Am nächsten Tag fielen die letzten zwei Stunden aus, weil Frau Rose so erkältet war, dass sie nur noch krächzen konnte. Bloß die Pygmäen mussten nachsitzen, weil sie sich in der ersten großen Pause mit ein paar Jungs aus der Parallelklasse geprügelt hatten. Sie waren mit einer fürchterlichen Laune in die Schule gekommen, und nach der Prügelei sahen sie dann auch furchtbar aus. Die Hühner überlegten, ob sie Frau Rose von den Baggern erzählen sollten, aber als Frieda zu ihr gehen wollte, räumte Frau Rose gerade schniefend das Pult für Herrn Eisbrenner, und dem erzählte man besser überhaupt nichts von irgendwas.
Trude ließ den Jungs zum Trost zwei Schokoladenriegel da, und Melanie gab Willi eins von ihren Blumentaschentüchern für seine blutende Nase. Dann machte sie sich mit Sprotte auf den Weg zum Schrottplatz, wo sie so billig Maschendraht und Holzpfosten kauften, dass die Bandenkasse auch noch drei Tüten Chips und zwei Literflaschen Cola hergab. Frieda blieb noch in der Schule, um Plakate für eine Spendenaktion aufzuhängen. Wilma musste erst mal nach Hause, weil ihre Mutter ihr verboten hatte, die Schulaufgaben mit den ändern zusammen zu machen, und Trude - tja, die wollte nur noch schnell mit Paolo zu Mittag essen. Trotzdem - um zwei Uhr wollten sie sich alle am Wohnwagen treffen.
Als Melanie und Sprotte ihre schwer beladenen Räder vor dem Gatter abstellten, lehnte Trudes schon an der Hecke. Sie hatte Tee gekocht und den Wohnwagen geheizt. Es war ein kalter Tag, aber die Sonne schien, und der blaue Wagen sah noch schöner aus als am Tag zuvor.
»Sieht das gemütlich aus!«, seufzte Melanie, als sie hineinkletterten. Die Sonne fiel durch das Fenster herein, und feiner Staub tanzte wie Silberpulver in ihren Strahlen. »Können wir nicht erst mal Tee trinken, bevor wir schon wieder arbeiten?«
»Nee«, sagte Sprotte. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Stell den Tee aufs Stövchen, Trude.«
Als sie zu dritt die Drahtrolle zum Schuppen schleppten, kamen auch Wilma und Frieda - ohne kleinen Bruder. »Ich hab mit Titus getauscht!«, rief sie über die Wiese. »Er passt heute auf, und dafür geh ich morgen Abend mit dem Kurzen zum Laternenumzug.«
»Morgen Abend?«, rief Sprotte erschrocken. »Aber da wollen wir doch die Hühner kidnappen!«
»Ach, bis dahin ist der Umzug doch längst gelaufen«, sagte Frieda und stellte eine Werkzeugkiste neben Sprotte ins Gras. »Luki hätte uns heute in den Wahnsinn getrieben, ich sag es euch. Nicht einen Zaunpfahl hätten wir eingeschlagen, ohne dass er >Ich auch!< gebrüllt hätte. Luki schläft sogar mit seinem Plastikhammer, und wenn er den hier gesehen hätte ...«, sie zog einen schweren Fä ustel aus dem Koffer, »dann hätten wir ihm den pausenlos abjagen müssen.« »Na, okay.« Zusammen rollten sie den Draht aus und legten die Holzpfosten dorthin, wo sie eingeschlagen werden sollten.
»Meinst du, der Auslauf wird groß genug?«, fragte Frieda, als sie fertig waren. »Er ist viel kleiner als der von deiner Oma.« »Macht nichts. Halt mal.« Sprotte schlug den ersten Pfosten ein. »Ich hab gestern Bussarde überm Wald kreisen sehen. Deshalb sollten wir über den Auslauf besser Obstbaumnetze spannen, und so groß sind die nicht. Ich werd versuchen, bei O. S. welche zu klauen.«
»Habt ihr euch eigentlich schon bei mir für die zwei Freistunden bedankt?«, fragte Wilma, während sie einen Pfosten nach dem ändern setzten.
»Wieso? Au, verdammt!« Besorgt betrachtete Melanie ihre schwarz lackierten Fingernägel. »Jetzt hab ich mir den Nagel abgebrochen!«
»Keine Sorge, da werden noch mehr abbrechen«, sagte Sprotte und ließ sich beim Hämmern von Wilma ablösen. Melanie schnitt ihr eine Grimasse. »Ja, mir habt ihr die Freistunden zu verdanken!« Wilma haute mit dem Fäustel so fest auf den Pfosten, dass Trude erschrocken zurückzuckte. »Ich hab nämlich jede Menge von meinen gebrauchten Taschentüchern in den Papierkorb unterm Pult geworfen. Da konnten die kleinen Bazillen so richtig schön in Frau Roses Nase steigen.«
»Echt?« Sprotte grinste. »Hättest du das von Wilma gedacht, Melli?«
»Nie«, sagte Melanie und luschte sich einen Splitter aus dem Finger. »Sie sieht so unschuldig aus.«
»Wilmas Sternzeichen ist Zwilling«, meinte Trude. »Die haben alle zwei Gesichter. Deshalb ist sie auch so eine tolle Spionin. »Ich bin Waage. Ich kann nicht mal lügen.« »Ach ja?« Interessiert guckte Wilma sie an. »Dann erzähl uns doch mal, was zwischen deinem Cousin und dir ist.« Trude wurde rot.
»Lass das, Wilma«, sagte Sprotte. »Du kannst bei den Pygmäen spionieren, nicht bei uns, okay?«
»Ja, ja, schon gut«, Wilma grinste verlegen. »Ist ja auch egal. Das mit den Taschentüchern war auf jeden Fall eine harmlose Rache für den Schulstress, den ich hab. Wisst ihr, dass meine Mutter mir sogar schon die Bandentreffen verbieten wollte, damit ich mehr Zeit für die Schularbeiten hab?« »Kenn ich«, murmelte Melanie. »Was hast du dagegen gesagt?«
Wilma zuckte die Achseln. »Ich hab gesagt, dass du ein echtes Mathegenie bist und Sprotte spitze in Deutsch und dass wir meistens sowieso nur zusammen lernen.« Seufzend ließ sie den schweren Hammer sinken. »Hat sie mir aber nicht mehr geglaubt, als sie unser Protokollbuch gefunden hat.« Sie brauchten fast zwei Stunden, bis der Zaun um den Aus-lauf fertig war. Anfang und Ende des Maschendrahts nagelte Sprotte mit Holzlatten gegen die Schuppenwand. Plötzlich bückte sie sich und betrachtete etwas im Gras. »Verdammt«, sagte sie. »Fuchskot. Hab ich's mir doch gedacht.« Besorgt blickte sie zum Waldrand, der kaum zehn Schritte hinter dem Schuppen lag. »Hoffentlich retten wir die Hühner nicht vor Omas Beil, nur damit ein Fuchs sich an ihnen satt frisst.« Mit einem Seufzer erhob sie sich wieder. »Wir sollten sie nachts auf jeden Fall in den Schuppen sperren. Ich werd einen Riegel für die Tür besorgen.«
Nachdenklich packten sie das Werkzeug zusammen und schlenderten zurück zum Wohnwagen. Der Himmel hatte sich bezogen. Die Sonne verschwand immer häufiger hinter grauen Wolken. Trude bekam einen Regentropfen auf die Nase.
Im Wohnwagen war es wunderbar warm. Melanie hatte ihren Kassettenrekorder mitgebracht, damit sie Musik hören konnten, sie tranken den heiß gestellten Tee, knabberten Chips und brachten die Hausaufgaben hinter sich. »Dass wir mal so ein gemütliches Bandenquartier kriegen!«, seufzte Frieda, als sie ihre Schulsachen wieder wegpackten.
»Keine Erwachsenen, keine Brüder, die rumnerven ...« »Stimmt«, Melanie fingerte an ihrem Herzchenpflaster herum. »Und jede Menge Platz für Poster.« »O nein!«, sagte Sprotte. »Keine Poster! Das ist das Hauptquartier der Wilden Hühner, nicht das von irgendeinem dämlichen Fanclub.«
Melanie kniff die Lippen zusammen. Ihre Unterlippe bebte verdächtig. »Wisst ihr was, ich bin's leid!«, rief sie. »Wenn's nach meiner Schwester geht, darf ich in der neuen Wohnung meine Poster bloß auf dem Klo aufhängen, und jetzt kommt ihr mir mit denselben Sprüchen.« Trude drehte nervös an ihren neuen Ohrringen. »Wir könnten es so machen, dass jede von uns für eine Ecke vom Wohnwagen verantwortlich ist. Zum Beispiel - Frieda für die Küche, Abwasch und so was natürlich nicht gerechnet, Sprotte für die Matratzenecke, ich für den Tisch hier, Wilma für die Wand gegenüber und ...
»... und ich für das Plumpsklo draußen«, knurrte Melanie. Die ändern kicherten.
»Du kannst gern die Küche haben«, sagte Frieda. »Nee, danke, die kannst du behalten«, Melanie sah sich um. »Wie war's, wenn ich die Tür und die Fenster krieg?« Sprotte seufzte, aber die anderen waren einverstanden. Draußen wurde es dunkel. Der Regen trommelte immer lauter auf das Wohnwagendach, und Trude zündete ein paar Kerzen an.
»Ich bin furchtbar aufgeregt wegen morgen Abend«, sagte Frieda. »Ihr auch?«
Die anderen nickten. Einen Moment lang guckten sie alle hinaus in die Dämmerung.
»Wir werden's schon schaffen«, sagte Sprotte. »Das wird das Tollste, was die Wilden Hühner je gemacht haben.« »Bestimmt«, Wilma rekelte sich und gähnte. »Ach, übrigens, Sprotte, will deine Mutter immer noch nach Amerika auswandern?«
Sprotte lehnte sich mit einem tiefen Seufzer zurück. »Sie redet beim Frühstück englisch mit mir. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie das nervt!«
Wilma beugte sich über den Tisch. »Ich hab da eine Idee gehabt. Wir könnten doch eine Kontaktanzeige für deine Mutter aufgeben. Hübsche Taxifahrerin sucht Mann fürs Leben oder so?« Trude kicherte.
Sprotte guckte Wilma fassungslos an. »Wie war das?« »Find ich gar nicht schlecht, die Idee«, sagte Melanie und goss sich Cola in ihre leere Teetasse. »Deine Mutter hat doch kaum Zeit, sich einen Mann zu suchen. Von dir sollten wir allerdings nichts in die Anzeige schreiben. Kinder haben eine abschreckende Wirkung auf Männer.« Sie schloss die Augen. »Seid mal still - wie war's damit: Wer tröstet mich in meiner Einsamkeit? Schöne junge Frau sucht starke Arme, in die sie sich flüchten kann.«
»Melanie!«, hauchte Wilma entzückt. »Echt Wahnsinn. Als ob du so was schon hundertmal gemacht hättest.« »Vielleicht hat sie das ja«, sagte Frieda spöttisch. Sprotte verbarg stöhnend ihr Gesicht in den Händen. »Meint ihr wirklich, man kann >jung< schreiben?«, fragte Trude. »Sprottes Mutter ist schließlich schon neununddreißig.«
»Wisst ihr, was Sprotte schreiben würde?« Frieda verstellte die Stimme: »Tochter sucht Mann für liebeskranke, im Moment leider unzurechnungsfähige Mutter. Besuchszeiten: einen Sonntag pro Monat. Bewerbungen an die Tochter. Nur Hundebesitzer, Vegetarier und Nichtraucher, andere brauchen sich gar nicht erst zu melden.«
»Genau!« Melanie rutschte vor Lachen von der Bank. »Genau so was würde sie schreiben!« Wilma kriegte einen endlosen Hustenanfall. »Hört auf mit dem Blödsinn, ja?«, knurrte Sprotte. »Wir haben morgen Abend eine gefährliche Bandensache vor, und ihr denkt euch Kontaktanzeigen aus.«
»Wieso gefährlich?«, fragte Trude. Besorgt guckte sie Sprotte an.
»Na, meine Oma hat schließlich im Moment zwei Krücken«, antwortete Sprotte. »Damit kann sie bestimmt wie der Teufel auf Hühnerdiebe eindreschen, andererseits ...«, sie grinste Trude an, »... ist sie im Moment nicht gerade schnell zu Fuß.«
Gesichtschwärzen neue Pickel kriegt, also versteckt sie ihre Porzellanhaut und die Engelslocken morgen Abend unter einem dunklen Tuch. Die Kartons besorgen die Jungs. Ich hab Fred gesagt, sie sollen Luftlöcher reinbohren und ein bisschen Grünzeug reinstreuen. Hoffentlich vergessen sie das nicht. Habt ihr alle zu Hause erzählt, welchen Film wir uns bei mir angucken?«
Frieda und Melanie nickten. »Krieg der Sterne, zweiter Teil«, sagte Wilma.
»Oh«, Trude presste erschrocken die Finger vor den Mund, »ich hab gesagt >vierter Teil<.«
»Den gibt's doch noch gar nicht«, seufzte Sprotte. »Klär das, ja?«
Trude nickte verlegen.
»Ich muss morgen früh meiner Oma helfen«, fuhr Sprotte fort. »Bei der Gelegenheit besorg ich Futter und Obstbaumnetze. Zumindest versuch ich's. Und ich seh auch nach, ob ihr Fernseher funktioniert. Man kann ja nie wissen.« Die ändern nickten. Draußen war es inzwischen stockdunkel. Die Hühner guckten sich an. Etwas beklommen war ihnen plötzlich doch zumute.
»Hoffentlich erkennt sie uns nicht an der Größe«, murmelte Wilma.
»Na, und wenn schon«, meinte Sprotte. »Hier findet sie uns nie.« »Genau.« Frieda zog die Gardinen vorm Fenster zu und sperrte die Dunkelheit aus. Das Kerzenlicht ließ die Sterne an der Decke leuchten.
»Morgen sind wir echte Diebinnen«, flüsterte Trude. Sie kicherte nervös.
»Quatsch«, sagte Melanie. »Hühnerretterinnen sind wir.« Sie hob ihre Teetasse. »Auf die Befreiung unserer unschuldigen und leider schon etwas zähen Schwestern! Obwohl Anstoßen mit Tee wirklich eine alberne Sache ist!« Kichernd stießen sie die Tassen gegeneinander, so fest, dass bei Wilmas Tasse der Henkel abbrach.
»Macht nichts!«, sagte Frieda, während sie den verschütteten Tee mit Wilmas Papiertaschentüchern aufwischten. »Scherben bringen Glück! Jetzt kann morgen Abend gar nichts mehr schief gehen. Kommt, wir stoßen gleich noch mal an. Auf Trude. Weil sie uns so ein tolles Bandenquartier besorgt hat.« Wieder klirrten die Tassen. Diesmal ging nichts zu Bruch.
Trude wurde rot vor Glück, aber bei Kerzenlicht fiel das nicht auf.
»Mensch, mir fallen gerade die Jungs ein«, sagte Melanie. »Denen wird nicht zum Feiern zumute sein.«