Historische Anmerkung

Die Kriminalromane um Schwester Fidelma spielen in der Mitte des siebenten Jahrhunderts und sind hauptsächlich in Irland angesiedelt.

Fidelma und ihr Begleiter, der angelsächsische Bruder Eadulf, mit dem sie gewöhnlich ihre abenteuerlichen Reisen antritt, sind unterwegs nach Canterbury, dem Sitz der obersten Gerichtsbarkeit aller angelsächsischen Königreiche. Auf der Überfahrt werden sie von einem Sturm mit ihrem Schiff an Land gezwungen und kommen so an die Küste des Königreiches Dyfed, im Südwesten des heutigen Wales.

Schwester Fidelma ist nicht nur eine Nonne, die einst der Gemeinschaft der heiligen Brigitta von Kildare angehörte. Sie ist auch eine anerkannte dalaigh, eine Anwältin an den Gerichten des alten Irland. Da dieser Hintergrund nicht allen Lesern vertraut sein mag, soll dieses Vorwort einige wesentliche Dinge erläutern und damit zu einem besseren Verständnis der Vorgänge beitragen.

Das damalige Irland bestand aus fünf Hauptprovinzen, in denen Könige herrschten. Selbst das heutige

irische Wort für Provinz lautet cüige, wörtlich: ein Fünftel. Vier dieser Provinzkönige - von Ulaidh (Ulster), von Connacht, von Muman (Munster) und von Laigin (Leinster) - erkannten mit Einschränkungen die Oberhoheit des Ard Ri oder Großkönigs an, der in Tara residierte, in der »königlichen« fünften Provinz von Midhe (Meath), deren Name »mittlere Provinz« bedeutet. Innerhalb dieser Provinzkönigreiche war die Macht noch einmal unter Kleinkönigreichen und Stammesgebieten aufgeteilt.

In der vorliegenden Geschichte werden wir auch mit den sich noch herausbildenden und ständig verändernden walisischen Königreichen bekannt gemacht. Die ursprünglichen Britannier, von den Angelsachsen Welisc (Ausländer) genannt, wurden aus ihren Gebieten, die sie fast fünfhundert Jahre hindurch besiedelt hatten, von den einfallenden Jüten, Angeln und Sachsen nach Westen verdrängt. Zu Fidelmas Zeiten befanden sich Devon (Dumnonia) und Cornwall (Cur-now) und auch Cumberland (Rheged) noch in den Händen der Kelten. Nordwales bestand aus zwei Königreichen, Gwynedd und Powys; Südwales hingegen gliederte sich in acht kleinere Königreiche auf, darunter auch Dyfed und Ceredigion, die ständig kriegerisch um die Vorherrschaft rangen.

Dyfed, Sitz der berühmten Abtei des Schutzheiligen von Wales, St. David (Dewi Sant), war einst von den Iren aus Desi besiedelt worden. Die ersten Könige trugen irische Namen. In der Reihe der walisischen Könige stoßen wir auf den berühmten Hywel Dda (905-950), der von König Eochaid von Dyfed abstammt, welcher um 400 Herrscher war. Hywel Dda war unbestreitbar der herausragendste der walisischen Könige; seine Macht erstreckte sich über das ganze Gebiet von Wales. Eben jener Hywel Dda berief die große, sechswöchige Versammlung von Dyfed ein, zu der die Repräsentanten aller walisischer Reiche anreisten und unter der Leitung des Rechtsgelehrten Ble-gywryd die Gesetze des Landes in der ersten bekannten Kodifizierung festhielten. Diese Texte wurden allgemein die »Gesetze von Hywel Dda« genannt. Sie stehen in der althergebrachten Rechtstradition der Kelten, und so stoßen wir bei den altirischen Rechten und den Gesetzen von Hywel Dda auf einige Gemeinsamkeiten.

Genau auf jene gemeinsame Tradition der Rechtsprechung richtet Fidelma in der vorliegenden Geschichte ihr Augenmerk.

Wir sollten uns dennoch Fidelmas eigene Kultur vor Augen führen, vor deren Hintergrund sie das Königreich von Dyfed sieht, und erfahren, wie es dazu kam, daß sie Anwältin im Rechtssystem ihres Heimatlandes sein konnte.

Die Primogenitur, das Erbrecht des ältesten Sohnes oder der ältesten Tochter, war in Irland unbekannt. Das Königtum vom geringsten Stammesfürsten bis zum Großkönig war nur zum Teil erblich und überwiegend ein Wahlamt. Jeder Herrscher mußte sich seiner Stellung würdig erweisen und wurde von den derbfhine seiner Sippe gewählt, von der mindestens drei Generationen versammelt sein mußten. Diente ein Herrscher nicht dem Wohl seines Volkes, wurde er angeklagt und abgesetzt. Deshalb ähnelte das monarchische System des alten Irland mehr einer heutigen Republik als den feudalen Monarchien, die sich im Mittelalter in Europa entwickelten.

Im Irland des siebenten Jahrhunderts gab es ein wohldurchdachtes Rechtssystem, das das Gesetz der Fenechus, der Landbebauer, genannt wurde, doch besser bekannt ist als das Gesetz der Brehons, abgeleitet von dem Wort breitheamh für Richter. Der Überlieferung nach wurden diese Gesetze zuerst im Jahre 714 v. Chr. auf Befehl des Großkönigs Ollamh Fodhla zusammengefaßt. Im Jahre 438 berief der Großkönig Laoghaire eine Kommission von neun Gelehrten, die die Gesetze prüfen, überarbeiten und in die neue lateinische Schrift übertragen sollte. Ihr gehörte auch Patrick an, der später zum Schutzheiligen Irlands wurde. Nach drei Jahren legte die Kommission den geschriebenen Gesetzestext vor, die erste bekannte Kodifizierung.

Man muß feststellen, daß das walisische Recht, soweit berichtet wird, weitere fünfhundert Jahre lang nicht schriftlich zusammengefaßt wurde. Dennoch war es das Resultat einer hochentwickelten mündlichen Tradition oder aber darüber hinaus einer handschriftlich festgehaltenen Kodifizierung, die jedoch schon früh verschollen ist. Sicher haben sowohl die Besetzung durch die Römer und als auch die Nähe zur römischen Kirche Einflüsse auf das walisische Recht ausgeübt. Dessenungeachtet verleugnet dieses Rechtssystem seinen eigentlichen keltischen Ursprung nicht.

Die ältesten vollständig erhaltenen Texte der alten Gesetze Irlands finden sich in einem Manuskript aus dem elften Jahrhundert wieder, das heute in der Royal Irish Academy in Dublin aufbewahrt wird. Erst im siebzehnten Jahrhundert gelang es der englischen Kolonialverwaltung in Irland letztendlich, die Anwendung der Gesetze der Brehons zu unterdrücken. Selbst der Besitz des Gesetzbuches wurde bestraft, oft mit dem Tode oder der Verbannung.

Das walisische Recht existierte bis zur schrittweisen Einverleibung von Wales durch die Engländer im Jahre 1536 und schließlich 1542, mit der auch die englische Sprache, englisches Recht und englische Bräuche übernommen wurden. Heute sind noch ungefähr achtzig Rechtstexte in walisischer und lateinischer Sprache erhalten, die meisten stammen aus der Zeit zwischen dem zwölften und dem sechzehnten Jahrhundert.

Das irische Rechtssystem war nicht statisch. Alle drei Jahre kamen die Rechtsgelehrten und Richter beim Feis Teamhrach (Fest von Tara) zusammen und prüften und verbesserten die Gesetze entsprechend der sich verändernden Gesellschaft und deren Bedürfnisse.

Diese Gesetze wiesen der Frau eine einzigartige Stellung zu. Sie gaben den Frauen mehr Rechte und größeren Schutz als irgendein anderes westliches Ge-setzeswerk jener Zeit oder späterer Jahrhunderte. Frauen konnten sich gleichberechtigt mit den Männern um jedes Amt bewerben und jeden Beruf ergreifen, und sie taten es auch. Sie konnten ihr Volk als Krieger in Schlachten befehligen, politische Führer sein, Friedensrichter, Dichter, Handwerker, Ärzte, Anwälte und Richter werden. Wir kennen die Namen vieler Richterinnen aus Fidelmas Zeit: Brig Briugaid, Äine Inguine Iugaire, Dari und viele andere. Dari zum Beispiel war nicht nur Richterin, sondern die Verfasserin eines berühmten Gesetzestextes, der im sechsten Jahrhundert aufgezeichnet wurde.

Die Gesetze schützten Frauen vor sexueller Belästigung, vor Diskriminierung und vor Vergewaltigung. Sie konnten sich auf gleichem Rechtsfuß von ihren Ehemännern scheiden lassen und dabei einen Teil des Vermögens des Mannes als Abfindung verlangen. Sie konnten persönliches Eigentum erben und hatten Anspruch auf Krankengeld, ob sie nun zu Hause lagen oder im Hospital. Im alten Irland gab es die ersten Krankenhäuser, die in Europa bekannt sind. Aus heutiger Sicht beschrieben die Gesetze der Brehons eine beinahe ideale Gesellschaft.

Diesen Hintergrund und seinen starken Gegensatz zu den Nachbarländern Irlands sollte man sich vor Augen halten, um Fidelmas Rolle in dem hier Erzählten zu verstehen.

Fidelma studierte an der weltlichen Hochschule des Brehon Morann von Tara. Nach acht Jahren Studium erlangte sie den Grad eines anruth, den zweithöchsten, den die weltlichen oder kirchlichen Hochschulen des alten Irland zu vergeben hatten. Der höchste Grad hieß ollamh, und das ist noch heute das irische Wort für Professor. Fidelma hatte die Rechte studiert, sowohl das Strafrecht Senchus Mor als auch das Zivilrecht Leabhar Acaill. Deshalb wurde sie dalaigh, Anwältin bei Gericht.

Ihre Hauptaufgabe bestand ähnlich der eines heutigen schottischen Richters darin, unabhängig von den Befugnissen der Ordnungshüter Beweismittel aufzunehmen, einzuordnen und festzustellen, ob sich in einem Rechtsfall weitere Ermittlungen lohnen oder ob er eingestellt werden sollte. Der französische juge d’instruction hat heute noch entsprechende Aufgaben. Fidelma darf darüber hinaus auch vor Gericht als Vertreterin der Anklage oder als Verteidigerin auftreten oder muß sogar in weniger schwerwiegenden Fällen das Urteil sprechen, wenn ein Brehon dafür nicht abkömmlich war.

In jener Zeit gehörten die meisten Vertreter des Gelehrtenstandes den neuen christlichen Klöstern an, so wie in den Jahrhunderten davor alle Vertreter der geistigen Berufe Druiden waren. Fidelma trat in die geistliche Gemeinschaft von Kildare ein, die im späten fünften Jahrhundert von der heiligen Brigitta gegründet worden war. Zu der Zeit jedoch, in der die vorliegende Geschichte spielt, hatte Fidelma ernüchtert die Gemeinschaft verlassen. Den Gründen dafür kann der geneigte Leser in der Geschichte Hemlock at Vespers nachspüren.

Während das siebente Jahrhundert in Europa zum »finsteren Mittelalter« gezählt wird, gilt es in Irland als ein Zeitalter der »goldenen Aufklärung«. Aus allen Ländern Europas strömten Studierende an die irischen Hochschulen, um sich dort ausbilden zu lassen, unter ihnen auch die Söhne der angelsächsischen Könige. An der großen kirchlichen Hochschule in Durrow findet man zu dieser Zeit Studenten aus nicht weniger als achtzehn Nationen. Zur selben Zeit brachen männliche und weibliche Missionare aus Irland auf, um das heidnische Europa zum Christentum zu bekehren. Sie gründeten Kirchen, Klöster und Zentren der Gelehrsamkeit bis nach Kiew in der Ukraine im Osten, den Färöer-Inseln im Norden und Tarent in Süditalien. Irland galt als Inbegriff von Bildung und Wissenschaft.

Die keltische Kirche Irlands lag jedoch in einem ständigen Streit über Fragen der Liturgie und der Riten mit der Kirche in Rom. Die römische Kirche hatte sich im vierten Jahrhundert reformiert, die Festlegung des Osterfestes und Teile ihrer Liturgie geändert. Die keltische Kirche und die orthodoxe Kirche des Ostens weigerten sich, Rom hierin zu folgen. Die keltische Kirche wurde schließlich zwischen dem neunten und dem elften Jahrhundert von der römischen Kirche aufgesogen, während die orthodoxen Ostkirchen bis heute von Rom unabhängig geblieben sind. Zu Fidelmas Zeit brach dieser Konflikt offen aus. Es ist unmöglich, über Kirchenfragen jener Zeit zu schreiben, ohne sich auf die damals vorherrschenden philosophischen Fehden zu beziehen.

Ein Kennzeichen der keltischen wie der römischen Kirche im siebenten Jahrhundert war die Tatsache, daß der Zölibat nicht allgemein üblich war. Es gab zwar in den Kirchen immer Asketen, die die körperliche Liebe zur Verehrung der Gottheit vergeistigten, doch erst auf dem Konzil von Nicäa im Jahre 325 wurden Heiraten von Geistlichen der westlichen Kirche verurteilt, aber nicht verboten. Der Zölibat in der römischen Kirche leitete sich von den Bräuchen der heidnischen Priesterinnen der Vesta und der Priester der Diana her.

Im fünften Jahrhundert hatte Rom den Geistlichen im Range eines Abts oder Bischofs untersagt, mit ihren Ehefrauen zu schlafen, und bald danach die Heirat gänzlich verboten. Den niederen Geistlichen riet Rom von der Heirat ab, verbot sie ihnen aber nicht. Erst der Reformpapst Leo IX. (1049-1054) unternahm ernsthaft den Versuch, den Klerikern der westlichen Länder den allgemeinen Zölibat aufzuzwingen. Die keltische Kirche gab erst nach jahrhundertelangem Ringen ihre antizölibatäre Haltung auf und schloß sich den Richtlinien Roms an, wohingegen in der östlichen orthodoxen Kirche die Priester unterhalb des Ranges von Abt und Bischof bis heute das Recht zur Eheschließung haben.

Das Wissen um die freie Einstellung der keltischen Kirche zu geschlechtlichen Beziehungen ist wesentlich für das Verständnis des Hintergrunds dieses Romans.

Die Verurteilung der »Sünde des Fleisches« blieb der keltischen Kirche noch lange fremd, nachdem sie in der römischen bereits zum Dogma geworden war. Zu Fidelmas Zeit lebten beide Geschlechter in Abteien und Klöstern zusammen, die als conhospitae oder Doppelhäuser bekannt waren, und erzogen ihre Kinder im Dienste Christi.

Fidelmas eigenes Kloster der heiligen Brigitta in Kildare war solch eine Gemeinschaft beider Geschlechter. Als Brigitta sie in Kildare (Cill Dara = Kirche der Eichen) gründete, lud sie einen Bischof namens Con-laed ein, sich mit ihr zusammenzutun. Ihre erste überlieferte Biographie wurde 650, fünfzig Jahre nach ihrem Tode, von einem Mönch in Kildare mit Namen Cogitosus geschrieben, der keinen Zweifel daran läßt, daß es auch weiterhin eine gemischte Gemeinschaft war.

Zum Beweis für die gleichberechtigte Stellung der Frauen wäre noch darauf hinzuweisen, daß in der keltischen Kirche jener Zeit Frauen auch Priester werden konnten. Brigitta selbst wurde von Patricks Neffen Mel zur Bischöfin geweiht, und sie war nicht die einzige. Rom protestierte im sechsten Jahrhundert schriftlich gegen die keltische Praxis, Frauen die heilige Messe zelebrieren zu lassen.

Im Gegensatz zur römischen Kirche gab es in der keltischen kein System von »Beichtvätern«, denen man seine »Sünden« beichten mußte und die dann die Vollmacht hatten, jemandem im Namen Christi diese Sünden zu vergeben. Statt dessen suchte man sich unter den Geistlichen oder Laien einen sogenannten »Seelenfreund« (anam chara) aus und erörterte mit diesem Fragen der Seele, des Geistes und des Glaubens.

Dem Vorwurf einiger Leser, ich würde anachronistischerweise auf die damals üblichen Maßangaben verzichten und das heutige metrische Meßsystem anführen, muß ich entgegenhalten, daß der Historiker an dieser Stelle dem Erzähler den Vorrang läßt und für ein besseres Verständnis der Maßangaben unter der Leserschaft bewußt auf moderne Entsprechungen für die irischen Maßeinheiten zu Fidelmas Zeiten zurückgreift. Es wäre viel zu mühselig, im einzelnen zu erklären, was die Bedeutungen von ordlach, bas, troig-hid, ceim, dies-ceim, fertach und forrach sind.


Hauptpersonen

Schwester Fidelma von Cashel, eine dalaigh oder Anwältin an den Gerichten im Irland des siebenten Jahrhunderts

Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham, ein angelsächsischer Mönch aus dem Lande des Südvolks


IN PORTH CLAIS


Bruder Rhodri


IN DER ABTEI DEVI SANT, MENEVIA


Abt Tryffin

Gwlyddien, König von Dyfed

Cathen, Sohn von Gwlyddien

Bruder Meurig, ein barnwr oder Richter aus Dyfed

Bruder Cyngar aus Menevia

Cadell, ein Krieger


IN PEN CAER UND UMGEBUNG


Mair, Tochter von Iorwerth, ein Opfer

Iorwerth, ein Schmied, Vater von Mair

Iestyn, sein Freund, ein Bauer

Idwal, ein junger umherziehender Schäfer

Gwnda, Fürst von Pen Caer

Elen, Gwndas Tochter

Buddog, eine Dienerin an Gwndas Sitz

Clydog Cacynen, genannt »die Wespe«, ein Geächteter

Corryn, genannt »die Spinne«, aus Clydogs Bande

Sualda, aus Clydogs Bande

Goff, ein Schmied

Rhonwen, seine Frau

Dewi, sein Sohn

Elisse, der Apotheker


Osric, Gefolgsadliger der Hwicce

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