5

Am nächsten Morgen hörte Sprottes Mutter den Wecker nicht, weil sie die halbe Nacht in ihr Kissen geschluchzt hatte. Also kam Sprotte wieder mal zu spät, obwohl ihre Mutter sie samt Fahrrad mit der Taxe zur Schule fuhr. »Irgendeine Ausrede, Charlotte?«, fragte Frau Rose, als Sprotte in die Klasse stolperte.

Was sollte Sprotte darauf sagen? Meine Mutter hat Liebeskummer. Sie hat den Wecker nicht gehört, weil sie ihr voll geheultes Kissen überm Kopf hatte? Nein, so was erzählte man nicht, schon gar nicht, wenn die Pygmäen dahinten an ihren Tischen saßen und dumm grinsten. Also murmelte Sprotte nur: »'tschuldigung, hab verschlafen, Frau Rose«, und ging zu ihrem Platz, wo Frieda schon mit mitfühlendem Blick auf sie wartete.

»Setz dich ruhig«, flüsterte sie Sprotte zu. »Ich hab das Ei schon weggeschmissen.«

»Was für ein Ei?«, murmelte Sprotte und schob ihre Tasche unters Pult.

»Wir hatten heute Morgen alle ein rohes Ei auf dem Stuhl liegen«, flüsterte Wilma.

Neuerdings saß sie gleich hinter Sprotte. Aber lange würde das nicht gut gehen. Frau Rose runzelte schon ständig die Stirn, wenn sie in ihre Richtung sah.

»Trudes Ei ist auf dem Boden zerklatscht, aber Melanie hat sich mit ihrer frisch gewaschenen Hose mitten draufgesetzt«, raunte Wilma über Sprottes Schulter. »Sie war so sauer, dass sie Fred und Willi die glibbrigen Schalen an den Kopf geschmissen hat. Und weißt du, was das Tollste ist?« Wilma schniefte heftig in ein Taschentuch. »Die beiden haben die gekränkte Unschuld gespielt und alles abgestritten!« »Du meine Güte, die werden immer kindischer«, murmelte Sprotte. »Aber die können uns mal. Wir haben ganz andere Sorgen, das sag ich euch! Meine Oma ... « »Charlotte, Wilma«, sagte

Frau Rose. »Schluss mit dem Getuschel. Wir sind hier nicht im Hühnerstall.« In der vorletzten Reihe fingen die Pygmäen vierstimmig an zu gackern. Täuschend echt konnten sie das, aber Frau Rose beendete die Vorstellung mit einem Blick. Dann spitzte sie die an diesem Morgen kirschrot geschminkten Lippen, zog ihr kleines Buch raus und machte wegen der Verspätung das fünfte Kreuz hinter Sprottes Namen. Noch ein Kreuzchen mehr, und Sprotte würde Punkt sieben kommen müssen, um einen Aufsatz zu schreiben über das schöne Thema: Berufe, für die man früh aufstehen muss.

Den Rest der Stunde nahm Frau Rose Sprotte so oft dran, dass sie es nicht mal schaffte, die anderen Hühner per Geheimschrift-Nachricht über Oma Slättbergs Anruf zu informieren. Erst in der großen Pause, als alle auf dem Gang vor der Klasse rumhingen, weil es draußen regnete wie am ersten Tag der Sintflut, kam Sprotte dazu, die schlechte Nachricht zu verkünden.

»Sonntag ist geplatzt!«, raunte sie, als die anderen Hühner um sie rumstanden. »Die Hühnermörderin hat sich den Fuß verknackst. Sie fährt nicht zu ihrer Schwester.« »O nein!«, stöhnte Trude. »Was machen wir denn jetzt?« Sprotte sah sich um, aber die Pygmäen standen alle drüben vor der Parallelklasse rum und stritten darüber, wer der beste Fußballer der Welt war.

»Ich bin kaum zum Denken gekommen«, sagte Sprotte leise. »Meine Mutter hat sich die halbe Nacht die Augen aus dem Kopf geheult wegen diesem Typen, mit dem sie zusammen war. Vorher hat sie die Hälfte von unserm Geschirr zerschmissen, seine Socken verbrannt und beschlossen, dass wir auswandern.«

»Wie romantisch!«, hauchte Wilma und musste so heftig niesen, dass ihr der Haarreif verrutschte.

»Mensch, dauernd niest du in meine Richtung«, zischte Melanie und fingerte nervös an dem kleinen Pflaster rum, das sie sich auf ihren neuesten Pickel geklebt hatte. Herzförmig, mit Glitter drauf. Sie trug ihre Sport-Leggins. Die eierbekleckerte Hose weichte auf dem Mädchenklo im Waschbecken vor sich hin.

»Romantisch? Na, ich kann mich beherrschen«, murmelte Sprotte.

»Wohin denn auswandern?«, fragte Trude besorgt. »Nach Amerika«, knurrte Sprotte. »Taxifahrerin in New York will sie werden.«

»Die Ärmste«, murmelte Frieda. »Liebeskummer ist eine scheußliche Sache.«

»Ach ja?« Spöttisch guckte Melanie sie von der Seite an. »Seit wann kennst du dich denn damit aus?« »Schluss mit dem Thema!«, zischte Sprotte. »Wir müssen über den Fuchsalarm reden.« Sie sah sich noch mal nach den Pygmäen um, aber die waren vollauf miteinander beschäftigt. Willi hielt den kichernden Torte im Schwitzkasten, und Fred kitzelte Steve durch. Beruhigt drehte Sprotte ihnen wieder den Rücken zu. »Wir können nur eins machen, wenn wir die Hühner retten wollen«, sagte sie. »Wir ...«, sie senkte die Stimme, »... wir entfuhren sie Samstagabend, wenn die Hühnermörderin vorm Fernseher sitzt.« Entgeistert guckten die ändern vier sie an. »Wie?« Trude rückte sich beunruhigt die Brille zurecht. »Du willst die Hühner stehlen, wenn deine Oma zu Hause ist?« »Hört sich nicht nach einer von deinen besseren Ideen an«, sagte Melanie. »Das sind fünfzehn Hühner!«, flüsterte Wilma. »Da muss jede von uns drei Hennen schleppen. Wie soll das denn gehen? Nee!« Sie schüttelte den Kopf. »Die entwischen uns, und dann rennen wir durch den ganzen Garten hinter ... « »Quatsch«, unterbrach Sprotte sie. »Wir packen sie im Stall in Kartons. Drei Kartons reichen dicke für die paar Hennen.«

»Aber es wird ewig dauern, bis wir die alle gefangen haben!«, meinte Melanie. »Eine von uns muss Wache stehen, die fällt also schon mal aus, bleiben noch vier. Vier für fünfzehn Hennen. Außerdem werden die blöden Viecher bestimmt ein Mordsgeschrei machen. Was ist, wenn deine Oma das hört?« »Die hackt uns glatt auch die Köpfe ab«, murmelte Wilma düster.

»Ja, und?« Sprotte vergaß vor Aufregung zu flüstern. »Was sollen wir eurer Meinung nach machen?« Trude räusperte sich. »Wie war's, wenn wir die Pygmäen fragen? Wenn wir ihnen erklären, dass es um Leben und Tod geht, helfen die uns bestimmt.«

Sprotte guckte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Wilma kicherte ungläubig.

»Bist du übergeschnappt?«, zischte Sprotte - und sah sich nach den Jungs um. Fred bemerkte ihren Blick und gackerte. Genervt schnitt Sprotte ihm eine Grimasse. »Ich weiß gar nicht, was du hast. Ist doch keine schlechte Idee!« Melanie fummelte schon wieder an ihrem Pflaster rum.

»Es würde schneller gehen«, murmelte Frieda. »Und schnell gehen muss es, wenn wir nicht riskieren wollen, dass deine Oma uns erwischt. Vielleicht hat Trude Recht.« »Wenn die Jungs mitmachen, muss jeder nur zwei Hennen fangen«, sagte Melanie. »Das ... «

»Nicht ganz zwei«, unterbrach Wilma sie. »Fünfzehn durch acht... «

Melanie warf ihr einen genervten Blick zu. »Blitzschnell wird das gehen«, flüsterte sie. »Wir stopfen sie in die Kartons ...« »... aber höchstens drei in einen«, sagte Trude. »Damit sie es nicht zu eng haben ... «

»... und machen, dass wir wegkommen«, beendete Melanie den Satz. »Im Schleichschritt wieder raus aus dem Garten, Kartons auf die Gepäckträger, mit Spanngummis festzurren und los. Die Pygmäen können deine Oma sogar ablenken, falls sie doch hinter uns herkommt, Rückendeckung sozusagen.«

Mit gerunzelter Stirn fingerte Sprotte an ihrer Zahnspange herum. »Die machen viel zu viel Lärm, diese Trampel«, murmelte sie.

Aber Trude schüttelte den Kopf. »Ach was, wie Indianer können die schleichen. Hast du vergessen, wie sie uns die Klamotten geklaut haben?«

Melanie kicherte und guckte zu den Jungs rüber. Willi wurde rot, als er ihren Blick bemerkte, und guckte in eine andere Richtung.

»Es geht doch um die Hühner, Sprotte!«, sagte Frieda. »Glaub mir, ich bin im Moment wirklich nicht wild auf Tortes Nähe, aber die Hühner sind wichtiger.« Sprotte schwieg. »O Mann«, stöhnte sie. »Aber für die Eier heute Morgen müssen sie sich entschuldigen!«, schniefte Wilma.

»Mindestens«, knurrte Sprotte. Sie stie ß Wilma an. »Okay, geh zu ihnen. Richte ihnen aus, wir wollen was mit ihnen besprechen. Hinten am Ende vom Flur. Aber sie sollen sich beeilen. Die Pause ist bald rum.«

»Wird gemacht«, sagte Wilma - zupfte die Hühnerfeder zurecht, die um ihren Hals baumelte, setzte ihr würdevollstes Gesicht auf und ging gemessenen Schritts auf die Jungen zu. Vor ein paar Wochen noch war sie immer losgeschossen wie ein übereifriger kleiner Hund, wenn Sprotte ihr einen Auftrag gab, aber inzwischen hatte sie wirklich Stil als Kurier.

Die Pygmäen stießen sich an, als Wilma auf sie zuschritt. Torte und Steve staksten gackernd mit wackelndem Hintern umeinander herum, Fred setzte sein Chef-Gesicht auf, und Willi stellte sich hinter ihn, als wär er sein Bodyguard. Aber Wilma konnte das nicht aus der Ruhe bringen. Mit todernster Miene und roter Nase übermittelte sie Sprottes Nachricht. »Guckt euch an, wie die grinsen!« Sprotte stöhnte. »Das verzeih ich meiner Oma nie, dass ich diese Idioten ihretwegen um Hilfe bitten muss.« Mit finsterer Miene drehte sie sich um und ging zum Ende des Flurs, Melanie, Trude und Frieda im Schlepptau.

Die Pygmäen kamen. Betont lässig schlenderten sie hinter Wilma her.

»Das dachte ich mir. Sie kosten ihren Triumph so richtig aus!«, knurrte Sprotte.

»Ach, lass sie doch«, sagte Melanie und setzte schon mal ihr Engelslächeln auf, wie immer, wenn ein Junge in ihre Nähe kam.

»Ach, lass sie doch!«, äffte Sprotte sie nach. »Du kannst... « Aber da standen die Pygmäen schon vor ihr. »Was gibt's?«, fragte Fred. »Irgendwelche Probleme, die ihr nur mit männlicher Hilfe lösen könnt?« Steve kicherte albern, und Torte grinste so breit, dass ihm fast die Segelohren abfielen. Nur Willi verzog wie immer keine Miene, verschränkte die Arme über der Brust und versuchte, nicht in Me lanies Richtung zu gucken. Die guckte auch ganz

auffällig nicht in seine.

»Was sollte das heute Morgen mit den Eiern?«, fragte Sprotte ohne die Spur eines Lächelns.

»Das war keine Pygmäen-Aktion«, sagte Fred. »Das war mehr privat.« Torte wurde blass und schob sich hinter Willis Schulter.

»Ist mir egal, was das war!«, fauchte Sprotte. »Ich denk, du bist der große Oberboss bei euch, also sorg gefälligst dafür, dass deine Zwerge sich benehmen. Wir haben im Moment keine Zeit für ihre Kindergarten-Scherze. Wenn das noch mal vorkommt, kriegt ihr von Frieda keine Spickzettel beim nächsten Mathetest, klar?« »Klar, klar«, knurrte Fred. »War das alles?« »Nee, leider nicht«, Sprotte rieb sich die Nase. »Wir haben einen Notfall. Meine Idee war's nicht, euch um Hilfe zu bitten, aber die anderen wollten's so, und wir sind eine demokratische Bande. Außerdem geht's um Leben und Tod.« »Um Leben und Tod?« Fred hob spöttisch die Augenbrauen. »Na klar, Sprotte. Hast du's vielleicht eine Nummer kleiner?«

»Sprottes Oma will ihre Hühner schlachten«, sagte Frieda. »Alle fünfzehn.«

Sprotte kam es fast so vor, als würde Fred etwas blass um die Nase. Er mochte Hühner, sehr sogar, das wusste sie. Bei den anderen dreien war sie sich da nicht so sicher. »Was, deine Oma will euch schlachten?«, fragte Steve. »Das ist ja wie bei Hansel und Gretel.«

Fred brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Wieso denn alle?«, fragte er.

Sprotte zuckte die Achseln. »Weil sie nicht mehr genug Eier legen, weil sie zäh werden, weil meine Oma keine Lust hat, sie im Winter durchzufüttern ... Ist ja auch egal, oder? Nächsten Mittwoch will sie sie schlachten, aber dazu wird's nicht kommen, weil ...«, sie guckte Fred an, »... weil wir ihr die Hennen vorher aus dem Stall holen.«

Fred hob die Augenbrauen. »Wann?«, fragte er. »Samstagabend«, antwortete Sprotte, »wenn meine Oma vorm Fernseher sitzt. Jeden Samstag um Viertel nach acht sitzt sie wie ein hypnotisiertes Karnickel vor der Kiste. Darauf kann man sich verlassen. Aber es sind fünfzehn Hühner, die wir fangen und in Kartons stopfen müssen, und wir sind bloß zu viert, wenn eine von uns vorm Stall Wache steht. Also hatten die ändern die Idee, dass wir euch fragen, ob ...« Sprotte schluckte. Sie brachte es nicht über die Lippen. »... ob wir euch helfen«, beendete Fred den Satz für sie. »Beim Hühnerklauen.«

Er konnte sich das Grinsen einfach nicht verkneifen. »Ja, beim Hühnerklauen«, fauchte Sprotte. »Wenn du's so nennen willst... «

Fred drehte sich zu den anderen Pygmäen um. »Ihr habt's gehört«, sagte er. »Samstagabend.« »Hört sich nach Spaß an«, meinte Torte. »Das ist aber kein Spaß!«, fuhr Sprotte ihn an. »Das ist todernst, klar?«

Torte flüsterte Fred was zu. Nachdenklich zupfte Fred an seinem Ohrring, dem Bandenzeichen der Pygmäen. »Okay, Samstagabend«, sagte er. »Und als kleines Dankeschön für unsere Hilfe gebt ihr uns einen Gutschein.« »Einen Gutschein, was soll das denn?«, fragte Sprotte misstrauisch. »Das ist doch bestimmt auf Tortes Mist gewachsen.« Frau Rose kam vom Lehrerzimmer zurück.

Fred zuckte die Achseln. »Es könnte ja mal der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass wir auch Hilfe brauchen.« »Zum Beispiel beim Knöpfeannähen oder Strümpfestopfen!«, meinte Torte.

»Haha, unglaublich witzig.« Sprotte musterte ihn verächtlich von oben bis unten.

»Wir können ja reinschreiben, kein Kochen und keine Küsse«, schlug Steve vor.

Willi stieß ihn in den Rücken. »Halt die Klappe, Steve.« »He, he, war doch nur ein Witz«, murmelte Steve. »Eure Witze waren auch schon mal besser«, sagte Melanie. Sie warf Willi einen schnellen Blick zu, mit einem Lächeln als Zugabe.

Stirnrunzelnd sah Sprotte die anderen Hühner an. »Find ich okay, das mit dem Gutschein«, sagte Frieda. Trude und Wilma nickten. Melanie zuckte nur die Achseln. »Wenn sie drauf bestehen.«

»Okay«, sagte Sprotte. »Ihr kriegt das Ding, spätestens morgen. Wegen Samstagabend - falls ihr es vergessen habt, meine Oma wohnt im Schaumkrautweg 31, aber wir treffen uns am besten erst mal vorn in der Straße. Auf der linken Seite ist ein Grundstück mit hohen Tannen. Punkt acht warten wir da auf euch. Die Kartons für die Hennen ...« »... besorgen wir«, unterbrach Fred sie. »In Tortes Keller stehen jede Menge rum. Aber wo bringen wir das Federvieh hin, wenn wir's geklaut haben?«

»Das geht euch nichts an«, antwortete Sprotte. »Ihr sollt uns bloß beim Einfangen helfen.«

»Ach ja, ihr habt ja immer noch kein Hauptquartier!« Höhnisch verzog Torte das Gesicht. »Steckt ihr euch die Köpfe gegenseitig untern Hintern, wenn es kalt wird? Wie die echten Hühner?«

Die Klingel übertönte Sprottes Antwort. »Falls ihr keinen Platz findet«, sagte Fred und drehte sich um, »wir würden die Hühner auch eine Weile bei uns am Baumhaus verstecken.«

»Danke!«, murmelte Sprotte, während sie alle zurück zur Klasse gingen. Sie flehte die Götter an, dass sie das Angebot nicht annehmen mussten.

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