13

Samstags um Viertel nach acht lief eine von Oma Slättbergs Lieblingssendungen. Davor guckte sie Tagesschau. Weil sie dabei so wunderbar auf alles und jeden schimpfen und behaupten konnte, früher wäre alles viel netter gewesen. »Die Welt war noch nie nett«, sagte Sprottes Mutter immer, wenn Oma Slättberg von den guten alten Zeiten schwärmte. Stundenlang konnten sie sich darüber streiten. Na ja. Melanie und Wilma warteten schon, als Sprotte angerast kam. Sie war völlig außer Atem, weil sie zu Hause vor dem Fernseher eingeschlafen war, aber das sagte sie den ändern natürlich nicht. Von Oma Slättbergs Päckche n erzählte sie auch kein Wort.

»Alles klar?«, fragte Melanie, spuckte ihr Kaugummi aus und schob sich ein neues zwischen die Zähne. »Oder ist der Fernseher von deiner Oma noch kaputtgegangen?« Melanie kaute immer Kaugummi, wenn sie aufgeregt war, bei Klassenarbeiten brachte sie es manchmal auf zwei Päckchen. »Nee, alles in Ordnung«, sagte Sprotte, ohne sie anzugucken. Sie war nicht gut im Lügen, erst recht nicht, wenn sie dabei jemandem ins Gesicht sehen musste. »Ich bin so aufgeregt!«, stöhnte Wilma. »Kotzübel ist mir. Als wir an einem Polizeiauto vorbeigefahren sind, bin ich denen vor Schreck fast in den Kotflügel gefahren.« »Stimmt!« Melanie kicherte. »Wilma sieht sich schon im Zuchthaus. Lebenslänglich, wegen heimtückischer Hühnerentführung. «

»Lach nic ht so blöd«, schniefte Wilma. »Wenn meine Mutter wüsste, was ich hier treibe, würd ich lebenslänglich Stubenarrest und Fernsehverbot bekommen.« Beleidigt prustete sie in ihr Taschentuch.

Trude bog in die Straße ein. Als sie ihr Fahrrad zu den ändern auf den Bürgersteig schob, sah sie sich nervös um. »Hallo«, flüsterte sie. »Ihr fallt vor den Tannen wirklich kaum auf.«

Der Nebel hatte sich etwas verzogen, aber im Schaumkrautweg standen zum Glück nur wenige Straßenlaternen, und weil die Hühner alle, wie verabredet, dunkle Kleidung trugen, waren nur die Rücklichter ihrer Fahrräder deutlich zu erkennen.

»Können wir Taschenlampen benutzen?«, fragte Trude und ließ ihre aufleuchten.

»Besser nicht«, raunte Sprotte. »Taschenlampen in der Dunkelheit sehen irgendwie verdächtig aus.« Schnell knipste Trude die Lampe wieder aus.

»He, Trude.« Wilma beugte sich vor und guckte ihr besorgt ins Gesicht. »Was ist mit dir los? Du hast ja ganz verheulte Augen.«

»Ach«, Trude schüttelte den Kopf und fuhr sich durch das kurze Haar. »Ich hab heute Vater-Tag gehabt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was ich mir wegen der Haare anhören musste!«

Vier Räder bogen in die schmale Straße ein.

»He, da stecken sie!«, rief Steve und raste Melanie fast in den Hinterreifen.

»Wie ein Haufen Verschwörer!«, spottete Torte. »Als wolltet ihr eine Bombe legen oder so was.«

»Könnt ihr vielleicht noch'n bisschen lauter rumschreien?«,

fauchte Sprotte, während Fred sein Fahrrad neben ihres schob.

»Ach, komm«, Willi stellte sich neben Melanie. »Ich denk, deine Oma ist schon scheintot. Die müsste Ohren wie 'ne Fledermaus haben, um uns hier zu hören.«

»Meine Oma ist alles andere als scheintot!«, zischte Sprotte.

»Sie braucht im Moment eine Krücke, aber damit ist sie wahrscheinlich immer noch schneller als Steve mit seinem Hängebauch.«

»He, mein Bauch geht dich gar nichts an, klar?«, sagte Steve beleidigt.

Sprotte ignorierte ihn. »Die Kartons sind nicht gerade groß«, stellte sie mit einem Blick auf Freds Gepäckträger fest.

»Habt ihr an das Grünzeug gedacht?« »Klar«, knurrte Fred genervt.

Torte sah sich suchend um. »Wo ist Frieda? Bei ihrer Allerheiligen­ Gruppe?«

»Sie ist mit einem anderen Jungen zusammen!«, flüsterte Melanie ihm zu. Wütend starrte Torte sie an. »Allerdings!« Wilma kicherte. »Sie ist mit ihrem kleinen Bruder aufm Laternenumzug.«

»Auf jeden Fall kommt sie noch«, raunte Sprotte. »Trude, knips noch mal die Taschenlampe an. Uhrenvergleich.« »Sechs Minuten nach acht«, sagte Willi. »Meine geht hundertprozentig richtig.«

»Um Punkt Viertel nach acht«, flüsterte Sprotte, während Melanie und Steve ihre Uhren nachstellten, »schleichen wir uns in den Garten. Aber vorher muss ich noch das Tor ölen, weil meine Oma es extra quietschen lässt. Das hab ich heute nicht mehr geschafft.«

»Viertel nach acht!«, stöhnte Torte. »Da können wir uns ja noch verdammt

lange die Beine in den Bauch stehen. Und das bei der Kälte.«

»Also, ich hab's nicht eilig, bei O. S. rumzuschleichen«, sagte Melanie und begann sich ihren schwarzen Schal um den Kopf zu schlingen.

»Warte, ich helf dir«, murmelte Willi und schob ihr eine Haarsträhne unter den Schal. Sprotte und Wilma schmierten sich gegenseitig schwarze

Farbe ins Gesicht, während Trude mit ihrer Taschenlampe für Licht sorgte. Wilma hatte doch noch Theaterschminke besorgt, nachdem sie einmal an der schwarzen Schuhcreme geschnuppert hatte.

Die Pygmäen zogen sich schwarze Strumpfmasken über die Köpfe. »Na, wie sehen wir aus?«, fragte Fred. »Seid ihr verrückt geworden?« Entgeistert guckte Sprotte die vier an. »Soll meine Oma vor Schreck einen Herzinfarkt kriegen?«

»Na, meinst du, ihr seht besser aus?«, antwortete Fred ärgerlich.

»Er hat Recht, Sprotte.« Kichernd nahm Melanie Trude die Brille ab und schwärzte ihr das Gesicht. »Ihr seht wirklich nicht besser aus.«

»Vorsicht!« Wilma zog Melanie und Trude etwas tiefer unter die Tannen. »Hundebesitzer im Anmarsch.« Ein dicker Mann bog mit seinem Schäferhund in die Straße ein. Er ging den Bürgersteig auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang, aber immer wieder guckte er misstrauisch zu ihnen herüber.

»Mensch, das ist Feistkorn, der Nachbar von meiner Oma«, flüsterte Sprotte entsetzt. »Wenn der unsere schwarzen Gesichter sieht...«

»Masken ab!«, zischte Fred. Hastig rissen sich die Pygmäen die Strümpfe von den Köpfen. »Und jetzt für die Schwarzgesichter Tarnung >Liebespaar<. Schnell.« Fred legte Sprotte den Arm um die Schulter, zog sie ganz nah an sich ran und grinste ihr ins bemalte Gesicht. »Wunderbar siehst du heute Abend aus«, säuselte er. »Atemberaubend wunderbar!« »Lass das!«, zischte Sprotte und lugte über seine Schulter. Omas Nachbar war jetzt fast auf ihrer Höhe. Neugierig guckte er zu ihnen herüber. Melanie versteckte den Kopf an Willis Schulter, Trude duckte das schwarze Gesicht kichernd unter Steves Kinn, und Wilma drückte sich an Torte. »Wenn der mich erkennt«, flüsterte Sprotte Fred ins Ohr, »dann ist alles vorbei.«

»Wie soll der dich mit einem Pfund schwarzer Schminke im Gesicht erkennen?«, flüsterte Fred zurück. Feistkorn stand auf der anderen Straßenseite, den Hund ganz kurz an der Leine. »Wohnt ihr hier?«, rief er über die Straße. »He, ihr da!«

»Verflixt«, murmelte Willi. »Im Film funktioniert die Liebespaarnummer immer.«

Da drehte Torte sich um. »Seht doch! Was für ein Glück!«, rief er mit schriller Stimme. »Ein Eingeborener. Können Sie uns sagen, wo hier das Schützenfest stattfindet? Unsere Damen sind schon halb erfroren. Wir irren seit einer Ewigkeit durch diese Einöde, und unsern Chauffeur haben wir leider nach Hause geschickt!« Sprotte stöhnte leise auf.

Feistkorn machte ein Gesicht wie eine bissige Bulldogge. »Macht, dass ihr wegkommt!«, schnauzte er und zerrte den Hund weiter. »Sonst werden wir ja sehen, ob ihr die Polizei genauso veralbert wie mich.«

Der Schäferhund fing an zu bellen. Feistkorn zerrte ihn weiter die Straße runter, aber er sah sich immer wieder um. »Los!«, flüsterte Sprotte und schubste Fred zurück. »Wir müssen so tun, als würden wir verschwinden. Sonst geht der nie ins Haus.«

Sie schoben die Räder zurück zur Hauptstraße. Als sie alle um die Ecke gebogen waren, schlich Wilma dicht an eine Hecke gepresst zurück. Feistkorn stand immer noch an der dunklen Straße, als müsse er sich und seine unschuldigen Nachbarn vor einer Bande ausgewachsener Straßenräuber schützen. Endlich, als die Hühner es gründlich leid waren, ihre schwarzen Gesichter an den Schultern der Pygmäen zu verstecken, und der größte Teil der Schminke schon an deren Jacken klebte - da endlich stieß Wilma drei kurze Pfiffe aus.

»Was war das?«, fragte Fred. »Klang nach kaputter Kuckucksuhr.«

»Entwarnung«, sagte Sprotte. »Wie spät?« »Schon zwanzig nach acht«, flüsterte Steve. Sprotte guckte sich beunruhigt um. »Verdammt, wo bleibt Frieda?«

»Auf die können wir nicht mehr warten«, zischte Fred. »Los, bringen wir’s hinter uns. Dieser Dicke hat mich irgendwie nervös gemacht.«

Hastig schoben sie ihre Räder wieder in die schmale Straße. Wilma winkte ihnen zu. Von Feistkorn war nichts mehr zu sehen, aber an seinem Grundstück schlichen sie besonders vorsichtig vorbei.

Die Straße war feucht vom Regen. Seit Stunden nieselte es. »Verdammt, es wird glatt!«, flüsterte Melanie, als sie ihre Räder in das dichte Gebüsch gegenüber von Oma Slättbergs Garten schoben. Fred, Torte, Sprotte und Melanie klemmten sich die Pappkartons unter den Arm. Ein Blick nach rechts, einer nach links, dann liefen sie geduckt auf Oma Slättbergs Gartentor zu und hockten sich hinter die Hecke. »Oje, ich piss mir gleich in die Hosen vor Aufregung!«, stöhnte Steve.

Wilma hielt sich die Nase zu, um nicht loszuniesen. »Los, Sprotte, das Tor!«, zischte Fred. Sprotte zog ein kleines Ölkännchen aus der Tasche. In dem Moment stieß Trude einen spitzen Schrei aus und fuhr in die Höhe. Die ändern sprangen auf. Ein Fahrrad kam die Straße runtergerast. »Wer ist das?«, quietschte Wilma.

Melanie presste ihr die Hand auf den Mund. »Sei still! Das ist Frieda, du Meisterspionin.«

Es war Frieda, eine völlig atemlose Frieda. Gebückt huschte sie über die Straße und hockte sich zwischen Sprotte und Melanie hinter die Hecke. »Dieser Laternenumzug ...«, japste sie, »... nahm einfach kein Ende. Und dann hat Luki auch noch in die Hosen gemacht. Ich ...«

»Pssst!« Sprotte hielt den Finger vor die Lippen. »Wir sind spät dran, viel zu spät. Es ist gleich halb neun.« »So spät schon. Verdammt!« Melanie schmierte Frieda schnell noch etwas schwarze Schminke ins Gesicht. Vorsichtig, ganz vorsichtig öffnete Sprotte das Tor und bewegte es in den Angeln. Lautlos schwang es hin und her. »Warum lässt deine Oma ihr Tor quietschen?«, flüsterte Steve. »Steht sie auf das Geräusch, oder was?« »Sie hat Angst vor Einbrechern«, flüsterte Frieda ihm zu. »Umso besser«, knurrte Willi. »Dann steckt sie wenigstens nicht die Nase aus der Tür, wenn sie uns hört.« Zum zweiten Mal streiften sich die Pygmäen ihre Strumpfmasken über.

»Halt.« Sprotte holte tief Luft und guckte die ändern an. Sie musste es ihnen sagen.

»Hätt ich fast vergessen, euch zu erzählen. Meine Oma ...«, sie warf einen Blick zum Haus. Nur das Wohnzimmerfenster war hell erleuchtet. Ihre Großmutter verschwendete nie Strom.

»Nun sag schon ...«, flüsterte Fred ungeduldig. »Meine Oma hat sich eine Pistole gekauft«, murmelte Sprotte.

Mit einem Ruck riss Steve sich die Strumpfmaske vom Kopf. »Was?«

»Eine Pistole?«, flüsterte Wilma fassungslos. Nur Willi lachte leise. »Du meine Güte, eine Oma mit Pistole ! Macht euch nicht ins Hemd. Die wird sie doch sowieso nicht benutzen.«

»Ach ja?«, flüsterte Melanie und drängte sich eng an ihn. »Man merkt, du kennst Sprottes Oma nicht.« Bestürzt schwiegen alle. Hockten hinter Oma Slättbergs Hecke und schwiegen.

»Eine Pistole!«, hauchte Steve. »Nee, wenn die durchgeknallte Oma eine Pistole hat, geh ich da nicht rein.« »Aber dann bringt sie die Hühner um!« Vor Aufregung vergaß Trude zu flüstern. »Wir sind doch hier, um sie zu retten. Das ... «

»Also, wenn die Wahl lautet: Hühner geschlachtet oder ich erschossen«, unterbrach Torte sie, »dann bin ich für Schlachten. Da gibt's keine zwei Meinungen.« »Na gut!« Sprottes Stimme klang ganz zittrig, ob vor Wut oder vor Angst, wusste sie selbst nicht genau. »Dann mach ich's eben allein. Ist mir doch egal. Kann wenigstens einer von euch Helden Wache halten, falls dieser Feistkorn noch mal auftaucht?«

»Spiel dich nicht so auf!«, knurrte Fred und verschwand lautlos wie ein Marder in Oma Slättbergs Garten. Sprotte folgte ihm.

»Ich geh vor«, zischte sie und drängte sich an ihm vorbei. Geduckt liefen die beiden auf den Stall zu. Als Sprotte sich vor der Tür noch mal umsah, schlichen vier Hühner mit drei Pygmäen an Oma Slättbergs Gemüsebeeten vorbei. Nicht einer fehlte. Sprotte konnte nicht anders, sie musste lächeln. Fred grinste spöttisch zurück. »Los, mach schon die Tür auf«, raunte er. Die Hennen blinzelten verwirrt, als Sprotte das Licht anschaltete. In drei Reihen hockten sie auf ihren Stangen, dick aufgeplustert und dicht aneinander gedrängt. »Schnell«, flüsterte Sprotte, »packt sie euch, bevor sie sich an das Licht gewöhnt haben. Und wenn das nicht klappt, haltet ihnen die Fleischwurst vor die Schnäbel!« Einige Hennen zogen nur erschrocken die Köpfe ein, glucksten schicksalsergeben und schlössen die Augen, als sechzehn kalte Menschenhände nach ihnen grapschten. Die meisten aber stimmten ein entsetzliches Gezeter an, schlugen wild mit den Flügeln, sperrten die Schnäbel auf und trippelten mit scharfkralligen Füßen aufgeregt auf den Stangen hin und her. Die Fleischwurststreifen beruhigten sie etwas, aber sie waren schnell verschlungen. Sechs Hennen fingen die Hühnerretter noch auf den Stangen, aber die anderen retteten sich flatternd hinunter ins Stroh, und damit begann die Jagd erst richtig.

Nach draußen entwischen konnten die Hennen nicht. Das Loch, durch das sie tagsüber ein und aus gingen, hatte Sprottes Großmutter wie jeden Abend verschlossen, doch selbst in dem engen Stall war es nicht leicht, die aufgeregt hin und

her rennenden Hühner zu packen. Die Federn flogen, während Wilde Hühner und Pygmäen gegeneinander stolperten, sich ins Stroh warfen und gegen die Stallwände knallten. Aber irgendwann hatten sie es tatsächlich geschafft. Alle Hennen hockten in den Pappkartons, glucksten beleidigt vor sich hin und hackten mit den Schnäbeln Löcher in die Pappe.

Abgekämpft, die Haare und Kleider voll Stroh, die Hände zerkratzt von den Hühnerkrallen, torkelten die acht Retter mit den voll gestopften Kartons zur Stalltür. »Mann, ich fühl mich, als war ich auf Löwenjagd gewesen«, schimpfte Fred und spuckte eine Feder aus. »Pssst!« Sprotte lauschte an der Stalltür und klopfte zweimal. Wilma, die draußen Wache stand, klopfte zweimal zurück. Das hieß, die Luft war rein. Vorsichtig öffnete Sprotte die Tür.

»Habt ihr sie?«; flüsterte Wilma und hielt sich noch gerade die Nase zu, bevor sie losnieste.

Sprotte nickte und sah sich um. Dunkel und still lag der Garten vor ihnen. Hinter Oma Slättbergs Wohnzimmerfenster flimmerte der Fernseher. Nebenan bei Feistkorn rührte sich nichts. Beruhigt winkte Sprotte den ändern, ihr zu folgen. Mit klopfendem Herzen schlich sie zwischen Rosenkohl- und Kräuterbeet hindurch Richtung Gartentor. Im Karton unter ihrem Arm rutschten die Hennen hin und her, scharrten und klopften mit den Schnäbeln gegen die Pappe.

Sprotte hatte den halben Weg hinter sich gebracht, als der Fernseher in Oma Slättbergs Wohnzimmer ausging. Die Hühnerretter erstarrten, als wären sie zu Gartenzwergen geworden. Nichts war zu hören, nur das Scharren und Picken der Hühner. Sprotte schnappte nach Luft, aber ihr rasendes Herz konnte das nicht beruhigen. Ohne einen Blick von dem dunklen Wohnzimmerfenster zu wenden, machte Sprotte einen lautlosen Indianerschritt vor, dann noch einen, dann einen weiteren. Leise wie Geister folgten die anderen ihr. Nur Oma Slättbergs säuberlich geharkter Gartenweg knirschte unter ihren Sohlen. Dann ging das Licht in der Küche an.

Steve stolperte vor Schreck gegen Torte, Torte rutschte der Karton weg, knallte auf die Erde, klappte auf - und eine Henne streckte mit empörtem Gezeter den Hals raus. Das war's.

Sprotte sah ihre Oma hastig am Küchenfenster vorbeihumpeln. Richtung Haustür.

»Schnell!«, schrie Fred und stieß Sprotte seinen Karton in den Rücken. Sprotte stolperte los, auf das Gartentor zu. Nur ein paar lächerliche Meter war es noch weg. Da flog die Haustür auf, und ihre Großmutter stand im Türrahmen, die Krücke unterm Arm wie Long John Silver, in der Hand die Pistole.

»Halt!«, schrie sie, so laut, dass Feistkorn drüben bestimmt aus seinem Fernsehsessel rutschte. »Stehen bleiben!«

Steve gehorchte sofort und riss die Arme hoch, während Torte nur mit offenem Mund neben seinem fallen gelassenen Karton stand. Wilma hob auch die Hände, als Nächste Trude. Dann Willi. Er war wohl nicht mehr so sicher, dass Oma Slättberg nicht schießen würde.

Sprotte stand schon am Tor. Was sollte sie tun? Sie schob ihren Karton auf den Bürgersteig, Fred drückte ihr seinen in die Arme - und stand dann ebenso ratlos da wie sie. »Na bitte!«, rief Oma Slättberg. »Und jetzt die Masken runter.«

Mit zufriedener Miene ließ sie die Pistole sinken - da löste sich ein Schuss.

»Platzpatronen!«, schrie Willi. »Mensch, das sind bloß verdammte Platzpatronen!« Mit einem Satz schnappte er sich Tortes Karton, aus dem immer noch die zeternde Henne guckte, und rannte damit zum Gartentor. Außer sich vor Wut ballerte Oma Slättberg hinterher, doch das erschreckte nun niemanden mehr. Nur Torte stand immer noch da wie vom Blitz getroffen, aber Frieda und Steve zerrten ihn mit sich. Als Letzte rannte Wilma durchs Gartentor, während Sprottes Großmutter wütend die Krücke schwenkte und mit schriller Stimme nach Feistkorn rief.

Aber den dicken Feistkorn hatten ihre Schüsse offenbar so beeindruckt, dass er sich nicht mal ans Telefon traute, um die Polizei zu rufen. Sonst tat er das schon, wenn irgendwo ein Radio zu laut spielte.

Seite an Seite hetzten die Wilden Hühner mit den Pygmäen über die Straße. Wie Melanie befürchtet hatte, war es spiegelglatt geworden, und sie schlitterten mit den Kartons voller flatternder, gackernder Hühner über den Asphalt, als hätten sie Schmierseife unter den Sohlen. Hinter ihnen pfefferte Oma Slättberg die Pistole in den Grünkohl und humpelte laut zeternd ans Tor.

Mit zitternden Fingern zerrten die Hühnerretter die Fahrräder zwischen den vereisten Zweigen hervor, klemmten die Kartons auf die Gepäckträger der Mädchen und schwangen sich auf die Sättel.

»Ihr diebischen kleinen Ratten!«, schrie Oma Slättberg und rüttelte an ihrem Gartentor. Aber Wilma hatte das Tor in weiser Voraussicht mit einem Fahrradschloss verrammelt. »Einbrecherpack, elende Hühnerdiebe!«, zeterte Oma Slättberg, während Hühner und Pygmäen Seite an Seite schlingernd davonfuhren. Dann war es einen Augenblick still, vielleicht, weil selbst Sprottes wilde Großmutter mal nach Luft schnappen musste. Aber als die Kinder fast das Ende der Straße erreicht hatten, hörte Sprotte sie wieder schreien. »Sprotte!«, gellte es über die stille Straße: »Sprotte, ich weiß, dass du dahinter steckst! Kommt sofort zurück!« Sprotte rutschten vor Schreck fast die Füße von den Pedalen. Entsetzt guckte sie sich um, aber in der Dunkelheit konnte sie ihre Oma natürlich nicht sehen. »Fahr weiter!«, rief Fred. »Los, komm schon!«

»Deine Oma ist nicht dumm, was?«, keuchte er, als sie atemlos an der Straßenecke anhielten. »Aber die Hühner haben wir ihr trotzdem unterm Beil weggeschnappt!« »Ja!«, japste Sprotte und stützte sich auf den Lenker. »Ja, das haben wir!«

»Dann bringt sie jetzt mal ins Nest!«, sagte Fred. »Wo immer das ist.« Er wendete sein Rad und gab den ändern Pygmäen ein Zeichen.

»Lasst euch nicht vom Fuchs erwischen!«, rief Steve in den Autolärm. Von Oma Slättbergs Gezeter war nichts mehr zu hören. Fred winkte, dann fuhren die Jungs davon. Ohne sich noch mal umzusehen.

»Scheint, als hielten sie ihr Ehrenwort wirklich«, sagte Wilma, während sie den Pygmäen mit zusammengekniffenen Augen nachsah. »Kaum zu glauben.« »Kommt!«, rief Frieda. »Oder wollen wir hier anfrieren?« Sprotte guckte sich ein letztes Mal um.

Dann trat sie in die Pedale, und die fünf Wilden Hühner fuhren mit ihren gefiederten Schwestern davon, als wäre Oma Slättberg mit einer echten Pistole hinter ihnen her.

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