikt dagegen, daß wir in diesem Fall weitere Nachforschungen anstellen, doch kurze Zeit später hast du Elen darin bestärkt, sich uns anzuvertrauen.«

»Was ist daran merkwürdig? Meine Haltung hat sich nicht verändert. Ich finde immer noch, daß ihr euch nicht in diese Sache einzumischen habt. Ihr seid nur hier, um euch mit dem Rätsel von Llanpadern zu beschäftigen. Auch daran hat sich nichts geändert. Aber Elen wollte euch von Clydog erzählen; ihr ging es um König Gwlyddien. Dagegen habe ich natürlich nichts. Ich hoffe, klargestellt zu haben, daß ich bereit bin, Elens Vermutungen zur Kenntnis zu nehmen, aber nach wie vor davon überzeugt bin, daß Idwal Bruder Meurig erschlagen hat. Jetzt liegt es in König Gwlyddiens Hand, Clydog und seine Bande aufzuspüren und die Verschwörung, von der Elen berichtete, aufzudecken.«

Es herrschte Stille. Fidelma seufzte. Ihr war klar, daß Gwnda nichts weiter preisgeben würde. »Wir wissen es zu schätzen, daß du uns geholfen hast, Gwnda. Nur noch eins. Was hältst du von dem Treffen, daß Elen da im Wald beobachtet hat?«

Gwnda rieb sich nachdenklich den Nasenrücken. »Clydog ist ein berüchtigter Dieb. Er und seine Banditen machen den Wald von Ffynnon Druidion schon seit mehreren Monaten unsicher. Ich kann mir nicht vorstellen, welch eine Beziehung er zu einem Mönch haben sollte, und ebenso nicht, was für einen Plan sie da ausgeheckt haben könnten.«

»Über Clydogs Herkunft weiß man offenbar nichts«, sagte Fidelma. »Wenn wir nur ein wenig darüber herausfinden könnten, wäre es leichter, Licht in das Dunkel zu bringen. Was ist mit seinem Mitstreiter Corryn? Er scheint mit Clydog zusammen die Räuberbande anzuführen, oder?«

»Von dem habe ich noch nie etwas gehört.«

Gwnda erhob sich und deutete damit an, daß die Unterhaltung für ihn beendet sei. Er blickte zum Fenster hinaus. »Heute ist ein strahlender Tag. Seit letzter Nacht hat es nicht mehr geregnet. Ihr werdet mühelos zur Abtei Dewi Sant reiten können.«

Fidelma und Eadulf schauten sich vielsagend an. »Wieso nimmst du an, daß wir heute schon zur Abtei aufbrechen?« fragte Fidelma.

Gwndas Augen zogen sich gefährlich zusammen, als er sich zu ihr umdrehte. »Ich hatte euch bereits angekündigt, daß ihr die letzte Nacht meine Gastfreundschaft genießt. Euch hält hier nichts mehr.«

»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Fidelma, die sich ebenfalls erhob. »Vieles hält uns hier zurück.«

Gwnda hatte Mühe, sich zu beherrschen. Er wollte gerade lospoltern, da stürzte ein junger Bursche herein und rief: »Ein Überfall! Ein Überfall! Sächsische Kriegsschiffe.«

»Was sagst du da?« stieß Gwnda hervor. »Sächsische Kriegsschiffe? Wo?«

»Kannst du uns genauere Angaben machen?« fragte Fidelma den Jungen barsch. »Wo sind diese Schiffe?«

Der Junge war so aufgeregt, daß er nicht sofort antworten konnte. Gwnda packte ihn am Arm. »Sprich schon, Bursche. Wo gehen die Angelsachsen an Land?«

»Mein Vater ist der Kuhhirte Taloc, mein Herr. Seine Tiere weiden auf den Wiesen bei Carregwasted, ein paar Meilen nördlich von hier. Du mußt die Gegend kennen - die alte Landspitze, von der aus man auf die Bucht blickt.«

»Ja, ja. Ich kenne sie. Wie viele Schiffe sind es?« fragte Gwnda ungeduldig.

»Wir haben unsere Herde gehütet. Plötzlich kam meine kleine Schwester angerannt und rief, daß ein merkwürdiges Schiff in die Bucht gesegelt sei ...«

»Heißt das, daß es sich nur um ein einzelnes Kriegsschiff handelt?« mischte sich Fidelma ein.

»Eins reicht schon«, schnitt ihr Gwnda rasch das Wort ab. »Weiter, Junge. Wie viele Krieger sind es? Wo befinden sie sich jetzt?«

Der Junge blickte verwirrt von einem zum anderen. »Wir gingen nachsehen. Mein Vater sagte, daß es ein sächsisches Schiff sei, weil er die Zeichen darauf erkannte. Aber irgendwie sei das Schiff eigenartig.«

»Waren die Zeichen eigenartig? Oder etwas anderes?« warf nun Eadulf ein.

»Die Zeichen tun jetzt nichts zur Sache. Was weiter?« drängte Gwnda den Jungen.

»Von dem Schiff machten ein paar kleine Boote los und ruderten an den felsigen Strand unter uns. Ungefähr zwanzig sächsische Krieger mit Streitäxten und rundem Schild kamen an der Landspitze ans Ufer .«

Gwnda stöhnte laut auf. »Ich kenne die Stelle. Dort führt ein bequemer Weg nach oben. Sie haben es auf uns abgesehen, und ich habe nur ein halbes Dutzend ausgebildeter Männer zur Verfügung. Uns bleibt nichts anderes, als den Ort zu verlassen und uns in den Wäldern zu verstecken.«

Fidelma beugte sich zu dem Jungen vor. »Hast du gesehen, ob sie Anstalten machten, landeinwärts zu ziehen?«

Der Bursche schüttelte den Kopf. »Mein Vater rief meiner Schwester und meiner Mutter zu, sie sollten alles Wertvolle zusammenraffen und im Wald Schutz suchen. Er selbst wollte die Herde an einen sicheren Ort treiben. Dann schickte er mich los, euch zu alarmieren.«

Gwnda stand hilflos da. »Wir haben nicht genügend Krieger, um Llanwnda zu verteidigen«, jammerte er. »Wir müssen unverzüglich von hier fort!«

»Wäre es nicht besser, zuerst hinter die Absichten der Angreifer zu kommen, ehe du deine Untergebenen zu einer panischen Flucht veranlaßt?« fragte Fidelma.

»Absichten?« Gwnda lachte bitter auf. »Es sind Angelsachsen! Was für Absichten außer rauben, plündern und brandschatzen sollten sie haben? Es sind Barbaren!«

Eadulf lief rot an. »Nicht alle meine Landsleute sind Barbaren!« rief er aufgebracht.

»Du willst mir damit wohl sagen, daß deine Landsleute hier auftauchen, um friedlich Handel mit uns zu treiben?«

Eadulf trat einen Schritt vor, er rang nach Fassung. »Wir wissen nicht, warum sie hier sind. Wir werden es auch nie erfahren, wenn wir fortlaufen oder sie angreifen.«

»Haben wir nicht aus dem Überfall auf Llanpadern gelernt? Oder tust du diese Sache als harmlos ab? Ich nehme an, du meinst, ich sollte zur Landspitze gehen und höflich fragen, was sie wollen?«

»Jedenfalls wäre das besser als das, was du vorschlägst«, erwiderte Eadulf, ohne nachgedacht zu haben.

»Aber keineswegs klüger«, sagte Fidelma, stand auf und legte Eadulf besänftigend eine Hand auf den Arm.

»Wenn sich niemand unter den Einwohnern von Llanwnda findet, der zu diesen Angelsachsen geht und mit ihnen spricht, werde ich es selbst tun. Ich werde herausfinden, was sie wollen«, sagte Eadulf bestimmt.

Gwnda starrte ihn einen Augenblick überrascht an, dann lachte er leise vor sich hin. »Natürlich, denn du bist ja einer von ihnen. Du wirst hingehen, damit sie dich verschonen.«

Fidelma zischte wütend und baute sich vor Eadulf auf, mehr um Gwnda vor einem Ausfall ihres Gefährten zu schützen, als Eadulf vor ihm.

»Das ist deiner nicht würdig, Gwnda. Bruder Eadulf ist ein Mann, dem ich jederzeit mein Leben anvertrauen würde und auch das Leben aller Menschen, die hier wohnen.« Sie zögerte und sagte dann, an Eadulf gewandt: »Die Idee, mit ihnen zu sprechen, ist gut, ganz gleich, wer sie sind. Zumindest müßten wir uns ihnen so nähern, daß wir ihre Absichten ergründen können.«

Eadulf war immer noch beleidigt. »Ich habe dieses Angebot nicht aus Eigennutz gemacht«, brummte er. »Doch ich werde gehen.«

»Wir werden gehen«, berichtigte ihn Fidelma.

Eadulf schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich mache mich allein auf den Weg. Gwnda hat in gewissem Sinne recht. Einem Landsmann werden sie kaum etwas tun, falls sie wirklich auf Beutezug sind.«

»Vielleicht«, gab Fidelma unwillig zu. »Doch ich begleite dich so weit, wie es möglich ist, und ...«

»Die Zeit rennt uns davon«, unterbrach Gwnda sie. »Ich werde den Befehl ausgeben, daß die Bewohner sich in Sicherheit bringen sollen. Ich kann nicht warten, bis ihr herausfindet, was diese Barbaren vorhaben.«

»Du mußt tun, was du für richtig hältst, Gwnda.« Fidelma wandte sich an den Jungen. »Zeig uns die Richtung, wo das Schiff angelegt hat.«

Der Junge deutete nach Norden. »Haltet euch nur auf dem Weg nach Norden, bis ihr ans Meer gelangt. Es sind nur ein bis zwei Meilen von hier. Ihr werdet die Bucht nicht verfehlen.«

Fidelma und Eadulf gingen zum Stall hinüber und sattelten ihre Pferde. Als sie Llanwnda verließen, hatte Gwnda schon die Alarmglocke Sturm läuten lassen. Im ganzen Ort herrschte ein aufgeregtes Durcheinander, die Leute rannten hin und her, suchten nach ihren Kindern und rafften ihre Habe zusammen. Fidelma rief Eadulf zu: »Sobald wir die Angelsachsen sehen, lasse ich mich zurückfallen und du reitest allein weiter. Doch im Namen aller, die dir etwas bedeuten, Eadulf, paß bitte auf dich auf.«

Eadulf lächelte ihr kurz zu. »Ich habe nicht die Absicht, mein Leben wegzuwerfen, nur um diesem Kretin Gwnda etwas zu beweisen.«

»Falls du auf diese Sachsen stößt, mußt du unbedingt herausbekommen, ob sie von dem gleichen Schiff stammen, das gesichtet wurde, als man die Klosterbrüder von Llanpadern später am Strand fand. Und auch, was sie von diesem Überfall wissen.«

Dann ritten sie schweigend den Weg nach Norden entlang. Hinter einem Dickicht lag endlich das Meer vor ihnen. Aber es war nicht dieser Anblick, der sie die Pferde zügeln ließ, sondern eine Art Gesang mit eigenartigem Rhythmus. Eadulf machte Fidelma das Zeichen, anzuhalten, und zeigte auf den Waldrand.

»Sie kommen«, verkündete er leise. »Das ist ein sächsisches Kriegslied. Versteck dich. Falls etwas passiert . Nun, dann reite wie der Teufel .«

Fidelma signalisierte mit der Hand ihr Einverständnis, wandte ihr Pferd um und suchte Schutz unter den Bäumen.

Eadulf wartete, bis sie verschwunden war, dann ritt er auf das merkwürdige trommelartige Geräusch zu. Als er um eine kleine Anhöhe bog, sah er unter sich, was einem ungeübten Auge wie eine fremdartige, sich langsam den Weg entlangziehende Schlange vorgekommen wäre, an deren Seite merkwürdige Schuppen in der Sonne glänzten. Das Auge jedoch, das so einen Anblick gewöhnt war, sah eine Zweierreihe von Kriegern mit riesigen runden Schilden zu beiden Seiten, hinter denen man die Männer kaum ausmachen konnte. Lediglich ihre behörnten Metallhelme und ihre kampfbereiten zweischneidigen Streitäxte waren zu erkennen.

Der Trupp marschierte im Gleichschritt, die Lederstiefel stampften auf den Boden. Mit einer gleichförmigen monotonen Bewegung fuhren die Arme mit den Äxten zum Himmel empor, dann wieder abwärts, wobei sie auf die Metallränder der Schilde schlugen und so einen hypnotisierenden, unerbittlichen Trommelrhythmus erzeugten. In der Pause vor dem nächsten Schlag erscholl der Ruf: »Für den Grafen! Für Eanfrith!« Dann folgte wieder der unbarmherzige Axtschlag auf den Schild. Eadulf war der Anblick angelsächsischer Krieger in Schlachtordnung und mit einem Schlachtruf auf den Lippen, der ihre Feinde ver-stören sollte, nicht fremd.

Auf einmal hielt der Trupp an und verstummte.

Jemand mußte Eadulf auf seinem Pferd entdeckt und Befehl zum Halten gegeben haben. Er hoffte, daß niemand von den Kriegern beschloß, mit Pfeil und Bogen auf ihn zu zielen, ehe er in Hörweite sein würde. Langsam bugsierte er sein Pferd hinunter zu den wartenden Kriegern.

»Willkommen, Brüder!« rief er in seiner Sprache und hielt fünf Meter vor ihnen an. »Was führt euch in dieses Land?«

Der Trupp stand schweigend da. Dann antwortete ihm eine angelsächsische Stimme.

»Wer bist du, daß du unsere Sprache sprichst?«

»Ich bin Eadulf von Seaxmund’s Ham aus dem Land des Südvolkes.«

»Ein Christ?«

»Ja, so ist es.«

»Wir sind Hwicce!« wurde ihm kühl geantwortet.

Eadulf spürte, wie ihn ein kalter Schauer durchfuhr. Da standen nun genau jene Leute, von denen er Fidelmaberichtet hatte. Sachsen, deren Heldentaten so legendär waren und die immer noch den alten Glauben verfochten, Wotan, den Allvater, den Herrn der Welt, anbeteten, das Oberhaupt der Rabensippe.

»Ich habe schon von den Hwicce gehört.« Eadulf brachte ein Lächeln zustande. »Die Hwicce sind in allen Königreichen der Sachsen, Angeln und Jüten bekannt. Doch die Hwicce, von denen ich gehört habe, sind ein mutiges und hochherziges Kriegsvolk, das Fremden gegenüber höflich ist - sogar christlichen Brüdern in fremden Ländern gegenüber.«

Einen Augenblick herrschte Stille. Jemand murmelte etwas einem anderen zu, dann lachte einer laut los. Eadulf versuchte, sein Unbehagen darüber zu überspielen.

»Du bist recht geschickt mit deinen Worten, Eadulf, der Christ«, sagte jemand. »Sag uns, was du hier tust.«

Eadulf beschloß, sparsam mit der Wahrheit umzugehen. »Ich reise in Begleitung zum Königreich von Kent, nach Canterbury. Vor ein paar Tagen hat ein Unwetter mein Schiff an Land gezwungen.«

»Sind dir, einem Sachsen, die Welisc nicht feindselig begegnet?« fragte überrascht jemand.

»Man hat mir auf verschiedene Weise zu verstehen gegeben, daß ich nicht erwünscht bin, doch ich habe

überlebt. In diesem Land wohnen immerhin Christen, und sie bringen niemanden ohne guten Grund um.«

»Allein Sachse zu sein genügt vielerorts meist. Zweifellos verschonen dich diese Hunde, weil du ein Christ bist, Eadulf«, erwiderte die Stimme. »Sag mir, ob du weißt, wo die feindlichen Krieger der Welisc stecken? Werden wir bald angegriffen?«

Eadulf dachte schnell nach. Was wäre hilfreicher? Die Wahrheit zu sagen oder zu lügen, daß die Krieger ganz in der Nähe seien? Er hatte das Gefühl, es sei besser, aufrichtig zu sein.

»Es sind keine Krieger in der Nähe, Hwicce. In diesem Land leben friedvolle Schäfer und Viehhirten.«

»Beschwörst du das? Schwörst du das bei dem Schwerte Wotans?«

Eadulf schüttelte den Kopf. »Ein Eid auf das Schwert Wotans bedeutet mir nichts. Doch ich werde auf das Kreuz Christi schwören.«

»Das geht in Ordnung. Schwörst du also?«

»Ja. Innerhalb eines halben Tagesritts befinden sich keine größeren Kriegstruppen der Welisc. Das schwöre ich beim heiligen Kreuz!«

Auf einen Befehl trat die Zweierreihe der Krieger auseinander. Die Schilde wurden abgesetzt, die beiden Reihen lösten sich auf, und auf Eadulf kam jener Krieger zu, der mit ihm gesprochen hatte. Der Mann stellte seinen Schild beiseite und nahm seinen Helm ab. Zu Eadulfs Überraschung handelte es sich um einen blonden jungen Mann, der sicher erst Anfang zwanzig war. Er hatte ein schönes Gesicht, das von tiefliegenden Augen beherrscht wurde, die so graublau waren, daß sie schon fast violett wirkten. Er war hochgewachsen, hatte eine muskulöse Figur und sah wie jemand aus, der im Kriegsberuf seine Bestimmung gefunden hatte. Eadulf waren die offenen, jugendlichen Züge seines Gegenübers sofort sympathisch.

»Sei gegrüßt in diesem Land der Welisc, Eadulf, der Christ.« Der junge Mann lächelte. »Ich bin Graf Osric aus dem Gefolge Eanfriths, des Königs der Hwicce.«

Eadulf stieg von seinem Pferd und lief ein paar Schritte auf den Grafen zu. »Sei gegrüßt, Osric von den Hwicce. Pax tecum!«

Osric lächelte wieder. »Ich kann kein Latein, Eadulf. Sprich Sächsisch. Ich bin kein Christ. Die Götter meiner Vorfahren sind gut genug für mich.«

»Ich wollte dich um ein quid pro quo bitten, doch da du kein Latein sprichst, werde ich es dir übersetzen: >Etwas für etwas.< Ich habe dir mitgeteilt, daß hier keine Krieger der Welisc sind. Jetzt sag du mir im Gegenzug auch etwas.«

Osric lachte vergnügt auf. »Warst du ein Händler, ehe du in die merkwürdige Bruderschaft der Christen eingetreten bist, mein Freund?«

»Ich war nach der Erbfolge gerefa, ein Friedensrichter meines Volkes«, erklärte ihm Eadulf.

»Ein Friedensrichter. Das hätte ich wissen können«, erwiderte der junge Adlige. »Gut, handeln wir miteinander. Was möchtest du von mir wissen?«

»Was führt euch an dieses Ufer? Wollt ihr den Leuten hier Schaden zufügen?«

Osric zeigte auf den Wald. »Wir sind hier, um den höchsten Baum zu fällen, den wir finden können.«

Das war eine so unerwartete Antwort, daß er ganz verdutzt dreinschaute.

Der junge Adlige lachte. »Mein FriedensrichterFreund«, sagte er, »das stimmt wirklich. Unser Schiff hat keinen Mast mehr, doch es ist uns gelungen, es in die Bucht hinter der Landspitze zu steuern.« Er winkte mit der Hand hinter sich. »Wir müssen einen neuen Mast bauen. Doch da dies hier das Land der Welisc ist, haben wir uns auf Auseinandersetzungen eingestellt.«

»Und deshalb habt ihr den Schlachtruf von euch gegeben?«

»Wir dachten, das würde die Leute so verängstigen, daß wir in Ruhe unseren Baum fällen könnten.«

Er drehte sich um und erteilte einen Befehl, woraufhin seine Männer in den nahe gelegenen Wald liefen und nach einem passenden Baum Ausschau hielten.

Einer von ihnen, offensichtlich der oberste Zimmermann, zeigte auf eine hohe, schlanke Eiche. Zwei Männer mit Äxten traten vor und machten sich an die Arbeit. Der Klang der Äxte hallte in der ganzen Umgebung wider. Sie verschwendeten keine Zeit und arbeiteten rasch und äußerst geschickt.

»War es euer Schiff, daß vor einigen Tagen an der Küste weiter unten vor Anker lag?« wollte Eadulf wissen.

Osric drehte sich amüsiert zu ihm um. »Eine weitere Frage? Ich dachte, dein lateinischer Händlerspruch bedeute Frage gegen Frage?«

»Wenn du noch etwas wissen willst, so bin ich gern bereit zu antworten«, erbot sich Eadulf. Ob nun Hwicce oder nicht, Heide oder nicht, es waren Leute aus seinem eigenen Volk, und er fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft.

»Ja, da hast du recht. Die ganze letzte Woche sind wir die Küste hoch und runter gesegelt. Wir haben ein Schiff der Welisc gejagt.«

»Habt ihr vielleicht dabei das Kloster der Welisc in der Nähe überfallen, südlich von hier?«

Osric schüttelte entschieden den Kopf. »Wir hatten Besseres zu tun.«

Von dieser Antwort war Eadulf überrascht. »Ihr wart es nicht?« erkundigte er sich noch einmal beharrlich.

»Warum fragst du? Behaupten die Welisc etwa, daß sie von uns überfallen wurden?«

»Ja, manche schon. Vor einigen Tagen hat man ein sächsisches Schiff in einer kleinen Bucht in dieser Richtung liegen sehen.« Er wies mit der Hand dorthin.

»Das war mein Schiff, die Wellenbrecher«, erwiderte Osric.

»Unweit der Stelle, wo du vor Anker gegangen bist, befindet sich das Kloster Llanpadern. Der Klostervorsteher wurde aufgehängt, und die Brüder sind verschleppt worden. Einige der Mönche hat man abgeschlachtet an den Klippen gefunden, dabei ist man auf Waffen der Hwicce gestoßen.«

»Dafür bin ich nicht verantwortlich«, erklärte Osric mit Nachdruck.

Eadulf beschloß, noch kühner mit seinen Vorwürfen zu werden. »In dem Kloster fand man auch die Leiche eines Fremden.«

Osric kniff die Augen zusammen. »Mein Friedensrichter-Freund, ich habe das Gefühl, daß du mir sagen wirst, diese Leiche sei von einiger Tragweite.«

»Es war ein Hwicce.«

Osric betrachtete ihn ernst. »Beschreibe mir den Toten.«

Eadulf tat es, woraufhin der junge Adlige einen langen, leisen Seufzer ausstieß. »Das war Thaec.«

»Wer ist Thaec?«

»Einer meiner Leute. In der Nacht, als wir in der Bucht vor Anker lagen, die du beschrieben hast, ging er mit einem anderen Krieger an Land. Beide beherrschten die Sprache der Welisc und erboten sich, die Lage zu erkunden. Doch es kehrte nur einer, Saexbald, zurück.« Unvermittelt blickte sich Osric zu seinen Kriegern um. »Saexbald! Komm her!«

Ein großer Krieger trat aus dem Trupp hervor und kam angerannt.

»Saexbald, sag dem gerefa hier, was in der Nacht geschah, als du mit Thaec an Land warst.«

Der Krieger wandte sich Eadulf zu. »Wir erkundeten das Ufer, als auf einmal aus dem Nichts eine Gruppe von Reitern vor uns auftauchte. Wir haben uns gewehrt, doch Thaec ist schnell überwältigt worden, obwohl er sich sehr darum bemühte, lieber umzukommen, als ihr Gefangener zu werden. Im Kampf bin ich von ihm getrennt worden und mußte ihn sich selbst überlassen. Mir ist es nur mit Mühe gelungen, mich aufs Schiff zu retten.«

»Thaec ist tot«, erklärte Osric dem anderen.

»So möge er mit dem Schwert in der Hand und dem Namen Wotans auf den Lippen seinen Tod gefunden haben«, erwiderte der Krieger.

»Wußtest du, wer diese Welisc waren?« fragte Eadulf.

»Es waren gewiß Krieger - jedenfalls geübte Kämpfer.«

»Hast du vielleicht irgendwelche Namen gehört, die sie sich zugerufen haben?«

»Namen? Nein. Es gab nur einen Zuruf, und der war ziemlich merkwürdig, wenn ich genau darüber nachdenke. Einer der feindlichen Krieger schien gestochen worden zu sein.«

»Gestochen?« fragte Eadulf.

»Es ging irgendwie um eine Wespe.«

Ein kleines zufriedenes Lächeln zeigte sich auf Ea-dulfs Gesicht.

Nun hörten sie ein lautes Krachen. Der Baum war gefällt. Sofort machten sich die Krieger daran, mit ihren scharfen Äxten, Äste und Rinde abzuschlagen. Osric gab Saexbald zu verstehen, daß er wieder zu seinen Gefährten zurückkehren solle.

»Haben sie den armen Thaec vor seinem Tod gefoltert?« wollte er wissen.

»Sie haben ihn nicht gefoltert. Offenbar ist er mit einem Schwerthieb in die Brust getötet worden.«

Osric rieb sich nachdenklich die Wange. »Glaubst du, daß er im Kampf starb?«

»Da bin ich mir ganz sicher. Ich weiß auch, daß er seinen Angreifer böse verletzt hat.«

»Es wäre für die Eltern gut, wenn sie erfahren, daß ihr Sohn mit dem Schwert in Händen und dem Namen Wotans auf den Lippen gestorben ist, denn so findet er Eingang in Walhall, dem Ort der Unsterblichen.«

Eadulf blickte ihn mißbilligend an. »Ich kann mich solch heidnischen Vorstellungen nicht anschließen.«

»Ein Mann von Prinzipien, gerefa? Ja, ich vermute, das bist du. Aber du hast weder etwas gesehen noch gehört, was dem zuwiderliefe, oder?«

»Nein, nichts. Doch warum hat man ihn ins Kloster geschleppt und ihn dort ermordet?«

»Willst du damit sagen, daß es nicht die Mönche waren?«

»Sie hätten ihm nie und nimmer etwas getan, es sei denn, sie hätten sich vor ihm verteidigen müssen. Es waren die Krieger der Welisc, die ihn gefangengenommen und getötet haben.«

»Ich weiß nichts über das Kloster. Wir haben in der Bucht vor Anker gelegen, weil die Nacht anbrach und wir uns in diesen Gewässern nicht auskennen.«

»Habt ihr nicht beim ersten Morgengrauen nach dem fehlenden Mann gesucht?«

»Wir geben unsere Mitmenschen nicht einfach so auf, es sei denn, wir sind dazu gezwungen. Das weißt du sehr gut. Natürlich haben wir beim ersten Licht die Suche aufgenommen. Vom Ufer aus sahen wir, daß uns ein Bauer entdeckt hatte, und da wir unseren Mann nicht fanden, stellten wir die Suche ein. Es wäre gefährlich gewesen, sie fortzusetzen, nachdem man uns bemerkt hatte, denn wir wußten nicht, wie viele feindliche Krieger sich in der Nähe aufhielten.«

»Augenblick mal«, sagte Eadulf. »Du wußtest, daß ein paar in der Nähe waren. Was war mit den Kriegern, die Thaec gefangengenommen hatten? Warum haben sie euch nicht in der Morgendämmerung angegriffen?«

Osric zuckte mit den Schultern. »Die waren alle verschwunden. Hatten Thaec mitgeschleppt und waren fort.«

»Was hast du dann unternommen?«

»Wir sind wieder in See gestochen.«

»Das fordert meine Neugier heraus. Was treibt ihr hier so fern der Heimat?«

Nun herrschte Stille, der junge Adlige betrachtete Eadulfs Gesicht genau, als suche er etwas darin.

»Ich antworte dir darauf, weil ich glaube, daß ich dir trauen kann, gerefa. Ich denke, du bist ein Mann der Prinzipien. Wir jagen ein Schiff der Welisc. Hast du von einem Herrscher gehört, der Morgan ap Arthyrs heißt? Er ist König von Gwent, einem Gebiet, das an unser Königreich grenzt.«

»Ich weiß nur wenig über die Situation in diesen Teilen der Welt«, gestand Eadulf.

»Nun, dieser Morgan ist ein Feind, der mit dem Schwert bekämpft werden muß. Er ist gerissen und skrupellos. Er regiert seit vielen Jahren Gwent.«

»Morgan?« Eadulf versuchte sich zu erinnern, wo er kürzlich diesen Namen gehört hatte.

»Wir verfolgen eines seiner Schiffe. Er hat uns auf unserer Seite des Flusses Saeferne angegriffen, der Fluß stellt unser beider Grenze dar. Wir haben Jagd auf das Schiff gemacht, doch es ist uns entwischt. Jetzt kehren wir in unser Land zurück, damit unsere Familien nicht noch mehr Krieger als Thaec und Wigar verlieren. Wigar fiel über Bord bei dem gleichen Unwetter, in dem wir auch unseren Mast einbüßten.«

Er deutete auf die Stelle, wo seine Männer den hohen Eichenstamm bearbeitet hatten. Inzwischen waren sie fertig.

»Es ist gerade nicht die beste Zeit, einen Baum zu fällen«, merkte er an und sah zum Himmel hinauf, »doch wir können uns die Jahreszeit nicht aussuchen. Solange wir damit nach Hause kommen, soll es uns recht sein.«

Eadulf nickte gedankenvoll. »Ich begreife es immer noch nicht ganz. Es gibt hier wohl häufig Überfälle von Schiffen und Verfolgungsjagden. Das verstehe ich. Aber diesem einen Schiff seid ihr ungewöhnlich lange hinterhergejagt. Warum seid ihr so versessen darauf, die Welisc zu verfolgen, Osric?«

»Du stellst eine Menge Fragen, Eadulf, der Christ«, erwiderte der junge Adlige.

»Das liegt daran, daß ich ungelöste Rätsel verabscheue«, erwiderte Eadulf energisch.

»So werde ich dir antworten. Bei ihrem Überfall haben die Welisc viele Geiseln genommen. Unter ihnen auch Aelfwynn, die zehnjährige Tochter von König Eanfrith. Deshalb setzte ich diesem Schiff von Morgan nach.«

Einer von Osrics Männern trat heran und sagte: »Wir sind fertig, mein Lord.«

»Das ist gut. Machen wir uns bereit.«

Der Mann drehte sich um und rief einen Befehl. Inzwischen hatten die Krieger den Stamm auf die langen Stiele ihrer Äxte gerollt. Nun beugten sie sich herab und luden sich ihre Last so unbeschwert auf die Schultern, als sei sie federleicht. Auf einen weiteren Befehl hin setzten sie sich im Gleichschritt in Bewegung und gingen auf den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren.

»Du kannst gern deine Reise bis zum Land der Hwicce in unserer Gesellschaft fortsetzen«, bot ihm Osric an. Dann fügte er mit einem schlauen Blick auf ihn hinzu: »Doch ich glaube, daß du andere Pläne hast.«

»So ist es«, stimmte ihm Eadulf zu. »Ich werde dafür sorgen, daß Thaec ein christliches Begräbnis erhält.«

Osric schüttelte den Kopf, als er wieder Schild und Streitaxt aufnahm. »Das würde ihn entehren. Nein, laß ihn liegen, wo er ist. Bemühe dich nicht, herauszubekommen, wo er seinen Tod fand. Seine Familie ist zufrieden, wenn sie weiß, daß er nun mit den Unsterblichen in Walhall Würfel spielt. Die alten Männer werden am abendlichen Feuer seinen Mut besingen, und die Erinnerung an ihn wird auch unsterblich werden. Das wird mehr sein, als der arme Eanfrith über seine kleine verlorene Aelfwynn sagen kann. Ein Jammer, daß ich Morgans Schiff nicht weiter zu verfolgen vermag.«

Osric hob zum Abschied die Axt über seinen Kopf. »Lebe wohl, Eadulf, der Christ, einst gerefa.«

Eadulf geriet plötzlich ein wenig in Panik. Er war sich sicher, daß Fidelma Osric noch viel mehr Fragen gestellt hätte, doch sein Kopf war leer. Er konnte nur sagen: »Gott möge dir einen günstigen Wind zur Heimreise senden, Osric von den Hwicce.« Er stand da und sah, wie die Krieger mit ihrer Last vorangingen und Osric nach ihnen den Hügel hinabschritt.

Hinter Eadulf trat nun Fidelma aus dem Wald heraus, sie führte ihr Pferd am Zügel. Er drehte sich zu ihr um. Ihr Gesicht verriet Erleichterung.

»Offenbar waren die Sachsen am Ende freundlich«, äußerte sie.

»Ihr Schiff hat den Mast verloren, sie haben einen neuen gesucht.«

»Das habe ich gesehen.« Sie lächelte. »Hast du sonst noch etwas erfahren? Du hast dich lange mit dem jungen Mann unterhalten, der vermutlich ihr Anführer war.«

»Sein Name ist Osric, und er ist ein Gefolgsadliger von Eanfrith, dem König der Hwicce.«

Ihre Augen wurden ein wenig größer. »Das waren also die Hwicce? Dann war es ...«

»Es war ihr Schiff, von dem Goff berichtet hat. Und der tote Hwicce in Llanpadern gehörte zu ihrer Truppe, ein Mann namens Thaec.«

Fidelma sagte ruhig: »Dann erzählst du mir jetzt besser ausführlich, worüber ihr gesprochen habt.«

Eadulf versuchte, sich so genau wie möglich an den Wortlaut ihres Gesprächs zu erinnern. Von Zeit zu Zeit nickte Fidelma, hin und wieder fragte sie nach. Als er fertig war, wirkte sie besorgt.

»All das gibt uns nur noch größere Rätsel auf«, sagte sie schließlich mit bedrückter Stimme.

Eadulf lächelte ein wenig bekümmert. »Die Fidelma, die ich einst kannte, hätte gesagt: Vincit quipatitur.«

Fidelmas grüngraue Augen leuchteten kurz wütend auf. »Richtig, der hat Erfolg, der beharrlich bleibt, Eadulf«, erwiderte sie. »Ich habe gar nicht gewußt, daß du dich für einen Verfechter der Beharrlichkeit hältst!«

Eadulf errötete auf ihre bissige Antwort hin. »Ich wollte nur ...«, fing er an, doch sie fiel ihm ins Wort.

»Du hast unserem Bild einen kleinen Mosaikstein hinzugefügt, doch wir wissen nicht, an welche Stelle er paßt, wenn wir unserem sächsischen Freund überhaupt trauen dürfen. Wir haben also ein Kriegsschiff der Hwicce, das ein Schiff aus Gwent verfolgt. Es ankert nachts in einer kleinen Bucht. Einer von der Besatzung, zur Erkundung an Land, wird gefangengenommen. Das Schiff segelt weiter, gibt auf. Dann wird derjenige, der auf Erkundungsgang war, in einem Sarkophag in Llanpadern gefunden, die Brust durchbohrt. Bringt uns dieses Wissen einer Erklärung näher?«

Noch nie zuvor hatte Fidelma so niedergeschlagen gewirkt und ihre Stimme so hoffnungslos geklungen.

Eadulf wollte etwas sagen, das helfen konnte, doch ihm fiel nichts ein, und er schwieg. Er hatte Sorgen ganz anderer Art. Seit sie im Land von Dyfed herumreisten, hatten sie sich immer wieder gestritten, und er begriff den Grund nicht. Was war nur aus ihrer Beziehung geworden, seit sie das Ufer von Laigin verlassen hatten?

Er hatte Fidelma überredet, ihn auf seiner Rückreise nach Canterbury zu begleiten. War er blind gewesen? War sie gegen ihren Willen mitgekommen? Schließlich hatte sie ihn in Cashel allein gelassen, um zum Grab des heiligen Jakob zu pilgern. Und er hatte sich ohne sie nach Canterbury auf den Weg gemacht. Sie war nur zurückgekehrt, um ihn vor der falschen Mordanklage zu retten. Er war ziemlich verwirrt. Da erklärte Fidelma: »Reiten wir nach Llanwnda zurück und sagen wir Gwndas Leuten, daß die Gefahr vorbei ist.«

Er unterdrückte einen Seufzer, als sie auf ihr Pferd stieg. Sie erwartete, daß er es ihr gleichtun würde. »Nein«, sagte er plötzlich. Sie blickte erstaunt zu ihm herunter.

»Nein«, wiederholte er, als er sich auf sein Pferd schwang. »Zuvor werde ich zur Landspitze reiten und prüfen, ob sie den Mast aufgerichtet und mir die Wahrheit gesagt haben und wirklich nach Süden segeln.«

Sie starrte ihn eine Weile an, dann wendete sie, ohne etwas zu erwidern, ihr Pferd, um nach Llanwnda zu reiten.

Eadulf blickte ihr nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden war. Schließlich lenkte er sein Pferd auf den Pfad, den die sächsischen Krieger genommen hatten. Als er die Landspitze erreicht hatte, von der man die kleine Bucht überblicken konnte, sah er unten auf dem Wasser das fremde Schiff. Der Hauptmast fehlte wirklich, und die Männer waren angestrengt dabei, die Taue und die Takelage vorzubereiten, damit der neue Mast aufgestellt werden konnte.

Osric und seine Krieger ruderten gerade mit dem neuen Mast auf das Schiff zu. Eadulf bewunderte die Leichtigkeit, mit der sie ihre Boote auf das lange, flache Kriegsschiff zusteuerten. Um das zu können, muß man sein Leben auf dem Meer zubringen, dachte er. Er selbst hielt sich für einen Experten der Seefahrerei. Nicht daß er jemals ein Seemann gewesen wäre, doch inzwischen war er viel auf dem Meer gereist. Viermal hatte er das große Meer zwischen Britannien und dem Land Eireann überquert; viermal war er auf seinen Pilgerfahrten nach Rom über die Meere gesegelt. Und er hatte die turbulenten Gewässer entlang der östlichen Küste von Britannien kennengelernt, um im Jahre 664 zum großen Konzil von Whitby zu gelangen.

Eadulf mochte das Meer, und doch hatte er jedesmal auch Furcht davor. War Furcht das richtige Wort? Nein, er hatte Respekt vor dem Meer. Es war grausam und kannte keine Gnade. Doch was wären die Menschen ohne das Meer? Es war wie eine große Straße, die die Völker miteinander verband. Ohne das Meer wären sie voneinander isoliert. Doch das Meer war auch tückisch und hinterhältig, es wartete ab, lag auf der Lauer wie ein Mörder in einer dunklen Nacht, um in einem unerwarteten Augenblick zuzuschlagen.

Seufzend verscheuchte Eadulf seine Gedanken. Er saß ab, band sein Pferd fest, setzte sich auf einen Fels, von dem er den Kriegern beim Klarmachen des Schiffs zusehen konnte. Die späte Herbstsonne schien lauwarm vom wolkenlosen Himmel herab. Zum erstenmal seit vielen Tagen hatte Eadulf das Gefühl, daß er sich entspannen und über seine Sorgen nachdenken konnte.

Fidelma.

Warum kamen sie so schlecht miteinander aus in den letzten Tagen? Was hatte ihn einst ein Weiser des Südvolks gelehrt? Niemand kann einen anderen verstehen, wenn er sich nicht selbst treu bleibt und den freien Willen des anderen respektiert. Nun, er hatte einst geglaubt, daß er Fidelma verstand. Doch jetzt mußte er zugeben, daß es leichter war, sieben Sprachen zu beherrschen, als diese Frau zu verstehen.

Er hörte in der Ferne jemanden rufen, schreckte aus seinen Gedanken auf und schaute in die Bucht hinunter, dann blickte er zur nördlichen Landzunge. Er sah ein zweites Schiff, das mit vollen Segeln in die Bucht einfuhr. Es war ein schneidiges Kriegsschiff, und auf den straffen Segeln prangte ein riesiger roter Drache.

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