Kapitel 7

Es war ein heller frischer Herbsttag. Der Himmel war hellblau, keine Wolken verhingen die frühmorgendliche Sonne. Fidelma und Eadulf hatten sich von Bruder Meurig und Gwnda, dem Fürsten von Pen Caer, verabschiedet und sich südwestwärts zu dem fern gelegenen Berg Carn Gelli aufgemacht. Die Landschaft war von Moorland und felsigem Gelände geprägt, von abgeschiedenem Ackerland, das von bewaldeten Tälern umgeben war, in die kleine, aus den umliegenden Bergen kommende Bäche strömten.

Diese Landschaft atmete graue Vorzeit; man konnte viele Hügelgräber, Steinkreise, aufrecht stehende Steine und verlassene Befestigungen entdecken. Inmitten des Stechginsters und verschiedener Farn- und Heidekrautarten blühten Wildblumen. Zur Zeit sah man nur hier und da ein paar Streifen Silberweiß - Hirtentäschel und weiße Taubnessel, die sich wohltuend von dem Grün ihrer Umgebung abhoben. Sonst schien die Natur sich schon ihr trübes, beinah farbloses Winterkleid überzustreifen.

Hoch über ihnen zog ein Turmfalke müßig seine weiten Kreise. Seine wachsamen Augen hielten nach Beute unter dem bräunlichen Farndickicht und dem immergrünen Stechginster Ausschau. Da blitzte es unter den Büschen rotbraun auf, als ein Fuchs sich rasch in Sicherheit brachte, und das eher aus Gewohnheit als aus Angst vor dem Turmfalken, denn der Fuchs war viel zu groß, als daß er ihn hätte fürchten müssen. Der Raubvogel hatte es eher auf Mäuse, Wühlmäuse und Erdhörnchen abgesehen.

Während sie den Weg entlangritten, waren Fidelma und Eadulf seit vielen Tagen zum erstenmal wieder allein.

»Du machst dir Sorgen um den Jungen, um Idwal, nicht wahr?« fragte Eadulf schließlich und setzte so dem Schweigen ein Ende.

Sie blickte ihn an und lächelte kurz. »Du bist ein guter Beobachter.«

»Glaubst du, daß er unschuldig ist?«

»Ich glaube, daß es noch viele offene Fragen gibt«, antwortete Fidelma nachdenklich.

»Ich nehme an, du hättest den Fall gern übernommen«, stellte Eadulf fest.

»Wie der heilige Ambrosius schon sagte: Quando hic sum, non ieiunio Sabbato.«

Eadulf runzelte die Stirn. »Du meinst ...«

»Ich meine, daß ich die hiesigen Gesetze und Bräuche einhalte. Ich habe nicht das Recht, einem Richter dieses Landes etwas vorzuschreiben. Ich habe nicht den Wunsch, für Bruder Meurig Ermittlungen anzustellen.«

Noch während Fidelma das sagte, wurde ihr zu ihrem Ärgernis bewußt, daß es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie errötete und hoffte, Eadulf würde es nicht merken.

»Bruder Meurig scheint mir kompetent genug zu sein.«

»So lange er die richtigen Fragen stellt, kann der Fall rasch abgeschlossen werden. Niemand kann ihm vorschreiben, wie er die Antworten zu bewerten hat. Wir müssen uns auf unseren Auftrag konzentrieren. Je eher wir ihn erledigen, desto früher können wir nach Canterbury Weiterreisen.«

Nun schwiegen beide.

Der Weg von Llanwnda zum Kloster Llanpadern war angenehm, sie mußten kaum mehr als drei Meilen zurücklegen. Bald konnten sie den gesamten Klosterkomplex am Fuße des Berges erkennen, den Bruder Meurig Carn Gelli genannt hatte. Alles wirkte wie ausgestorben; auch wenn Fidelma nicht gewußt hätte, daß die Klostergemeinschaft verschwunden war, so hätte sie schon allein anhand der Atmosphäre, die hier herrschte, gemerkt, daß etwas nicht in Ordnung war. Jene unerklärliche Aura der Einsamkeit hatte etwas Bedrohliches. Fidelma hatte ein feines Gespür für die Ausstrahlung, die von Dingen ausging. Vielleicht war genau das der Grund für ihren Erfolg. Sie hatte die Gabe, zu erkennen, wann jemand log. Und deshalb fühlte sie sich ein wenig schuldig. Sie hätte gern Mairs Fall übernommen, denn sie spürte, daß Idwal die Wahrheit gesagt hatte.

Sie ritten weiter auf das Kloster zu. Als sie am Tor angelangt waren, beugte sich Eadulf nach vorn und stieß mit der Hand dagegen. Die Torflügel waren von der Innenseite her nicht gesichert und öffneten sich. Der Klosterhof lag da wie leergefegt. Eadulf brachte sein Pferd zum Stehen. Sofort fiel ihm der riesige Holzstoß ins Auge, der offensichtlich für ein großes Feuer aufgeschichtet worden war. Fidelma lenkte ihr Pferd zu einem Pflock, stieg ab und band die Zügel daran fest.

Ungewollt überkam Eadulf ein Zittern, als sein Blick über die Gebäude schweifte. Fidelma bemerkte seine Angst, sagte aber nichts. Dinge, die nicht offen sichtbar waren, erweckten keine Furcht in ihr. Nur Dinge, die wirklich existierten, materiell und körperlich, waren gefährlich. Sie wartete, bis sich Eadulf vom Pferd geschwungen hatte, ehe sie langsam zum Tor zurückschritt. Den Blick hielt sie dabei auf den Boden gerichtet. Eadulf folgte ihr. Sie schaute zu ihm auf.

»Hier sind zu viele Spuren. Sie deuten auf ein großes Kommen und Gehen hin, und außerdem hat es in den letzten Tagen geregnet, so daß alles verwischt ist, was uns an dieser Stelle über die Vorgänge hier aufklären könnte.«

»Du traust wohl Bruder Cyngar nicht? Er hat doch auch genau hier nach einem Hinweis gesucht, wie die Mönche das Kloster verlassen haben könnten«, sagte Eadulf.

»Ich nehme an, daß seine Aussage von seinem Standpunkt aus stimmt. Aber es ist immer gut, zu überprüfen, ob sie mit deinen eigenen Erkenntnissen übereinstimmt. Hier werden wir nichts finden. Siehst du den Weg, den wir von Llanwnda gekommen sind? Und siehst du den Weg Richtung Westen? Beide sind ziemlich steinig. Wir werden auf beiden kaum Spuren entdecken.«

Sie schlossen die hohen Torflügel wieder und betrachteten nachdenklich die Gebäude.

»Wenn das Kloster wirklich von plündernden Angelsachsen heimgesucht wurde«, sagte Eadulf, der wohl Fidelmas Gedanken lesen konnte, »so haben sie sich recht anständig verhalten, alles sauber und unversehrt gelassen. Nichts zerstört, nichts verbrannt, keine Leichen .«

»Dewi, der Junge aus dem Nachbarort, sagte aber, daß man am Strand, wo das Schiff der Angelsachsen vor Anker gegangen sein soll, Tote gefunden hätte«, entgegnete Fidelma. »Nun, wo wollen wir anfangen? Irgendwo muß es einen Hinweis darauf geben, was hier passiert ist.«

Eadulf schien nicht davon überzeugt. »Was ist eigentlich, wenn das, was hier vorgefallen ist, unerklärlich ist?« murmelte er.

Fidelma lachte leise. »Omne ignotum pro magnifico est

Eadulf erkannte die Zeile aus Agricola von Tacitus. Er hatte sie häufig gehört: immer wenn seine Mentoren sich über seine angelsächsische Abergläubigkeit lustig gemacht hatten. »Alles Unbekannte wird für großartig gehalten.« Oft wurde diese Zeile verwendet, um zu betonen, daß man etwas Unbekanntes für übernatürlich hielt, obwohl man es, sobald die genaueren Umstände bekannt waren, leicht erklären konnte. Er fühlte sich durch Fidelmas Bemerkung verletzt, denn sie zielte wohl auch auf seine sächsische Herkunft ab. Er erwiderte nichts.

Fidelma ging bereits auf eine Tür zu, die offenbar zu den Schlafsälen der Klosterbrüder führte, und öffnete sie.

Sie warfen zunächst nur einen flüchtigen Blick hinein und fanden, wie Bruder Cyngar zuvor, die Betten ordentlich und sauber vor. Das gleiche traf auch auf die Zelle des Klostervorstehers zu.

Als sie das düstere und verlassene Refektorium betraten, wurde Eadulf von dem Gestank verdorbener Essensreste beinahe schlecht. Auf den Tischen faulten die Speisen vor sich hin.

»Müssen wir hier rein?« fragte er leise und hielt sich die Nase zu, während Fidelma entschlossen weiter hineinging.

Sie blickte ihn tadelnd an. »Wenn wir hinter das Geheimnis kommen wollen, müssen wir in der Lage sein, alles zu untersuchen, damit uns auch nicht das kleinste Detail entgeht.«

Widerwillig folgte Eadulf Fidelma, die langsam zwischen den Tischen entlangschritt, auf denen die Überreste des letzten Mahls der Klostergemeinschaft von Llanpadern standen. Es war deutlich, daß sich, nachdem die Mönche fort waren, noch jemand über die Speisen auf den Tischen hergemacht hatte. In das verschimmelte Brot und den verfaulten Käse hatten sich die scharfen Zähne von Nagetieren gebohrt. Doch Fidelma richtete ihr Augenmerk auf etwas anderes.

Sie untersuchte die Messer und Löffel, die meist sorgfältig zur Seite gelegt worden waren. Ein Messer steckte immer noch in einem Brotlaib. Auf der Erde entdeckte sie ein Fleischmesser. Dort lag außerdem eine Platte, auf der sich, den Resten nach zu urteilen, ein Bratenstück befunden haben mußte. Jemand hatte die Platte vom Tisch gestoßen und dabei noch andere gefüllte Teller mitgerissen. Fidelmas scharfes Auge bemerkte in einiger Entfernung einen Schulterknochen. Dann schweifte ihr Blick wieder zu dem Messer zurück. Dessen leicht rostige Schneide war verfärbt, es war getrocknetes Blut daran.

Fidelma bückte sich, hob das Messer auf und betrachtete es eingehend. Wenn das bei Tisch gereichte Fleisch nicht besonders roh gewesen war, mußte das Blut von woanders herstammen. Aber woher?

»Eadulf, kannst du eine Kerze holen und sie anzünden?«

Trotz des hellen Tageslichts draußen war es im Refektorium ziemlich dunkel.

Eadulf sah sich um. Von den Kerzen waren nur kleine Talghäufchen geblieben. Bruder Cyngar hatte ihnen berichtet, daß die Kerzen, zumindest die meisten, bei seinem Eintreffen im Kloster noch gebrannt hatten. Da entdeckte Eadulf eine Kerze, die aus ihrem Ständer gekippt war. Er griff nach seiner Zunderbüchse, die er stets bei sich trug: eine kleine runde Metallbüchse, ungefähr sieben Zentimeter im Durchmesser. Darin befand sich unter anderem anstelle von Holzspänen ein angekohltes Stück Leinen, denn seiner Ansicht nach ließ sich Leinen leichter entzünden als Holz.

Mit der linken Hand nahm er ein Stück Metall aus der Büchse und hielt dessen glatte Kante an das Leinen. Dann wetzte er mit der rechten Hand den Feuerstein an dem Metallstück. Winzig kleine Funken sprühten auf den Stoff, der sofort Feuer fing. Nun hielt er einen getrockneten Rohrkolben, den er in Schwefel getränkt hatte, an das qualmende Leinen. Der Rohrkolben erglühte. Jetzt konnte er die Kerze anzünden und sie zu Fidelma hinübertragen.

Der ganze Vorgang hatte ein wenig Zeit in Anspruch genommen, doch Fidelma hatte geduldig gewartet. Es war ihr nichts anderes übriggeblieben, denn alle Kerzen waren natürlich inzwischen erloschen. Gewöhnlich fand man immer irgendwo eine Laterne oder ein Feuer vor und konnte sich den langwierigen Prozeß des Feuerschlagens sparen.

Dank des hellen Scheins der Kerze war Fidelma nun in der Lage, die Messerklinge genauer zu untersuchen. Sie holte tief Luft.

»Was hast du?« wollte Eadulf wissen.

»Hier wurde offenbar eine Menge Blut vergossen. Soviel Blut kann nicht vom Schneiden des Bratens stammen. Jemand wurde damit erstochen.« Sie zeigte auf das Messer in ihrer Hand.

Plötzlich verstummten sie, denn aus dem dunklen hinteren Teil des Refektoriums war ein Geräusch zu ihnen gedrungen, ein leises Knurren. Langsam wandte Eadulf seinen Kopf in die Richtung.

Zwei Augen glühten ihm wie Kohlenstückchen entgegen. Er konnte nur einen dunklen, runden Kopf erkennen.

Das Knurren wurde lauter.

Eadulf lehnte sich vorsichtig gegen einen der Tische und tastete nach einer Waffe. Er ließ den Blick nicht von den höllenfarbenen glühenden Augen. Die Kreatur schien sich in die Ecke zu verkriechen und jede Bewegung der beiden Eindringlinge zu verfolgen. Nun setzte sie zum Sprung an. Eadulf spürte förmlich, daß Fidelma sich ganz ruhig zu verhalten versuchte. Da stießen seine Finger auf eine runde Metallscheibe. Er hob sie hoch und balancierte sie wie einen Diskus in der Hand.

Just in diesem Moment sprang etwas mit einem fürchterlichen Kreischen nach vorn direkt auf Fidelmas Kopf zu.

»Runter!« schrie Eadulf und schleuderte die Metallscheibe. Es war fast ein perfekter Wurf. Mitten in der Luft traf die Scheibe den springenden Schatten. Ein gellender Schrei erscholl, furchtbarer als der erste. Das Ungetüm schien sich zu drehen, mitten im Sprung seine Richtung zu ändern.

In dem grauen Licht des Fensters, gegen das es nun mit voller Wucht prallte, konnten sie kurzzeitig die Umrisse einer riesigen Katze erkennen. Sie war schwarz und gelbgrau gestreift und mehr als einen Meter lang. Sie fiel auf das Fensterbrett, verharrte dort kurz, sprang mit einem Fauchen durch eine Öffnung und war verschwunden.

Eadulf wandte sich Fidelma zu. Sie stand zitternd an einen Tisch gelehnt.

»Was war das?« fragte sie und versuchte, ihre Haltung wiederzugewinnen.

»Eine Wildkatze.« Eadulfs Stimme klang erleichtert. »Es kommt selten vor, daß sie Menschen angreifen. Normalerweise ernähren sie sich von Kaninchen, Hasen und kleinen Nagetieren. Sicher fühlte sie sich in die Enge getrieben.«

Fidelma schüttelte ungläubig den Kopf. »Doch ihre Größe ... Ich weiß, daß es wilde Katzen gibt, aber ...«

Eadulf lächelte, konnte er doch endlich mal ihr gegenüber ein wenig großspurig tun.

»Es handelt sich nicht um eine Hauskatze, die verwildert ist. Diese Katzen hier gehören zu einer anderen Art, sie sind von Natur aus größer, und sie sind gefährlicher, wenn sie in Bedrängnis geraten. Nur selten wagen sie sich aus den Wäldern heraus. Sie sind eher Jäger als Aasfresser. Gibt es in den fünf Königreichen keine Wildkatzen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wildlebende Katzen gibt es schon, aber nicht solche Monstren wie diese.«

»Sie ist sicher hier eingedrungen, weil sie Nager jagen wollte. Hier wimmelt es nur so davon«, sagte Eadulf beinah ausgelassen.

Vor erklärbaren Bedrohungen hatte er keine Angst.

Doch vor allem Übernatürlichem fürchtete er sich wie ein kleines Kind. Innerlich mußte Fidelma lächeln. Bei ihr verhielt es sich genau umgekehrt. Was hatte ihr Mentor Brehon Morann immer gesagt? Die Natur schafft merkwürdige Dinge.

»Wollen wir hoffen, daß uns nicht noch mehr solche Ungeheuer über den Weg laufen«, sagte sie. »Eadulf, halte noch einmal die Kerze hierher.«

Erneut inspizierte Fidelma aufmerksam das getrocknete Blut.

»Ich bin mir sicher, daß jemand mit diesem Messer erstochen worden ist und hier viel Blut verloren hat.«

Sie bat Eadulf, mit der Kerze über den Fußboden zu leuchten. Dann holte sie zufrieden Luft.

»Eine Blutspur. Wir wollen mal sehen, wo sie hinführt.«

Sie folgten den vereinzelten Blutstropfen aus dem Refektorium hinaus. Das war nicht gerade einfach, denn zwischen den wenigen Flecken lagen große Abstände. Fidelma mußte lange nach dem nächsten suchen, um der Fährte nachzugehen.

Auf einmal waren sie in der Kapelle angelangt.

»Ich schätze, daß die Spur zum Sarkophag dort führt.« Fidelma blieb stehen. Auch in der Kapelle war es finster. In ihrem Mittelgang, direkt vor dem Hauptaltar, stand ein Steinsarg. Er war schön geformt und aus einem blaugrauen grobkörnigen Felsgestein gehauen, so viel konnten sie mit Hilfe von Eadulfs Kerze erkennen. Der längliche Sarg erhob sich ungefähr einen Meter über den Steinboden, an Kopf- und Fußseite befanden sich winzige Säulen. Oben auf dem Sarg war in lateinischer Sprache zu lesen: Hic iacit Paternus.

»Das Grab des heiligen Padern, Gründer dieses Klosters«, murmelte Fidelma. »Auch hier gibt es Blutspuren.« Sie zeigte auf den Sargdeckel.

Eadulf sah, daß sie recht hatte. Auf den Steinplatten und an der Seite des Sarges waren Blutspritzer. Fragend blickte er Fidelma an.

»Ich schätze, wir müssen hineinschauen, was?«

Fidelma ließ sich nicht zu einer Antwort herbei. Sie untersuchte den Deckel des Sarkophags. »Ich glaube, man kann ihn seitlich aufschieben«, erklärte sie. »Sieh doch mal nach, wo der Stein besonders glatt ist.«

Widerstrebend nickte Eadulf. Er stellte die Kerze ab und packte mit beiden Händen den Grabdeckel an, um zu prüfen, ob er sich bewegen ließ. Zu seiner Überraschung ging das ganz leicht. Zufrieden blickte er auf.

Fidelma nickte rasch.

Eadulf packte noch einmal zu. Die Steinplatte ließ sich mühelos zur Seite schieben.

Sofort stieg ihm Verwesungsgestank in die Nase. Doch er konnte ihn besser ertragen als den Geruch der faulenden Speisen im Refektorium.

Fidelma spähte neugierig in den Sarkophag. Eadulf hielt sich ein wenig abseits, tat es ihr dann aber gleich.

Auf den Überresten eines zerfallenden Skeletts und eines vermodernden Leichentuches lag ein frischer Leichnam. Man hatte den Eindruck, daß er einfach nur unsanft hineingestoßen worden war, ohne Ritual, ja selbst ohne das sonst übliche Totenhemd. Es handelte sich um die Leiche eines Mannes, der dem Anschein nach erst seit zwei, drei Tagen tot war. Er lag auf dem Rücken. Die dunklen Flecken auf seiner Brust verrieten, wie er zu Tode gekommen war: Man hatte mehrmals auf ihn eingestochen.

Entsetzen hatte Eadulf ergriffen. »Das ist kein Mönch«, stellte er fest.

Der Mann war untersetzt und muskulös, er hatte einen Vollbart und dunkle Haare. Seine Haut war dunkel, seine Statur ganz anders als die jener Britan-nier, die Fidelma bisher gesehen hatte. Seine Kleider bestanden aus einem ärmellosen Lederwams und lederbesetzten Hosen, die bis zu den Knien hochgerollt waren. Beine und Füße waren nackt. Er trug Armreifen aus Bronze und Kupfer, auf denen sich merkwürdige Muster befanden. Auf seinem Halsreif war ein Symbol, das einem Blitz ähnelte. Um die Taille hatte er einen Gürtel, an dem eine leere Schwertscheide hing.

Eadulf pfiff leise durch die Zähne, was er sonst nie tat.

Fidelma betrachtete ihn überrascht. Nicht nur das Pfeifen war untypisch für ihn, sondern es kam auch äußerst selten vor, daß sich Eadulf in einer Kirche nicht ehrerbietig verhielt.

»Was ist das für ein Mann?« fragte sie bestürzt.

»Ein Hwicce.«

Fidelma sah Eadulf verwirrt an.

»Die Symbole auf seinen Armreifen weisen darauf hin, daß er ein Krieger der Hwicce ist«, erklärte Eadulf.

»Jetzt bin ich nicht wesentlich klüger als zuvor, Eadulf. Ein Hwicce, sagst du? Was ist das?«

»Die Hwicce bewohnen ein Kleinkönigreich in Mercia, das an die britannischen Königreiche Gwent und Dumnonia grenzt. Die Hwicce sind eine Mischung aus Angeln und Sachsen, ein finsteres Kriegsvolk, das noch nicht zum christlichen Glauben übergetreten ist und von selbstgewählten Königen regiert wird. Kürzlich erfuhr ich, daß Eanfrith ihr Herrscher ist. Als der heidnische Herrscher von Mercia, Penda, noch am Leben war, haben sie ihn unterstützt. Für christliche Tugenden hatte er nichts übrig.«

»Also stimmt es, was man Gwnda berichtet hat«, sagte Fidelma nachdenklich. »Es sieht aus, als hätten Angelsachsen das Kloster überfallen und die Mönche als Geiseln mitgenommen.«

Eadulf neigte sich vor. Er zeigte auf den Halsreif des Mannes mit dem darauf eingravierten Blitz.

»Das ist das Symbol von Thunor, unserem heidnischen Gott der Blitze.«

»Mir ist noch etwas nicht klar. Man hat den angelsächsischen Krieger in den Sarkophag des heiligen Pa-dern geworfen. Dem Anschein nach hat man ihn im Refektorium mit einem Messer erstochen, mit dem man während des Essens das Fleisch geschnitten hat. Wenn das während des Überfalls der Angelsachsen geschehen ist, warum hat man ihn hierhergetragen und in diesen Sarg gelegt? Warum haben ihn seine Gefährten nicht mitgenommen?«

Eadulf runzelte die Stirn. »Normalerweise hätten sie das getan«, pflichtete er ihr bei. »Die Hwicce im besonderen halten nichts davon, ihre Toten den Feinden zu überlassen, wenn sie es verhindern können. Sie hätten ihn mitgenommen und auf See bestattet. Die Hwicce werden in allen angelsächsischen Königreichen immer noch voller Ehrerbietung betrachtet.«

Fidelma sah ihn neugierig an. »Warum?«

»Sie befolgen die alten Riten. Die Riten von Frigg und Tiw werden von vielen Opferhandlungen und anderen finsteren Dingen begleitet.«

»Kein Grund, ihnen gegenüber ehrerbietig zu sein«, erwiderte Fidelma spöttisch.

»Es liegt vielleicht daran, daß sie Grenzbewohner sind. Immer noch gelingt es ihnen, ihr kleines Reich vor den vereinnahmenden Übergriffen der Britannier zu schützen, die den Vorstößen der Angeln und Sachsen ausgesprochen feindselig begegneten. Sie haben sich ihren Glauben an die ursprünglichen Götter ihres Volkes bewahrt. Ihre Könige nehmen wie in alten Zeiten für sich in Anspruch, von Wotan abzustammen, dem obersten aller Götter.« Eadulf zögerte.

»Und?« fragte Fidelma. Das klang nicht gerade ermutigend.

»Obwohl sich der christliche Glaube immer mehr ausgebreitet hat, behaupten alle unsere Könige von West Saxon bis Bernicia, in direkter Nachfolge Wotans zu stehen.«

Zynisch spitzte Fidelma nun die Lippen. »Zumindest muß mein Volk nicht behaupten, von irgendwelchen Göttern oder Göttinnen abzustammen, um einen Führungsanspruch durchzusetzen und Gehorsam zu erwirken.«

Eadulf errötete leicht. Der Logik nach hatte Fidelmarecht, dennoch spürte er, daß sie damit seine eigene Geschichte und Herkunft schmähte. Er beschloß, das Thema zu wechseln.

»Warum sollten die Hwicce eine so verlassene Küste überfallen? Wir befinden uns hier gut zweihundert Meilen von ihrem Königreich entfernt. Warum sollten sie ausgerechnet hier plündern? Warum sollten sie den Ort so sauber und ordentlich verlassen und warum einen ihrer Männer in jenen christlichen Sarkophag legen?«

»Das müssen wir eben herausfinden. Wir lassen vorerst unseren heidnischen Freund dort liegen. Verfolgen wir weiter alle Spuren, ehe wir nach - wie hieß der Ort, an dem der Beschreibung Dewis nach die Angelsachsen mehrere Mönche getötet haben sollen?«

»Llanferran.«

»Richtig, nach Llanferran reiten.«

Eadulf seufzte tief. »Mit scheint nichts davon auch nur in Ansätzen Sinn zu haben. Eine unlogische Erklärung jagt die andere.«

»Betrachtet man alle Möglichkeiten, so steckt in der vernünftigsten Erklärung die Antwort«, versicherte ihm Fidelma. »Die meisten Dinge wirken unlogisch, bis man genug weiß und begreift, was sich hinter ih-nen verbirgt. Komm, mal sehen, was wir sonst hier noch entdecken.«

Fidelma half Eadulf dabei, den Sargdeckel wieder zuzuschieben. Sie wollten die Kapelle schon verlassen, da fiel ihr etwas auf. Sie starrte auf den Altar.

»Das hätten wir beinah übersehen«, sagte sie und deutete mit einem Nicken in seine Richtung.

Eadulf blickte auf den leeren Altar und runzelte die Stirn. »Was denn?« fragte er.

Fidelma seufzte ungeduldig. »Komm schon, das sollte dir aber auffallen. Sieh hin, ganz genau.«

Eadulf betrachtete den Altar eingehend. »Da ist nichts«, widersprach er.

»Nichts«, sagte Fidelma. »Eben darum geht es.«

Eadulf wollte zu einer weiteren Frage ansetzen, da ging ihm ein Licht auf. »Da ist ja kein Kruzifix mehr. Keine Altarkerzen, keine Heiligenbilder.«

»Stimmt. Genauso, wie es nach einer Plünderung aussehen sollte, alle kostbaren Dinge fort.«

Beim Verlassen der Kapelle entdeckten sie hinter der Kapellentür noch eine Strohpuppe.

Fidelma betrachtete sie nachdenklich. Da warf Eadulf ein: »Ich verstehe nicht, warum die Hwicce ein Kloster überfallen sollten. Die fehlenden Heiligenbilder und die anderen sakralen Gegenstände hier waren doch nicht ungewöhnlich kostbar, oder?«

»Euer Volk hält sich doch Sklaven, nicht wahr? Vielleicht geht es eher um den Verkauf der Mönche als Sklaven und den Erlös daraus.«

Jetzt waren sie wieder am Dormitorium angelangt.

Sie schauten es sich gründlich an. Schon nach wenigen Augenblicken hatten sie festgestellt, daß von den persönlichen Habseligkeiten der Mönche nichts fehlte. Toilettenartikel, ein Brevier und andere Dinge lagen neben den einzelnen Betten.

In der Zelle, die offensichtlich für den Klostervorsteher bestimmt war, fiel Fidelma im Alkoven ein eisenbeschlagenes Kästchen auf, ein Kästchen, in dem man sonst immer kleine Kostbarkeiten aufbewahrte. Doch dieses hier war leer. Auch hier gab es kein Kruzifix, wie Fidelma bemerkte. Gewöhnlich befand sich in der Zelle eines Klostervorstehers immer ein kostbares Kruzifix. Ein heller Fleck an der Wand ließ erkennen, daß hier noch bis vor kurzem eines gehangen hatte.

Auf einem Regal standen die persönlichen Habseligkeiten des Klostervorstehers, außerdem ein paar Bücher in griechischer, lateinischer und hebräischer Sprache, die darauf hinwiesen, daß Pater Clidro gebildet war. Ein Band lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Ein metallener Seitenhalter zeigte sogar die Stelle an, die er als letztes gelesen hatte.

»Das ist wirklich seltsam«, bemerkte Eadulf.

»Das kann man wohl sagen«, stimmte ihm Fidelma zu, »doch sicher nicht in der Weise, als daß hier die Mächte der Finsternis am Werk gewesen sein sollen.«

»Wir haben alle Gebäude durchforscht und sollten uns nun nach Llanferran aufmachen. Unsere Pferde sind unruhig.«

Als Echo konnten sie das Wiehern der Tiere hören, die draußen angebunden waren.

»Dabei fällt mir ein, daß wir uns die Ställe noch nicht angesehen haben«, erwiderte Fidelma. »Das müssen wir noch tun.«

Eadulf verzog das Gesicht. »Wir wissen doch, daß dort nichts weiter ist. Bruder Cyngar war schon dort. Das hat er uns erzählt.«

»Er hat uns auch erzählt, daß er sich alles im Kloster angeschaut und nichts gefunden hätte. Trotzdem haben wir so manches entdeckt.«

Eadulf nickte. Sie hatte recht. Natürlich.

Sie verließen das Dormitorium. »Offenbar hat der Wind inzwischen die Tore aufgestoßen«, bemerkte Eadulf.

»Laß gut sein«, erwiderte Fidelma. »Wir werden nicht lange brauchen, um uns dort umzusehen.«

Bruder Cyngars Bericht bestätigte sich. Alles war leer. Das ganze Vieh fort. Doch Fidelma bestand darauf, jeden Winkel genau zu untersuchen, selbst das kleinste Detail war wichtig. Von den Ställen gingen sie zu der großen Scheune, die sich dahinter befand. Daneben gab es eine Schmiede. Die große Kohlenpfanne war erkaltet und voller grauer Asche. Es war schon eine Weile her, daß ein Feuer in ihr gelodert hatte. Die Scheunentore standen offen. Fidelma blickte hinein. Cyngar hatte gesagt, er sei zur Scheune gegangen, hätte hineingeschaut und dort nichts Besonderes bemerkt.

»Bruder Cyngar erzählte, im Kloster wurden nur zwei Maultiere gehalten. Warum gibt es dann in der Scheune so viele Boxen?« wollte Eadulf wissen.

»Für die Pferde der Gäste«, erwiderte Fidelma. »Das Kloster beherbergte Reisende und Pilger, die auf der Durchreise waren. Die konnten hier ihre Pferde unterstellen.«

Sie trat in die Scheune und besah sich jede einzelne Box. Als sie am Ende der Reihe zu ihrer Linken angelangt war, fiel ihr etwas auf. Ihre Augen wanderten rasch nach oben, ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Eadulf stand noch immer am Eingang. Fidelma starrte gebannt auf etwas, das sich genau über seinem Kopf befand.

»Was ist los?« fragte er und dachte schon, die Wildkatze hätte sich wieder angeschlichen.

»Ich glaube, wir haben Pater Clidro gefunden«, sagte sie leise.

Rasch lief Eadulf einige Schritte in die Scheune hinein, drehte sich um und schaute ebenfalls nach oben.

An einem der Hauptträgerbalken des Daches war an einem Seil ein Flaschenzug angebracht. Ein weiteres Seil verlief von einem anderen Stützbalken zum Flaschenzug und war dort durchgezogen. Am Seilende baumelte ein älterer Mann.

Er trug die Tonsur des heiligen Johannes und eine dunkle Kutte, die ihn als einen ranghohen Mönch innerhalb der Klostergemeinschaft auswies. Die Kutte war jedoch zerrissen und voller Blut. Der Kopf des Mannes hing so, daß man daraus schließen konnte, daß das Seil ihm das Genick gebrochen hatte.

Eadulf fiel auf die Knie.

»Hol ihn runter«, sagte Fidelma leise.

Eadulf lockerte das Seil und ließ den Körper sanft auf den strohbedeckten Boden gleiten. Zu ihrer Überraschung war der Mann offenbar noch nicht lange tot.

»Ich denke, er wurde ausgepeitscht, ehe man ihn aufhängte«, murmelte Eadulf. »Als ich ihn herabließ, habe ich Risse auf der Rückseite seiner Kutte bemerkt.«

Mit Eadulfs Hilfe rollte Fidelma den Toten auf den Bauch. »Er hat ziemlich viele Peitschenhiebe erhalten«, bestätigte sie Eadulfs Vermutung. »Wer tut einem alten Mann so etwas an?«

»Glaubst du wirklich, daß das Pater Clidro ist? Und wenn er es ist, warum hat man ihn nicht umgebracht, als das Kloster überfallen und geplündert wurde? Sieh nur, das Blut ist noch ziemlich frisch. Ich würde sagen, er ist höchstens einen Tag tot.«

»Wir wissen zwar nicht genau, ob es sich wirklich um Pater Clidro handelt, aber alles spricht dafür. Dieser Mann muß dem Kloster hier angehört haben, und er trägt die Kutte eines ranghohen Bruders ...« Fidelmas Stimme erstarb. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und blickte wie gebannt an Eadulf vorbei.

Schnell wandte er sich um.

Am Eingang der Scheune standen drei Männer. Der Mann in der Mitte hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Seine beiden Begleiter hielten Bögen in den Händen. Die Bögen waren gespannt, die Pfeile schußbereit. Sie zielten auf Fidelma und ihn.

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