Eine Weile blieb es totenstill im Tischtenniskeller. Keine wusste, was sie sagen sollte.
Fünfzehn Hühner besaß Sprottes Großmutter - fünf gescheckte, sechs braune, drei weiße und ein schwarzes. Sie hießen Emma, Isolde, Huberta, Lola und Kokoschka, Dolli, Klara, Dafne und Loretta, Ofelia, Dido, Salambo, Ronja, Leia und Isabella. Sprotte hatte sich die Namen ausgedacht und jedes Huhn mit ein paar Spritzern Regenwasser getauft. Sprottes Großmutter hielt nichts von Namen für Hühner. »Gefühlsduselei«, sagte sie. »Meinen Rosenkohlpflanzen geb ich ja auch keine Namen. Hühner schafft man sich zum Eierle gen an, nicht zum Freundschaftschließen. Das stört bloß beim Schlachten.«
Jetzt wollte sie die Hühner also schlachten. Alle. Ganz kalt wurde den fünf Mädchen bei dem Gedanken. Sie besuchten Oma Slättbergs Hühner, so oft sie konnten. Allerdings ging das nur , wenn Sprottes Großmutter nicht zu Hause war. Oma Slättberg mochte keinen Besuch. Geplatzt wäre sie vor Ärger, wenn sie gewusst hätte, wie oft Sprottes
Freundinnen sich in ihren Hühnerauslaufschlichen, um die weichen Federn ihrer Hennen zu streicheln. »Sie mögen es so gern, wenn man sie unterm Schnabel krault!«, murmelte Trude. »Sie kneifen immer so süß die Augen dabei zu.« Dann fing sie an zu schluchzen. Wilma gab ihr eins von ihren Taschentüchern. »Mensch, das ist allerdings ein Grund für Fuchsalarm«, murmelte sie. »Drei Hennen hat sie seit letztem Sommer geschlachtet!«, rief Sprotte. »Und nie haben wir was unternommen! Weil wir nicht wussten, wie wir es verhindern sollten, oder weil ich's nicht rechtzeitig erfahren hab. Diesmal müssen wir einfach was tun! Wenn sie das schafft, wenn sie die Hühner umbringt und wir tun einfach gar nichts, dann, dann ...«, Sprotte schlug so fest auf die Tischtennisplatte, dass heißer Fliederbeersaft auf die Finger schwappte, »dann können wir uns auch nicht mehr die Wilden Hühner nennen, find ich. Dann sind wir gar nichts mehr, höchstens wilde Waschlappen oder so was.« Sie leckte sich den süßen Saft von den Fingern.
Frieda kaute hektisch auf ihrer Unterlippe. »Aber warum?«, fragte Wilma mit kläglicher Stimme. »Wa-rumvfül sie alle schlachten?«
»Sie sagt, sie legen nicht mehr genug Eier«, murmelte Sprotte. »Außerdem behauptet sie, dass die Hennen bis zum Frühling so zäh sind, dass sie nicht mal mehr Suppe aus ihnen kochen kann. Also will sie sie vorm Winter umbringen. Und
im Frühling kauft sie sich dann neue. So machen es viele Bauern. Spart jede Menge Futter.«
»Und wenn wir ihr das Futter bezahlen?« Frieda war ganz weiß um die Nase. »Das Geld würden wir schon zusammenkriegen. Wir könnten in der Schule Salatreste sammeln ...« Sprotte schüttelte den Kopf. »Hab ich ihr schon angeboten. Davon will sie nichts wissen.«
»Das kann sie nicht machen!« Trude nahm ihre beschlagene Brille ab und putzte mit zittrigen Fingern die Gläser blank. »Und wie sie das kann!«, antwortete Sprotte bitter. »Sie hat sogar schon einen Termin für das Blutbad. Nächste Woche Mittwoch. Da kommt der fiese Feistkorn nach seinem Nachmittagskuchen rüber und hackt ihnen allen die Köpfe ab. Zwei Flaschen selbst gemachten Kirschlikör kriegt er dafür.« Jetzt stiegen auch Wilma die Tränen in die Augen. Heftig prustete sie in ihr Taschentuch.
»Feistkorn? Meinst du das Ekelpaket von Nachbar, das dauernd über die Hecke schielt?«, fragte Frieda. Sprotte nickte und streichelte die Feder, die an einem Band um ihren Hals baumelte. Jedes Wilde Huhn trug so ein Bandenzeichen.
»Ach, kommt!«, rief Melanie. »Guckt nicht, als wärt ihr schon auf einer Hühnerbeerdigung! Wir retten sie! Das ist doch wohl klar!«
»Ach, ja?« Trude kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Wie denn?«
Früher hatte niemand Melanie so angehimmelt wie Trude. Aber seit der Scheidung ihrer Eltern war Trudes Begeisterung für so ziemlich alles und jeden abgekühlt. Auch die für Melanie.
»Sprotte hat bestimmt schon eine Idee«, schniefte Wilma hoffnungsvoll. »Oder?«
Sie alle wussten, dass Sprotte schneller Ideen ausbrütete, als andere Leute ihre Schuhe zubinden.
»Na ja«, Sprotte trank einen Schluck Fliederbeersaft. »Am Sonntag fährt O. S. zu ihrer Schwester, da ... « »Wer ist O. S.?«, unterbrach Trude sie verwirrt. »Oma Slättberg natürlich«, erklärte Melanie genervt. »Also manchmal bist du
wirklich zu blöd.« Beschämt zog Trude den Kopf ein.
»Also ... O. S. fährt Sonntag zu ihrer Schwester«, fing Sprotte noch mal an, »um sich bei Kaffee und Kuchen mal wieder so richtig schön zu streiten. Da könnten wir uns in den Garten schleichen, die Hühner in Pappkartons stecken und sie wegbringen. Fragt sich bloß, wohin?«
Ausgerechnet in dem Moment sprang die Kellertür auf. »He, Hühner!« Breit grinsend steckte Titus den Kopf herein. »Wir wollen Tischtennis spielen. Oder habt ihr die Ping-pongbälle wieder alle ausgebrütet? «
»Verschwinde!«, fuhr Frieda ihn an. »Der Keller gehört uns noch eine halbe Stunde. Frag Mama.« Hinter Titus tauchte sein bester Freund in der Tür auf. »Sind das die Mädels? Welc he ist der heiße Feger, von dem du erzählt hast?«
»Die da!« Titus schnippte Melanie eine kleine Papierkugel in die Locken.
Melanie würdigte ihn keines Blickes, aber ein geschmeicheltes Lächeln konnte sie sich nicht verkneifen. »Wie war's, Wilma?«, wisperte Sprotte.
Wilma putzte sich die Nase, legte ihr Protokollbuch auf den Boden, stand auf und schlenderte auf die Jungen zu. »Na, ihr Scherzkekse?«, sagte sie mit dem freundlichsten Lächeln der Welt. »Macht Spaß rumzunerven, was?« Dann zog sie blitzschnell ihre Wasserspistole aus dem Ärmel und spritzte jedem der beiden einen Strahl Seifenwasser ins Gesicht.
Schimpfend stolperten die Jungen zurück. Wilma aber warf sich wie ein wütender Terrier gegen die Kellertür. Im Nu standen Sprotte und Trude neben ihr und stemmten die Schultern gegen die Tür, während Titus und sein Freund auf der anderen Seite fluchend versuchten, ihre Riesenfüße in den Spalt zu zwängen. Aber als Melanie und Frieda den anderen Hühnern zu Hilfe kamen, hatten die Jungs keine Chance mehr. Titus konnte gerade noch die Finger wegziehen, bevor die Tür zuknallte.
»Tut mir Leid!«, japste Frieda und drehte schnell den Schlüssel im Schloss rum. »Ich vergess dauernd abzuschließen.« Etwas außer Atem, aber sehr zufrieden mit sich setzten die Hühner sich wieder. Wilma hob ihr Protokollbuch vom Kellerboden auf und vermerkte den Überfall. »Tja«, seufzte Sprotte, als sie es sich wieder auf der Tischtennisplatte bequem gemacht hatte. »Wo könnten wir die Hühner hinbringen? Falls wir es wirklich schaffen, sie meiner Oma zu klauen.«
»Damit wären wir wieder beim alten Thema.« Frieda stöhnte. »Unser Bandenquartier. Wir haben keins.« »Die Pygmäen haben jetzt sogar einen Ofen in ihrem Baumhaus«, sagte Melanie.
»Na toll!« Sprotte warf ihr einen genervten Blick zu. »Frag doch mal, ob sie noch ein Mädchen als Maskottchen brauchen können.«
»Ach, kommt, hört auf!«, sagte Frieda ärgerlich. »Nicht das schon wieder. Das mit dem Quartier ist wirklich ein Problem. Hier können wir die Hühner jedenfalls nicht verstecken.« »Und in Melanies Hinterhof ...?«, begann Wilma. »Bist du verrückt?« Melanie schüttelte angeekelt eine Kellerassel von ihrem Schuh. »Mein Vater ist schon durchgedreht genug, seit er nicht mehr arbeitet und nur zu Hause rumhängt. Der würde ausrasten, wenn er auch noch auf dem Rasen in Hühnerkacke treten würde. Außerdem ...«, sie schabte mit dem Schuh auf dem Kellerboden rum, »außerdem ziehen wir vielleicht bald um, in eine kleinere Wohnung, zwei Häuser weiter. Da ist dann sowieso kein Garten.« »Oh!«, murmelte Frieda.
Melanie zuckte nur die Achseln und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
»Na ja, Sprottes Oma fährt erst Sonntag weg, bis dahin fällt uns schon noch was ein«, sagte Wilma.
»Hoffentlich.« Sprotte lauschte nach draußen, aber von Ti-tus und seinem Freund war nichts zu hören. »Wann treffen wir uns wieder? Morgen?«
Melanie zog mit gerunzelter Stirn ihren Terminkalender raus. Sprotte seufzte. Frieda hatte auch so ein Ding, seit sie bei einer Gruppe mitarbeitete, deren Namen Sprotte dauernd vergaß und die irgendwas für Kinder in der Dritten Welt machte. Melanie behauptete, die tollen Jungs in der Gruppe seien der Grund für Friedas Begeisterung, aber seit Frieda ihr dafür eine runtergehauen hatte, hob sie nur noch viel sagend die Augenbrauen, wenn Frieda zu einem Treffen musste.
»Ich weiß, es ist Fuchsalarm«, sagte Trude kleinlaut, während Frieda und Melanie in ihren Kalendern blätterten. »Aber ich muss morgen um zwei meinen Cousin vom Bahnhof abholen. Meine Mutter arbeitet, vielleicht danach ...« »Also, ich muss morgen zum Hautarzt«, stellte Melanie fest. »Wegen dem einen Pickel?«, fragte Sprotte gereizt. »Sie hat schon drei«, erklärte Trude.
»O Mann, drei Pickel!« Sprotte verdrehte spöttisch die Augen. »Entschuldige vielmals, da geht's natürlich auch um Leben und Tod.«
Melanie würdigte sie keines Blickes. »Den Termin übermorgen«, sagte sie schnippisch, »den könnte ich verschieben.« »Wann hast du eigentlich mal keinen Termin?«, fuhr Sprotte sie an. »Soll ich den Hühnern sagen, dass sie ihre Köpfe abgehackt kriegen, weil du so viele Termine hast?« »Du hast gut reden«, fauchte Melanie zurück. »Du hast fast jeden Tag sturmfreie Bude, weil deine Mutter Taxi fährt. Weißt du, was bei uns los ist, seit mein Vater keine Arbeit mehr hat? Melanie, soll ich deine Schularbeiten nachsehen? Melanie, hast du dein Zimmer aufgeräumt? Melanie, was hast du denn da an? Melanie, wollen wir noch ein bisschen Mathe üben? Mathe ist wichtig. Das hält doch kein Huhn aus! Also nehm ich mir, so oft es geht, was vor, klar?
Und auf deine dummen Kommentare kann ich verzichten.« »Ich kann morgen auch nicht«, stellte Frieda fest, ohne die beiden anzusehen. »Zumindest nicht so früh. Ich hab Gruppentreffen. Aber übermorgen geht's.« Sprotte zuckte nur die Achseln.
»Übermorgen ist Mittwoch, das reicht doch.« Wilma prustete in ihr Taschentuch und schrieb >nächstes Bandentreffen Mittwoch Nachmittag< ins Hühnerfeder-Ringbuch. »Bis dahin haben wir auch noch ein bisschen Zeit, drüber nachzudenken, wo wir die Hühner hinbringen.«
»Okay, Mittwoch«, Sprotte rutschte von der Tischtennisplatte. »Wieder hier im Keller?« Frieda nickte. »Kein Problem.«
»Aber bitte nicht wieder mit diesem Fledermaussaft«, sagte Melanie und zog ihre Lederjacke an.
»Das war Fliederbeersaft, und der soll sehr gut gegen Pickel sein«, meinte Wilma, während sie das Protokollbuch in ihren Rucksack schob, ganz vorsichtig, damit die aufgeklebten Federn nicht abgingen. »Ehrlich?« Misstrauisch guckte Melanie sie an. »Nee!«, sagte Wilma, zog grinsend eine kleine Flasche aus der Tasche und lud ihre Wasserpistole nach. Melanie stieß ihr ärgerlich den Ellbogen in die Seite.
Als Frieda aufschloss, spähte Sprotte erst mal vorsichtig durch die Tür, aber Titus und sein langer Freund lungerten nicht in dem kalten Flur herum. Erst auf der Kellertreppe kamen sie den Wilden Hühnern entgegen. »Seid bloß froh, dass wir uns nicht an kleinen Mädchen vergreifen!«, knurrte Titus, während sie sich aneinander vorbeidrängten.
»Seid froh, dass wir uns nicht an langen Jungs vergreifen«, knurrte Sprotte zurück. »Bei eurer Größe funktioniert die Blutzufuhr zum Gehirn nicht mehr, wusstet ihr das?« Titus' Freund strich sich das nasse Haar aus der Stirn und schnitt ihr eine Grimasse. Hastig drängten sich Trude und Sprotte an ihm vorbei. Melanie konnte es sich natürlich nicht verkne ifen, den Jungs noch ein Lächeln zu schenken und die Treppe raufzuschweben, als hätte sie ihren großen Auftritt.
Titus hielt Frieda am Arm fest. »Worum ging's denn heute, Schwesterchen?«, fragte er. »Komm, wir wollen was zu lachen haben. Die Mädels sind nämlich eine Bande«, sagte er über die Schulter zu seinem Freund. »Du kommst nie drauf, wie sie sich nennen. Die Wilden Hühner.« »Und ihr?« Wilma hatte schon wieder ihre Hand im Ärmel. »Wie nennt ihr euch? Die Pingpong-Asseln?« »Du solltest dir für deinen Wasserwerfer einen Waffenschein besorgen!«, raunte Titus ihr zu.
»Spielt schön!«, flüsterte Wilma zurück. »Tischtennis spielen ist genau das Richtige für kleine Jungs. Vorhaben für so was leider keine Zeit.«
»Schluss jetzt«, sagte Frieda und zog Wilma mit sich die Treppe rauf.