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Die Mädchen waren schon lange nicht mehr auf dem Schrottplatz gewesen. Obwohl die Pygmäen ihr Baumhaus ganz in der Nähe hatten.

»Wie lang ist das her, dass wir ihnen die Leiter angesägt haben?«, fragte Wilma unterwegs.

»Sechs Wochen bestimmt«, antwortete Frieda. Die angesägte Leiter war die Rache gewesen für ein Stück Pansen in Sprottes Schultasche - und der letzte Streich, den sie einander gespielt hatten. Irgendwie hatte es plötzlich keinen Spaß mehr gemacht-, sich dauernd Albernheiten auszudenken. Den Pygmäen schien es ähnlich zu gehen, von Tortes Privatrache abgesehen.

Melanie behauptete allerdings, dass die Jungs bloß deshalb so friedlich waren, weil sie alle Hände voll damit zu tun hatten, ihr Baumhaus winterfest zu machen. Und Wilma glaubte fest, dass zwischen Steves Karten eine Liste von Gemeinheiten in einer von ihm persönlich erdachten Miniatur-Geheimschrift steckte, mit denen die Jungs den Hühnern den trostlos langweiligen Winter versüßen wollten. Bisher hatte Wilma es allerdings noch nicht geschafft, diese schändliche Liste zu stehlen. Steve hütete seine Karten wie ein Heiligtum.

»Hört mal, standen die Bagger vor sechs Wochen auch schon da?«, fragte Wilma, als sie vor dem Schrottplatztor anhielten. Ein paar verirrte Schneeflocken fielen vom Himmel. Es war lausig kalt.

»Also, letztes Wochenende standen sie nicht da«, sagte Melanie - und wurde rot unter ihrer braunen Pickelcreme, als sie merkte, dass die ändern sie erstaunt ansahen. »Guckt nicht so! Ja, ich bin hier vorbeigekommen. Ich bin sogar im Baumhaus gewesen. Die Jungs wollten, dass ich ihnen helfe, die neue Farbe auszusuchen.« Fröstelnd schlug sie sich den Jackenkragen hoch. »Was ist? Werd ich jetzt als Verräterin erschossen? Mir gehen sie nun mal nicht so auf die Nerven wie euch. Manchmal bin ich ganz gern mit ihnen zusammen. Unsere Geheimschrift habe ich ihnen nicht beigebracht, und unser Geheimbuch hab ich auch nicht dabeigehabt, okay? Obwohl da sowieso nichts Interessantes drinsteht.«

»Ist doch in Ordnung«, sagte Frieda. »Wenn sie dich nicht nerven.« Sie schob ihr Fahrrad noch etwas näher vor das große Tor. »Das Schild da war doch bestimmt auch noch nicht da, oder?« An zwei hohe Pfosten genagelt stand ein Riesenschild mitten auf dem Platz. » Unser Schrott- und Altwarendepot wird erweitert«, las Frieda vor.

» Nach der Fertigstellung der Bauarbeiten wird es mehr als die doppelte Lagerkapazität haben. Voraussichtlicher Baubeginn: 14. November. « Erstaunt guckte Frieda sich um. »Das ist schon Montag. Wohin wollen die denn erweitern? Da vorn ist doch die Straße.« Sie drehte sich zu den ändern um. »Die machen den Wald platt!«

Ungläubig starrten sie alle das Schild an. Bis Wilma kicherte. »Das ist ja ein Ding. Wir haben endlich ein Bandenquartier, und die Pygmäen werden ihrs los. Verrückt, was?« »Ja, verrückt«, murmelte Sprotte und starrte das Schild an. »Was gibt's da zu kichern?«, fuhr Melanie Wilma an. »Die Jungs haben so viel Arbeit in ihr Baumhaus gesteckt. Das ist...«, sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, »das ist wie ein Zuhause für die.«

»Na und?« Beleidigt lehnte Wilma sich über ihren Fahrradlenker. »Erinnerst du dich noch, wie sie sich amüsiert haben, als unser Bretterhaus umgekippt ist? Hast du die ganzen blöden Sprüche etwa schon vergessen, die wir uns anhören mussten?«

»Reg dich ab, Melli«, sagte Sprotte und schob ihr Fahrrad zwischen die beiden. »Wilma hat Recht. Die Pygmäen sind Spezialisten in Schadenfreude.«

»Quatsch!« Frieda stieg vom Fahrrad und drückte Sprotte ihren Lenker in die Hand. »Deren Sprüche kann man doch nicht ernst nehmen. Wenn's drauf ankommt, haben sie uns immer geholfen. Oder mussten wir vielleicht lange betteln wegen Samstag?« Mit entschlossener Miene marschierte sie durch das offene Schrottplatztor. »Was hast du vor?«, rief Sprotte ihr beunruhigt nach. »Ich frag, wohin die erweitern«, antwortete Frieda, ohne sich umzudrehen. Sie suchte sich ihren Weg zwischen Bergen von Autoschrott und Bauschutt, bis sie vor der Bretterbude stand, in der ein Aufseher hockte und Radio hörte. Ohne zu zögern, klopfte Frieda an die Tür.

»Dass sie sich so was traut«, flüsterte Wilma ehrfürchtig. »Mir wird immer ganz schlecht, wenn ich bei Fremden klingeln und irgendwas fragen muss.«

»Es sei denn, du kannst ihnen deine Wasserpistole unter die Nase halten«, sagte Melanie.

»Frieda traut sich so was auch erst, seit sie bei dieser Gruppe mitmacht«, murmelte Sprotte. »Ich kann mir den Namen einfach nicht merken.«

»Terre des hommes«, sagte Melanie spitz. »Sie heißt Terre des hommes. Das ist französisch. Der Wächter macht nicht auf. Guckt euch das an. Sie klopft glatt noch mal.« Energisch hämmerte Frieda mit der Faust gegen die Holztür.

Diesmal hatte sie Erfolg. Mürrisch streckte der Aufseher den Kopf aus der Tür. Die anderen Hühner konnten nicht hören, was Frieda fragte, aber sie sahen, wie der Mann antwortete und auf den Wald zeigte. Dann knallte er Frieda die Tür vor der Nase zu. Mit bedrücktem Gesicht kam sie zurück.

»Sag schon, was ist?«, drängelte Sprotte, als sie wieder neben ihnen stand.

»Den ganzen Wald hacken sie ab«, antwortete Frieda. »Montag legen die Bagger los. Den Tümpel, an dem die Jungs ihr Baumhaus haben, schütten sie zu.«

»O nein!« Melanie stöhnte auf. »Die Jungs arbeiten sich seit Wochen die Finger krumm.« Mit zusammengekniffenen Lippen guckte sie zum Wald hinüber.

»Wisst ihr was?« Sprotte drehte ihr Fahrrad um. »Das lassen wir sie am besten selbst rausfinden. Wir holen uns nur schnell den Draht und verschwinden wieder.« Aber Frieda schüttelte energisch den Kopf. »Nee, das können wir nicht machen. Ich finde, wir müssen es ihnen sagen.«

»Find ich auch«, sagte Melanie und starrte die Bagger an. »Wenn ihr meint«, Wilma zuckte die Achseln. »Aber wie ich die kenne, geben sie uns noch die Schuld für den Arger.« »Sehr wahrscheinlich«, murmelte Sprotte. >Ach, was soll's. Bringen wir's hinter uns.«

Schweigend schoben sie ihre Fahrräder zum Waldrand, schlössen sie ab und machten sich auf den Weg zum Baumhaus der Pygmäen. Zwischen den Bäumen wurde es schon dunkel, aber die Mädchen kannten den Weg ganz genau.

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