Der nächste Tag war so neblig und dämmergrau, dass es um neun in Sprottes Zimmer immer noch nicht hell war. Nebel!, dachte sie, als sie aus dem Bett kroch. Wie praktisch! Genau das richtige Wetter für eine Hühnerentführung. Andererseits, bei zu dickem Nebel verliefen sich die Pygmäen womöglich in Oma Slättbergs Garten .., Furchtbare Vorstellung. Sprotte tapste durch den dunklen Flur in die Küche, knipste das Licht an und machte Frühstück. Als Robin Hood war ich wohl doch nicht so gut, dachte sie, während sie den Kaffee aufsetzte. Wenn jemand zum Ausrauben vorbeikäme, würd ich vor Aufregung garantiert tot vom Baum fallen. Also versuchte sie, während sie Eier und Speck briet, bloß daran zu denken, wie die Hühner in ihrem neuen Auslauf rumscharrten. Das half ein bisschen gegen den Druck im Magen. Als Sprotte mit voll gepacktem Tablett ins Zimmer kam, wurde ihre Mutter gerade wach.
»Oh«, sagte sie und lugte unter ihrer Decke hervor. »Frühstück. Ich dachte, ich bin heute dran.« »Bist du auch«, sagte Sprotte, »rück mal.« Sie stellte ihrer
Mutter das Tablett auf den Bauch und kroch mit unter die angewärmte Decke.
Sprotte war sicher, dass nirgendwo auf der Welt der Samstag besser begann als bei ihnen. Sie knabberten endlos lange an Toast und Spiegeleiern herum, schlürften Orangensaft und Kaffee, guckten sich vom Bett aus einen alten Film im Fernsehen an und ignorierten den grauen Himme l draußen. Irgendwann rief natürlich Oma Slättberg an und fragte, wo Sprotte blieb.
»Sie kommt bald«, antwortete Sprottes Mutter, knallte den Hörer auf - und stellte fest, dass sie die Zeit vergessen hatte.
»O nein!«, rief sie. »In einer halben Stunde fängt meine Schicht an!« Hektisch wie ein Huhn wurde sie und suchte eine Viertelstunde ihren Autoschlüssel, bis Sprotte ihn im Wäschekorb in ihrer alten Hose fand. Zum Dank fuhr ihre Mutter sie mit ,der Taxe zu O. S. Dabei hörte sie zwar Englischkassetten, aber an diesem Morgen hatte sie wenigstens noch kein
einziges Mal >Amerika< gesagt. »Mam«, sagte Sprotte, bevor sie die Wagentür zuknallte, »heute Abend kommen alle Hühner zu uns. Wir wollen uns zusammen einen Film angucken. Du hast doch Nachtschicht, oder?«
»Ja, leider.« Ihre Mutter seufzte. »Macht's euch gemütlich. Ich glaub, es ist noch Schokolade da. Aber geht nicht an meine Frustpralinen, klar?«
Sprotte winkte ihrer Mutter nach, bis sie um die Ecke gebogen war. Oma Slättberg kam gerade aus dem Stall gehumpelt. Offenbar brauchte sie nur noch eine Krücke. Na ja, mit der war sie immer noch ziemlich langsam. »Ich bin nicht einen Tag in meinem Leben später als sechs Uhr dreißig aufgestanden«, sagte sie, als Sprotte in den Garten kam.
»Was für 'n Stress«, murmete Sprotte. Unauffällig guckte sie zum Hühnerstall. Der kürzeste Weg von dort zum Gartentor führte an der Regentonne vorbei. Allerdings kamen sie so auch dem Wohnzimmerfenster gefährlich nahe. »Komm«, sagte Oma Slättberg und zog Sprotte mit sich. »Du musst mir helfen, die Gefriertruhe im Keller sauber zu machen. Ich werd einiges wegwerfen müssen, damit alle Hühner reinpassen.«
Empört riss Sprotte ihren Arm los. »Dabei helf ich dir nicht. Das kannst du selber machen.«
»Wie bitte?« Oma Slättberg drehte sich um und starrte Sprotte an. Sie konnte genauso starr gucken wie ein Huhn. Trotzig erwiderte Sprotte ihren Blick. »Ich mach mit dem Kräuterbeet weiter«, murmelte sie. »Aber vorher sag ich den Hühnern noch guten Tag!« Wortlos drängte sie sich an ihrer Großmutter vorbei.
»Was willst du mit dem Rucksack?«, rief O. S. ihr hinterher. Ihr entging nichts, einfach gar nichts. Aber Sprotte war auf die Frage gefasst gewesen. »Stroh für Wilmas Meerschwein
will ich da reintun!«, rief sie, ohne sich umzudrehen. »Wenn du willst, bezahl ich's dir. Jeden Strohhalm.« »Sei nicht so frech!«, rief Oma Slättberg ihr nach, aber da war Sprotte schon im Stall verschwunden. Als sie die Stalltür hinter sich zumachte, klopfte ihr Herz so heftig, dass es schmerzte. Verdutzt streckten drei Hennen die Hälse aus den Nestern. Dafne stakste auf Sprotte zu, gackerte leise und zupfte an ihrer Hose. Sprotte hockte sich ins Stroh und kraulte ihr die weichen Brustfedern. Interessiert pickte die Henne an ihren Fingern.
»Heute Abend ist es so weit, Dafne«, flüsterte Sprotte. »Erzähl es den ändern. Und sag ihnen, dass sie bloß nicht rumschreien sollen.«
Dafne stakste davon, mit beleidigtem Gackern, weil sich zwischen Sprottes Fingern nichts Fressbares verborgen hatte. Sprotte richtete sich mit einem
Seufzer auf, nahm den Deckel vom Futtereimer - was die Hennen natürlich wieder sehr interessant fanden - und füllte zwei Plastiktüten mit den großen Körnern. Für eine Woche würde das reichen, wenn sie Grünzeug und Brotreste zufütterten. Jetzt musste sie nur noch die Obstbaumnetze aus dem Geräteschuppen holen. Als Sprotte den Kopf aus der Stalltür steckte, um sich zum Schuppen rüberzuschleichen, hielt ein Paketauto vor dem Gartentor.
Oma Slättberg schoss aus dem Haus, als hätte sie darauf gewartet. Eilig humpelte sie zum Tor. Richtig aufgeregt schien
sie zu sein. Sprotte verkniff sich ein Kichern. Vielleicht kam da dieser seltsame Katalog, in dem O.S. immer stundenlang stöberte, der mit den heizbaren Socken und Samthüllen für die Fernsehfernbedienung. Oder es war eine von Omas Klatschzeitschriften? Aber seit wann brachte der Paketmann die?
Allzu groß war das Päckchen nicht, das er aus dem Wagen holte. Mit gelangweiltem Gesicht hielt er Sprottes Großmutter einen Zettel übers Gartentor. O.S. unterschrieb, riss dem Mann das Päckchen aus der Hand und humpelte damit zurück zum Haus.
Erst wollte Sprotte hinterherlaufen, aber dann erinnerte sie sich an die Obstbaumnetze. Sie hatte gerade zwei große Netze und das Futter in ihren Rucksack gestopft, als ihre Großmutter rief. Vor Schreck hätte Sprotte fast das ganze Futter ausgekippt. Schnell schnallte sie den Rucksack zu, hängte ihn ans Gartentor, damit sie ihn nicht vergaß, und lief mit der Hacke in der Hand ins Haus. »Du musst mir das hier vorlesen«, sagte Oma Slättberg und hielt ihr eine winzig klein gedruckte Gebrauchsanweisung hin. »Ich finde meine Brille nicht.« Das war nichts Neues. Sprotte nahm die Anleitung - und ließ sie vor Schreck fast fallen.
Ihre Großmutter hatte das Päckchen ausgepackt, das gekommen war: Auf dem Küchentisch, neben der Pappschachtel, lag eine Pistole. Eine richtige Pistole.
Oma Slättberg klopfte ungeduldig mit der Krücke auf den Holzboden. »Nun mach schon. Lies vor.« »Kann, ähm, kann ich nicht«, stammelte Sprotte und legte das Blatt Papier auf den Tisch. »Ist viel zu klein gedruckt.« Die Pistole sah ganz echt aus. Total echt. »Zu klein. Mein Gott!« Oma Slättberg nahm die Pistole in die Hand und betrachtete sie. »Ich werde deiner Mutter sagen, dass sie mit dir zum Augenarzt gehen soll. Zwölf Jahre und schon schlechte Augen! Vielleicht glaubt sie mir jetzt endlich, dass der Fernseher nicht ans Bett gehört.« »Wo, wo - wo hast du die her?«, stotterte Sprotte. »Ich mein ...«
»Per Katalog bestellt«, antwortete Oma Slättberg und zielte mit der Pistole
auf die Küchenuhr.
»So was gibt's im Katalog?« Sprotte schluckte. »Das würd ich verbieten.«
»Wieso?« Ihre Großmutter runzelte die Stirn. »Was soll man denn machen bei all den Einbrechern? Hm? Nein. Mir stiehlt keiner mehr was.«
»Dir hat doch noch nie einer was gestohlen«, sagte Sprotte, ohne die Pistole aus den Augen zu lassen. »Noch nie. Nicht mal einen Rosenkohl oder so was. Außerdem kann man die doch nicht einfach gleich erschießen.«
»Wen?«, fragte Oma Slättberg. Sie zielte mit der Pistole auf die Haustür. Wie ein alter Pirat sah sie aus mit der Krücke unterm Arm.
»Na, die Diebe«, sagte Sprotte und ging aus der Schusslinie. »Die kann man doch nicht erschießen, bloß weil sie was klauen wollen. Töten und klauen, das, das - das ist doch ein gewaltiger Unterschied!«
»Findest du?« Ihre Oma ließ die Waffe sinken und legte sie zurück in die Schachtel.
»Ja, find ich«, murmelte Sprotte und überlegte fieberhaft, was sie nun machen sollte. Musste sie den anderen von der Pistole erzählen? Aber dann halfen die ihr womöglich nicht. Allein konnte sie die Hühner unmöglich alle wegbringen ! Und wenn sie Mam um Hilfe bat? Nein. Die stritt sich zwar ständig mit Oma Slättberg, aber sonst ... Sie mochte Hühner nicht mal besonders. - Ich klau die Munition, dachte Sprotte. Genau. Das mach ich. Erleichtert atmete sie durch.
Aber auf dem Tisch war von Munition nichts zu entdecken. »Oma ...«, Sprotte versuchte ganz unschuldig zu klingen. »Wo ist denn die Munition? Kann ich mir die mal angucken?«
»Das könnte dir so passen«, antwortete Oma Slättberg. »Nein, nein. Die habe ich schon an einen sicheren Ort gelegt. Das hier ist schließlich kein Kinderspielzeug. Und jetzt geh an die Arbeit, sonst ist es dunkel, ehe du angefangen hast. Ich muss jetzt erst mal meine Brille suchen.« Die Brille. Sprotte wusste, wo die Brille war. Auf dem kleinen Telefontischchen lag sie. Unauffällig schlenderte Sprotte zum Telefon. Ohne Brille konnte O.S. die Anleitung nicht lesen. »Na, dann viel Glück beim Suchen«, sagte sie, während sie sich gegen das Tischchen ehnte und mit den Fingern nach der Brille tastete.
»Ja, ja!« Oma Slättberg guckte sich mit zusammengekniffenen Augen in der Küche um.
Sprotte aber ließ die Brille schnell in ihre Jackentasche gleiten, griff sich die Hacke und lief nach draußen. Die findest du heute bestimmt nicht wieder, dachte sie und versteckte die Brille hinter der Regentonne unter einem leeren Blumentopf. Beruhigt machte sie sich wieder an die Arbeit. Sie hackte das Kräuterbeet, sah nach, ob die Gründüngersaat noch feucht war, füllte die großen Gießkannen mit Regenwasser und sah einer Maus zu, die verstohlen ein paar Körner Hühnerfutter zu ihrem Loch schleppte. Kurz bevor es zu dämmern begann, brachte Sprotte die Gartengeräte in den Schuppen, wusch sich die Hände in der Regentonne und lief zum Haus, um sich zu verabschieden. Der Nebel war dichter geworden. Weiß wie Schornsteinrauch hing er in der kalten Luft. Sprotte wusste immer noch nicht, ob das nun gut oder schlecht war für ihr Vorhaben. »Ich muss los!«, rief sie in die Küche.
Oma Slä ttberg saß am Tisch und las die Gebrauchsanweisung für die Pistole mit ihrer großen Lupe. Sprotte blieb fast das Herz stehen.
»Diese Brille ist nicht aufzufinden«, murmelte O. S., ohne den Kopf zu heben. »Aber so geht es auch. Ist sowieso ein Kinderspiel, dieses Ding zu bedienen.« »Ah ja?«, murmelte Sprotte.
»Kein Problem.« Oma Slättberg hob den Kopf und sah sie an. »Du meine Güte. Du siehst ja aus wie Hühnerspucke. Leg dich zu Hause sofort ins Bett. Du wirst krank. Soll ich dir noch eine Milch mit Honig machen?« Sprotte schüttelte den Kopf.
»Na, dann nicht.« Ihre Großmutter wandte sich wieder der Gebrauchsanweisung zu. »Aber dass ich heute Abend nicht fernsehen kann«, murmelte sie, »das ärgert mich wirklich.« »Nicht fernsehen?«, fragte Sprotte mit schwacher Stimme. Das auch noch.
»Natürlich nicht«, antwortete Oma Slättberg barsch. »Ohne Brille kann ich mir genauso gut ein Hörspiel anhören.« »Ich - ich glaub, ich hab da draußen was gesehn!«, stieß Sprotte hervor, rannte raus und lief zur Regentonne. Hastig kippte sie den leeren Blumentopf um und lief mit der Brille zurück zum Haus. »Da«, sagte sie und legte die Brille auf den Küchentisch. »Sie lag bei der Regentonne. Muss dir rausgefallen sein aus der Schürze.«
Mit starrem Hühnerblick musterte ihre Großmutter sie. »Rausgefallen. So so. Du bist heute wirklich seltsam.« Kopfschüttelnd setzte sie sich die Brille auf. »Noch seltsamer als sonst, und das soll was heißen. Aber ich sag's ja. Du wirst krank. Mach, dass du ins Bett kommst. Ich werde deine Mutter anrufen. Sie soll heute nicht zu lange fahren und besser mal nach dir sehen.«
»Was? Nein, nein!«, rief Sprotte. »Mir geht's gut. Ehrlich. Ich muss los.«
Dann stolperte sie raus in den Garten, schnappte sich den voll gestopften Rucksack und schwang sich auf ihr Rad. Sie musste sich höllisch beeilen, wenn sie das Futter und die Netze noch vor Einbruch der Dunkelheit zum Wohnwagen bringen wollte. Ich kann's den ändern nicht sagen, dachte sie den ganzen Weg lang, während der Nebel um sie rumwaberte und der Himmel immer dunkler wurde. Ich kann's einfach nicht. Die Hühner sind tot, wenn die ändern mir nicht helfen. Aber sie fühlte sich wie eine heimtückische Verräterin.