15

Sie fanden Melanie beim Kinderkarussell. Sie stand da und guckte Trude und ihrem Cousin beim Feuerwehrwagen-Fah-ren zu. Die beiden hatten sich zusammen in das kleine Auto gequetscht. Paolo klingelte wie verrückt mit der Glocke, die ihm fast an den Kopf stieß, und Trude saß kic hernd auf dem Rücksitz.

»Mensch, Melli, wo bist du denn vorhin plötzlich abgeblieben?«, fragte Wilma. »Du hast dein Los nicht mal aufgemacht. Hier ist es.«

»Danke«, murmelte Melanie. Abwesend faltete sie den kleinen Zettel auseinander. »Natürlich, eine Nie te. Fahren wir gleich zum Wohnwagen? Ich hab noch mehr Kassetten mitgebracht und ein paar Poster.«

»Nee, wir müssen erst zu den Pygmäen!«, sagte Sprotte. Die Karussellmusik dröhnte ihr in den Ohren. »Sie wollen ihren Gutschein einlösen«, erzählte Wilma. »Ach ja.« Melanie nickte. »Die Bagger kommen morgen. Sie sind ganz schön fertig deswegen.«

Das Karussell wurde langsamer und hielt an. Steifbeinig kletterten Trude und Paolo aus dem Feuerwehrwagen. »Können wir noch eine Runde drehen?«, rief Trude. »Nein!«, rief Sprotte zurück. »Wir müssen los. Den Jungs helfen, ihr Baumhaus leer zu räumen!«

Enttäuscht biss Trude sich auf die Lippen. Paolo nahm sie bei der Hand und bahnte sich einen Weg zwischen drängelnden Kindern, die die nächste Fahrt mitmachen wollten. »Na, dann«, murmelte Trude und blieb neben den anderen Hühnern stehen.

»Bis heute Abend«, sagte Paolo, zupfte sie am immer noch roten Ohrläppchen und schlenderte davon. Sehnsüchtig guckte Trude ihm nach.

Wilma kicherte. »Ich glaub das nicht. Echt, Trude. Von dir hätte ich das nie gedacht.« Trude wurde so rot wie ihre Ohrläppchen. »Komm«, sagte Frieda und hängte sich bei ihr ein. »Wo hast du dein Fahrrad abgestellt?« »Bei der Post«, murmelte Trude.

»Unsere stehen auch da«, sagte Wilma. Schweigend schlenderten sie durch den Lärm. Der Würstchengeruch machte sie hungrig. Frieda kaufte eine große

Tüte Popcorn für alle, dann machten sie sich auf den Weg zum Schrottplatz

»Ich hoff nur, das dauert nicht zu lange«, sagte Sprotte, als sie ihre Räder vor dem hohen Zaun abstellten. »Gefällt mir gar nicht, dass die Hennen am ersten Tag allein sind.« »Eine von uns kann ja nachher schon mal vorfahren und nach ihnen sehen«, schlug Frieda vor. Sprotte nickte.

Über dem Wald kreiste ein Bussard. Sprotte guckte besorgt zum Himmel. »Hast du die Obstbaumnetze noch mal festgezogen?«, fragte sie Wilma, während sie zum Baumhaus stiefelten.

Wilma nickte. »Da kommt keiner durch. Übrigens«, sie putzte sich die Nase, »ich hab die Anzeige aufgegeben.« »Was für eine Anzeige?«, fragte Sprotte. Wilma grinste. »Na, die Kontaktanzeige für deine Mutter. Dienstag erscheint sie.«

Sprotte blieb stehen. Fassungslos starrte sie Wilma an. Melanie fing an zu kichern. »Ich glaub's nicht! Was hast du geschrieben, Wilma? Los, erzähl schon.« »Dienstag?«, rief Sprotte. »Dienstag erscheint sie? Das machst du sofort rückgängig. Meine Mutter kriegt einen Herzstillstand, wenn plötzlich lauter Kerle bei uns anrufen. Außerdem ...«, sie kriegte kaum Luft vor Wut, »... außerdem hat sie den schlechtesten Männergeschmack der Welt. Die sucht sich garantiert den Allerbescheuertsten aus, der sich meldet!« Zerknirscht prustete Wilma in ihr Taschentuch. »Ich dachte, du wolltest es auch«, murmelte sie. »Damit du nicht nach Amerika musst, damit wir zusammenbleiben können ...« »Ich fass es nicht!«, stöhnte Sprotte.

»Los, sag schon, Wilma«, Melanie kicherte immer noch. »Was hast du geschrieben?«

Wilma vermied es, Sprotte anzusehen. »Attraktive Taxifahrerin, mittelalt, sucht Mann zum Ruschein.« Trude biss sich auf die Lippen, aber Frieda und Melanie prusteten lauthals los. Sie lachten so sehr, dass sie sich aneinander festhalten mussten.

»Na ja, ein längerer Text war zu teuer geworden!«, rief Wilma.

Sprotte verdrehte nur die Augen. »Jetzt wandert sie garantiert aus«, knurrte sie. »Sobald das erste Papphirn anruft. Verdammt, Wilma!«

Wortlos stapften sie weiter. Melanie und Frieda kicherten immer noch.

»Eins ist ja wohl klar, für Bandentreffen werd ich bald keine Zeit mehr haben«, murmelte Sprotte. »Ich muss Englisch lernen.«

Diesmal drang vom Baumhaus der Pygmäen keine Musik herüber. Nur Gehämmer hörte man, keine Stimmen, kein Gelächter. Als die Wilden Hühner das Ufer des Tümpels erreichten, standen Torte und Fred am Fuß der Leiter und zogen Nägel aus Brettern, die sie in der le tzten Woche frisch gestrichen hatten. Vom Baumhaus stand nur noch ein Skelett. Sogar die Dachpappe hatten die Jungs schon abgemacht. Die Fenster, die Freds Großvater ihnen geschenkt hatte, als sein Schrebergartenschuppen abgerissen wurde, die Teppiche, die Steves Mutter ausrangiert, und die Petroleumlampen, die sie sich zusammengespart hatten, der Kistentisch, Matratzen, Töpfe, Geschirr - alles lag aufgestapelt, eingepackt und zusammengeschnürt am Rand des Tümpels.

»Hallo«, murmelte Fred, als er die Mädchen bemerkte. »Etliche Sachen kriegen wir mit den Rädern nicht weg, aber Steve hat einen Bollerwagen besorgt. Und heute Abend kommt mein Vater mit dem Wagen zum Waldrand.« Sprotte nickte. »Wo wollt ihr die Sachen hinschaffen?« Fred räusperte sich. »Zu meinem Großvater«, sagte er. »Ewig können sie da nicht bleiben, aber na ja ... « Er zuckte die Achseln.

Melanie guckte nach oben, wo Steve gerade das Geländer von der Plattform abbaute. Willi saß mit baumelnden Beinen am Rand und guckte hinüber zum Schrottplatz, wo die Bagger zwischen den kahlen Bäumen deutlich zu sehen waren.

»He, Willi!«, rief Torte. »Wirf mal die Zange runter, die große rostige.«

»Der ist total fertig«, sagte Fred und warf ein Brett auf den Holzstapel am Tümpel. »Der war öfter hier als zu Hause.«

»Ich seh mal nach, ob der Kaffee in der Thermoskanne noch heiß ist!«, rief Steve von oben runter. »Trinken Hühner auch Kaffee?«

»Wenn's sein muss!« Sprotte sah Fred spöttisch an. »Mögt ihr das Zeug wirklich, oder trinkt ihr Kaffee, um >erwachsen< zu spie len?«

Fred musste grinsen. »Frech wie immer!«, sagte er. »Was sollen wir sonst zum Aufwärmen trinken? Tee ist was für Mädchen, Kakao was für Kleinkinder, und Glühwein macht zu schnell besoffen.«

»Ich krieg Kaffee aber nur mit viel Zucker runter!«, rief Frieda Steve zu.

»Kein Problem.« Steve verschwand zwischen den Resten des Baumhauses, um Zucker aufzutreiben. Willi saß immer noch am Rand der Plattform, ohne sich zu rühren. Torte warf den Hammer weg und stieg die Leiter rauf. »Ich helf Steve mal«, sagte er über die Schulter. Fred zog weiter Nägel aus den Brettern. Sprotte nahm Tortes Zimmermannshammer und half ihm, während Frieda und Wilma die Matratzen in Plastikfolie einschlugen. Der Himmel war schon wieder wolkenverhangen. Melanie half den beiden, aber immer wieder guckte sie zu Willi hoch. »Kaffee ist fertig«, rief Steve die Leiter runter. »Kommt rauf!«

»Der Tisch ist schon weggeräumt«, murmelte Torte, als sie alle oben waren, und stellte Pappbecher auf den Holzboden.

Vier Tage hatten die Pygmäen gebraucht, um die Plattform in den Baum zu

bauen. Kein Sturm, kein Regen hatte ihr was anhaben können.

»Die hätte glatt noch eine Ewigkeit gehalten«, sagte Fred und klopfte auf die Bretter.

»Garantiert.« Steve goss den Kaffee ein, hockte sich wieder hin und betrachtete trübsinnig seine Karten. »Sieht nicht gut aus«, murmelte er. »Egal, wie ich sie auslege. Düstere Aussichten.«

Melanie brachte Willi einen Becher. »Da«, sagte sie. »Pass auf, ist heiß. Willst du Zucker?«

Willi schüttelte den Kopf und nahm den Becher, ohne sie anzusehen. Wortlos starrte er weiter zu den Baggern rüber. Melanie zögerte, dann setzte sie sich wieder zu den ändern. »Wo wohnt dein Großvater noch mal?«, fragte Sprotte Fred. Sie mochte eigentlich keinen Kaffee, aber heute tat er gut. »Gleich hinterm Wald, in der Schrebergartensiedlung«, antwortete Fred. »Ist zum Glück nicht weit. Wir müssten eigentlich noch etliche Fuhren schaffen, bevor es dunkel wird. Wie schon gesagt, die Matratzen und die ändern großen Sachen holt mein Vater heute Abend mit dem Auto ab.« »Tja, jetzt habt ihr ein Hauptquartier und wir haben keins«, sagte Steve. »Ist schon verrückt, oder?«

»Glück für die Hühner, Pech für die Pygmäen«, murmelte Torte und starrte in seinen dampfenden Becher. »Stand alles in Steves Karten.«

Unglä ubig guckte Frieda ihn an. »Glaubst du wirklich an so was?«

Torte warf ihr einen feindseligen Blick zu. »Klar. Du nicht?« Frieda schüttelte den Kopf.

»He, Willi«, sagte Fred. »Hör auf, da rüberzustarren. Hock dich zu uns. Wir bauen uns ein neues Baumhaus, ein viel besseres.«

»Ich will kein neues«, knurrte Willi, ohne sich umzudrehen. »Drei Jahre haben wir an dem hier rumgebaut. Und die Schweine machen es an einem Tag platt, nur wegen ihrem verdammten Schrottplatz!« Mit einem Ruck sprang er auf.

»Aber denen werd ich's zeigen!«, rief er. Ohne die ändern anzusehen stürzte er zur Leiter. »He, was hast du vor?«, rief Fred.

Aber Willi antwortete nicht. Er kletterte die Leiter runter, und dann hörten sie, wie er durch den Wald davonrannte. Stöhnend verbarg Steve das Gesicht in den Händen. »Jetzt ist er ausgerastet!«, murmelte Torte, ging zum Plattformrand und starrte Willi hinterher.

»Steh da nicht dumm rum. Kommt!« Fred rannte zur Leiter. »Der hat irgendeinen Blödsinn vor! Wir müssen ihn einholen !«

»Einholen? Wie denn?«, rief Steve.

»Irgendwie!«, rief Sprotte, stieß ihn zur Seite und kletterte die Leiter runter. Melanie war schon unten. Seite an Seite hetzten Hühnerund Pygmäen durch den Wald. Einmal holten sie Willi fast ein, als er über eine Baumwurzel stolperte und sich beim Aufstehen in den Brombeerranken verhedderte. Aber Willi war schnell, schneller als sie alle. Nicht mal Sprotte mit ihren ellenlangen Beinen kam an ihn heran. Als sie und Fred aus dem Wald stolperten, stand Willi schon vor dem Schrottplatztor. Das Tor war mit einer schweren Kette verschlossen, aber Willi hielt das nicht auf. Ohne zu zögern kletterte er an dem Eisengitter hoch. »Willi!«, brüllte Fred. »Willi, mach keinen Scheiß!« Er versuchte Willis Bein festzuhalten, aber der trat nach ihm, schwang sich über das Tor und sprang auf der anderen Seite runter. Schwer atmend sah er sich um, rannte dann zu einem Haufen Bauschutt und griff sich eine Eisenstange. Einen Augenblick lang zögerte Fred, aber dann kletterte auch er über das Tor. Sprotte folgte ihm. In der Aufregung bekam sie fast Freds Fuß ins Gesicht. Melanie hangelte sich gleich hinter ihr an dem Gitter hoch. Besorgt warf Sprotte einen Blick zum Wächterhaus rüber. Dort brannte Licht. Ein Mann saß hinter der Scheibe und las Zeitung. Sein Radio dröhnte über den ganzen Platz.

»Ihr bleibt da!«, brüllte Fred Steve und Torte zu, als sie auch anfingen, das Tor hochzuklettern.

Willi rannte mit der Eisenstange auf die Bagger zu. »Ihr verdammten Dinger!«, schrie er. »Ihr verdammten Scheißdinger.« Mit voller Wucht drosch er die Eisenstange gegen einen Bagger-Scheinwerfer. Die Splitter flogen Fred und Sprotte bis vor die Füße.

»Hör auf, Willi!«, schrie Fred und packte seinen Arm. Sprotte versuchte ihm die Stange aus der Hand zu winden, aber Willi war schon immer der Stärkste von ihnen allen gewesen. Ohne Mühe stieß er die beiden weg, stolperte weiter und zerschlug den zweiten Scheinwerfer. »Willi!«, rief Melanie und versuchte sich zwischen ihn und den Bagger zu zwängen. »Willi, hör auf! Bitte! Du kriegst Ärger !«

Aber diesmal konnte auch sie nichts ausrichten. »Lass mich!«, fuhr Willi sie an. Dann kletterte er an dem Bagger hoch, klammerte sich fest und schlug auf die Windschutzscheibe ein. Sprotte hörte das Glas splittern. »Hilf mir!«, schrie Fred. Verzweifelt sprangen sie beide hoch, um Willi irgendwie runterzuzerren, aber er trat und schlug mit der freien Hand nach ihnen.

»Fred!«, schrie Torte durchs Tor. »Fred, pass auf, der Wächter kommt!« Der Wächter.

Den hatten sie alle vergessen.

Sein Radio dröhnte immer noch laut, aber irgendwas musste er gehört haben. Die Tür flog auf, und er kam rausgelaufen, mit einem Baseballschläger in der Hand. Als er sah, dass nur Kinder auf dem Platz waren, blieb er verblüfft stehen. Dann entdeckte er Willi oben auf dem Bagger, der immer noch blind vor Wut mit der Eisenstange auf die Scheibe eindrosch. »He!«, schrie der Wächter und rannte auf den Bagger zu. »Bist du verrückt geworden? Komm sofort da runter! Lass die Stange fallen.«

»Willi, verschwinde!«, schrie Fred. Seite an Seite mit Sprotte und Melanie stellte er sich dem Mann in den Weg. »Was wollt ihr hier?«, schrie der und versuchte sich von ihren klammernden Händen loszumachen. »Ist das ein neues Sonntagsspiel? Bagger kaputtschlagen?« Wütend riss der Wächter sich los, stieß mit dem Stiel des Baseballschlägers Fred zu Boden und rannte zum Bagger. Als Willi ihn kommen sah, hielt er inne. Er ließ die Eisenstange fallen, schwang sich rauf auf das Führerhaus und kletterte auf der anderen Seite wieder runter. Fred, Melanie und Sprotte warfen sich dem Wächter noch mal in den Weg, aber der stand plötzlich wie angewurzelt da und starrte dorthin, wo Willi verschwunden war. »Mensch, ich kenn dich!«, brüllte er. »Komm zurück, ich kenn dich!« Willi schoss hinter dem Bagger hervor und rannte, ohne sich umzusehen, auf den Zaun zu. Torte und Steve liefen ihm entgegen, um ihm rüberzuhelfen. Der Wächter stand immer noch da wie festgewachsen. Er fuhr sich durchs Haar und guckte Willi nach, der schon oben auf dem Zaun saß. »Ich kenn dich, Junge!«, rief der Wächter noch mal. »Renn du ruhig. Ich kenn dich.« »Kommt!« Fred zerrte Sprotte und Melanie zurück zum Tor.

Sprotte guckte sich immer wieder um, aber der Wächter sah ihnen nicht mal hinterher. Er hatte nur Augen für Willi. Der stieß alle helfenden Hände zur Seite, sprang zur Erde und rannte wie blind in den Wald zurück.

»Los, bloß weg hier!«, schrie Torte, als Fred und die Mädchen übers Tor kletterten.

»Ja, verschwindet!«, rief der Wächter und untersuchte den zerschlagenen Scheinwerfer. »Bevor ich mir eure Gesichter auch noch merke.«

Gemeinsam stolperten die Hühner und Pygmäen davon. Trude schluchzte, und Wilma prustete in einem fort in ihr Taschentuch.

»He, Steve!«, keuchte Fred, während sie zurück zum Baumhaus liefen. »Stand davon was in deinen Karten?« »Oh, Scheiße!«, japste Steve und schnappte nach Luft. »Das gibt Ärger. Und was für einen!«

»Was so 'ne Baggerscheibe wohl kostet!«, flüsterte Melanie. Immer schneller lief sie, schneller und schneller. Die ändern konnten kaum mit ihr Schritt haten.

»He, Melli, renn nicht so!«, rief Sprotte. »Jetzt ist sowieso alles zu spät.«

Aber Melanie hörte nicht auf sie. Sie achtete nicht darauf, ob sie sich die Schuhe dreckig machte, achtete nicht auf die Brombeerranken, die ihr die Hose zerrissen. Immer schneller stolperte sie durch den Wald, als wäre jemand hinter ihr her.

»Wenn das Willis Vater erfährt«, murmelte Torte. »Der schlägt ihn grün und veilchenblau.« Erschrocken guckte Trude ihn an.

»Der wird nicht nach Hause gehen«, sagte Fred. Keuchend erreichten sie den Tümpel. Melanie kletterte schon die Leiter zum Baumhaus rauf. »Er ist nicht

hier!«, rief sie verzweifelt.

»Klar, was soll er hier auch?«, rief Torte und guckte sich zwischen ihren aufgestapelten Habseligkeiten um. »Aber wohin ist er dann gelaufen?«, fragte Frieda. Besorgt guckte sie zu Melanie hoch. Die saß oben auf der leeren Plattform und weinte.

»Die große Taschenlampe ist weg«, stellte Fred fest. »Und ein Schlafsack auch.«

Sie suchten Willi, bis es dunkel wurde. Erst zu Fuß im Wald, dann nahmen sie die Räder. Sie riefen bei ihm zu Hause an und bei seiner erwachsenen Schwester, die vor einem Jahr in eine eigene Wohnung gezogen war. Willi war nicht da. Nirgendwo.

Erst als es stockdunkel war und sie einfach keinen Ort mehr wussten, an dem sie suchen konnten, gaben sie auf. Die Sachen der Pygmäen lagen immer noch am Tümpelufer. »Ich überred meinen Vater, zweimal zu fahren«, sagte Fred, als sie niedergeschlagen zum Wald zurückkehrten. »Er müsste sowieso gleich kommen.« »Können wir noch was helfen?«, fragte Frieda.

Aber Fred schüttelte den Kopf. »Lasst mal. Fahrt ihr zu den Hühnern. Nach denen wolltet ihr doch noch sehen, oder?« »Stimmt«, murmelte Sprotte. »Dann bis morgen.« Schweigend schoben die Mädchen ihre Fahrräder zurück zur Straße.

»Wir müssen ja nicht alle noch zum Wohnwagen raus«, sagte Sprotte. »Es ist schon ziemlich spät, und wenn ihr nach Hause müsst . . .« Sie guckte die ändern an. »Ich war nur froh, wenn wenigstens eine mitkäme. Ist schon reichlich dunkel.« »Ich weiß nicht . . .« Melanie schluchzte schon wieder los. »Du fährst nach Hause«, sagte Frieda und legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich fahr mit Sprotte zu den Hühnern.« »Gut. Ich hab nämlich auch keine Zeit mehr«, sagte Wilma. »Mein Vater will noch mit mir Mathe üben. Ich krieg sowieso Ärger, weil ich so spät komme.«

Trude scharrte verlegen mit dem Fuß im Dreck. »Ich wollte eigentlich mit Paolo ins Kino. Er fährt doch morgen wieder nach Hause, aber . . .«

»Ab mit euch«, sagte Sprotte und schob ihr Rad neben Friedas. »Wir sehen uns morgen. Hoffentlich wird das ein erfreulicherer Tag.«

Den Hühnern ging es gut. Sie hockten alle im Schuppen. Als Sprotte mit der Taschenlampe hineinleuchtete, um sie zu zählen, zeterten sie los, als hätten sie zwei Wochen nichts zu fressen gekriegt.

»Ein Glück!«, seufzte Sprotte. »Alle da.« »Hörst du ihr Gezeter? Sie benehmen sich genau wie bei deiner Oma«, sagte Frieda und verschloss das Loch zum Auslauf mit einem Brett. Einen großen Stein rollte sie vorsichtshalber auch noch davor. Gegen ungebetene Besucher. »Wilma hat Recht«, flüsterte Frieda, als sie wieder nach draußen traten. »Es ist unheimlich hier im Dunkeln.« Pechschwarz ragten die Bäume in den Himmel. Die nächste Laterne stand ein ganzes Stück entfernt an der Straße. Nur die Sterne schienen vom Himmel, und irgendwo sah man ein paar erleuchtete Fenster.

»Hast du das gehört?«, flüsterte Frieda und griff nach Sprot-tes Arm.

»Was?«, fragte Sprotte und verriegelte den Schuppen. Zwei Riegel hatte sie an die Tür geschraubt, einen unten, einen in der Mitte. Vorsichtshalber.

»Ich weiß nicht...«, murmelte Frieda und sah sich um. »Ach, komm.« Sprotte lachte leise. »Wollen wir noch mal nach dem Wohnwagen sehen?«

»Nee«, sagte Frieda schaudernd. »Lass uns nach Hause fahren.«

Gemeinsam schlenderten sie durch das nachtfeuchte Gras zur Straße zurück. Sprotte verschloss das Gatter mit einem Stück Draht.

»Wer ist morgen mit Füttern dran?«, fragte Frieda, während sie die dunkle Straße entlangfuhren.

»Melanie und Trude«, antwortete Sprotte. »Wird dann auch nicht viel heller sein als jetzt.« »Verdammter Winter«, murmelte Frieda. »Ja, aber wir haben ein Bandenquartier«, sagte Sprotte. »Und die Jungs haben morgen keins mehr. Auch wenn der eine Bagger jetzt eine kaputte Scheibe und keine Scheinwerfer mehr hat.«

»Ich ma g gar nicht dran denken«, murmelte Frieda. Und auf dem Heimweg fragten sie beide sich, wo Willi wohl war und ob er auch Angst im Dunkeln hatte.

Загрузка...