10

Sie hörten das Dröhnen von Willis Kassettenrekorder schon von weitem.

»Schrottmusik«, murmelte Wilma und wischte sich schniefend mit dem Ärmel über die Nase. Die Taschentücher waren ihr ausgegangen.

Drei große Petroleumlampen baumelten unterm Dach des Baumhauses. Ihr Licht spiegelte sich unten auf dem dunklen Tümpel wider. Die Plattform vorm Baumhaus war so hell erleuchtet, dass die Mädchen jeden einzelnen Pygmäentrotz der aufziehenden Dämmerung deutlich erkennen konnten. Die Jungs strichen die Bretterwände wirklich schwarz, wie Melanie erzählt hatte. Bester Stimmung waren sie, jagten sich mit den kleckernden Pinseln, trommelten mit Stöcken den Takt zu der lauten Musik und fühlten sich offenbar wie die Könige der Welt.

»Wir melden uns wohl besser an, was?«, sagte Sprotte, als sie am Rand des Tümpels zwischen den Bäumen standen und hinaufsahen. »Mit so einer schlechten Nachricht möcht ich sie ungern überraschen.«

Melanie nickte, sah sich um und schubste mit dem Fuß das vertrocknete Laub zur Seite. »Hier irgendwo ist ihr Alarmsystem«, sagte sie. »Da.«

Sie schob den Schuh unter eine Schnur, die über den Waldboden lief, und zog den Fuß mit einem Ruck hoch. Oben im Baumhaus der Pygmäen heulte eine Sirene los. Erschrocken ließen die Jungs die Pinsel fallen. Torte stürzte zum Kassettenrekorder und schaltete ihn aus, und Fred und Willi holten blitzschnell die Leiter ein. Als sie die vier Mädchen zwischen den Bäumen hervorkommen sahen, beugten sie sich misstrauisch hinunter. Die Leiter ließen sie oben. »Schalt endlich die Sirene ab, Steve!«, brüllte Fred. Steve verschwand hastig im Baumhaus. Einen Augenblick später breitete sich erlösende Stille aus.

»Du meine Güte, wen erwartet ihr denn?«, rief Sprotte spöttisch nach oben. »Den vereinten Angriff der Marsmenschen? Wo habt ihr bloß die Sirene her?« »Das ist ’n Tonband«, knurrte Fred. »Aber ich werd euch bestimmt nicht erklären, wie unser Alarm funktioniert. Was wollt ihr hier? Das Hühnerfutter ist uns leider ausgegangen.«

»Wir haben was gesehen!«, rief Wilma. »Und wir dachten, es ist besser, wir

erzählen es euch!«

»Sie haben was gesehen!« Grinsend drehte Fred sich zu den anderen Pygmäen um. »Na, so was. Jetzt werden sie uns gleich erzählen, dass es grüne Männchen gibt.«

»Genau!«, Steve lehnte sich so weit vor, dass er fast von der Plattform fiel. »Seht ihr nicht, dass Trude fehlt? Die haben die grünen Männchen gekidnappt wegen ihrem schneckengeilen Haarschnitt.«

Entnervt drehte Sprotte sich um. »Kommt«, sagte sie zu den anderen. »Wir holen uns den Draht und verschwinden. Die werden schon noch selbst rausfinden, was los ist. Spätestens, wenn die Bagger loslegen.«

»He, wartet!« Fred gab Willi ein Zeichen, und die Jungen ließen die Leiter wieder runter. »Kommt rauf«, sagte Fred. Sprotte hasste es, Leitern hochzusteigen. Aber vor den Jungs blamieren wollte sie sich auch nicht. »Du zuerst!«, sagte sie zu Frieda und kletterte mit zusammengebissenen Zähnen hinter ihr die wackeligen Sprossen hoch. »Schafft mal ein bisschen Platz«, sagte Fred zu Steve und Torte, während er und Willi mit verschränkten Armen neben der Leiter warteten. So ganz schienen sie der friedlichen Absicht der Hühner nicht zu trauen. Torte räumte mürrisch die Malsachen zur Seite, während Steve den Kistentisch aus dem Baumhaus schob, Pappbecher draufstellte und eine Flasche Cola aus ihrem Vorratsschrank holte. »Schießt los«, sagte Fred, als sie alle um den kleinen Tisch hockten.

Sprotte saß so weit wie möglich von der Kante der Plattform entfernt und versuchte, nicht an den Abgrund zu denken, der ringsum gähnte. »Am besten, du erzählst es ihnen, Frieda«, sagte sie, ohne die Jungs anzusehen. Sie wäre zehnmal, ach was, hundertmal lieber hier gewesen, um ihnen einen gemeinen Streich zu spielen. Denn das hier ... Frieda räusperte sich. »Seid ihr heute schon am Schrottplatz vorbeigekommen?«, fragte sie hoffnungsvoll. Vielleicht wussten sie's ja schon. Aber Fred schüttelte den Kopf. »Nee«, sagte er. »Wir kommen immer von der anderen Seite. Wieso? Hat Torte da auch irgendwas über dich hingeschrieben?«

Steve kicherte, zog sein Päckchen Wahrsagekarten aus der Tasche und begann sie zu mischen.

»Gute Idee«, knurrte Torte und starrte Frieda mit düsterer Miene an.

»Mann, Torte, hör endlich auf mit dieser Eifersuchtsnummer!«, fuhr Fred ihn an. »Oder seid ihr wirklich deshalb hier?«

»Unsinn!« Ärgerlich strich Frieda sich das dunkle Haar aus der Stirn. »Auf dem Schrottplatz stehen jede Menge Bagger rum. Und ein Schild. Dass der Platz erweitert wird.« »Aha. Und?« Verständnislos guckten die Jungs sie an. Steve legte ein paar Karten aus. Willi goss ihnen allen Cola ein, gab Melanie einen Becher und rückte etwas näher an sie ran. »Frieda hat den Wächter gefragt, wohin sie denn erweitern«, platzte Wilma heraus. »Und der hat ihr erzählt, dass ...«, sie starrte das frisch gestrichene Baumhaus an und brachte keinen Ton mehr raus.

»Du hast eine Spinne im Haar«, murmelte Willi und pflückte Melanie vorsichtig etwas aus den Locken. »Wovon zum Teufel redet ihr?«, fragte Fred ungeduldig. »Was ist los mit dem Schrottplatz?«

»He«, Steve starrte mit gerunzelter Stirn seine Karten an. »Was soll das denn bedeuten? Pfui Spinne ...« »Die wollen den ganzen Wald fällen, damit ihr blöder Schrottplatz erweitert werden kann!«, rief Sprotte entnervt. »Die Bagger stehn schon da! Montag fangen sie an! Der Aufseher hat es Frieda erzählt. Kapiert ihr jetzt, was los ist?« Ganz still wurde es, so still wie zwischen den Bäumen ringsum, die in der Abenddämmerung kaum noch zu erkennen waren.

»Das ist 'n schlechter Witz, oder?«, fragte Fred. Ganz heiser klang er, als müsste er erst mal seine Stimme wieder finden. Willi warf Melanie einen schnellen Blick zu. »Wollt ihr uns veralbern?« Er rückte von ihr weg und richtete sich auf. »Nein, wollen wir nicht!«, sagte Frieda ärgerlich. »Geht doch selbst hin, wenn ihr uns nicht glaubt. Die wollen hier alles platt machen.«

Steve fielen die Karten aus der Hand. Eine landete in seinem Becher. »Tod und Verderben«, flüsterte er und wischte die Karte hastig an seinem Sweatshirt trocken. »Das ist doch Blödsinn!«, rief Torte. »Was -was -was ist denn mit dem Tümpel? Da sind doch Frösche drin und Kröten und all so was. Ich denk, die soll man schützen!«

Frieda schüttelte nur den Kopf. »Den Tümpel schütten sie zu, hat der Aufseher gesagt. Steht ja nicht unter Naturschutz oder so. Der Wald auch nicht. Scheint nicht besonders wertvoll zu sein, zumindest nicht so wertvoll wie ein Schrottplatz.«

Die Pygmäen starrten sich an.

»Torte!« Fred schnipste mit den Fingern. »Renn zum Schrottplatz und finde raus, was da los ist. Die Damen«, er guckte die Hühner eine nach der ändern an, »dürfen uns Gesellschaft leisten, bis du zurück bist. Die fliegen erst wieder nach Hause, wenn wir wissen, ob sie uns verscheißern wollen.« Torte nickte, sprang auf und lief zur Leiter. Im nächsten Moment war er verschwunden. Es war immer noch so still, dass sie hören konnten, wie er sich seinen Weg durchs Gestrüpp bahnte. Steve sammelte mit zitternden Fingern seine Karten wieder ein. Willi saß nur da und starrte in die Dunkelheit. »Bilde dir bloß nicht ein, dass du uns zwingen kannst, hier zu bleiben«, fuhr Sprotte Fred an. »Wir bleiben nur, damit ihr euch gleich bei uns für euer blödes Benehmen entschuldigen könnt.«

»Genau«, sagte Wilma und legte sich ihre Wasserpistole auf den Schoß.

»Ach, lasst doch«, murmelte Melanie. »Ich weiß auch nicht, wie ich mich bei so einer Nachricht benehmen würde. Ihr vielleicht?« Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis Torte zurückkam.

Schweigend hockten Pygmäen und Hühner da und warteten. »Das mit dem Draht können wir wohl vergessen«, murmelte Wilma irgendwann, aber auch darauf sagte keiner was. Schließlich hörten sie Torte die Leiter raufkeuchen. »Bericht!«, sagte Fred - und die Pygmäen starrten ihren Spion hoffnungsvoll an.

Die Hühner haben Recht!«, stieß Torte hervor. »Sie machen alles platt, den Wald, den Tümpel - und unser Baumhaus.« Mit einem Ruck drehte er ihnen allen den Rücken zu, hockte sich an den Rand der Plattform - und heulte los. »Mann!«, murmelte Steve, warf seine Karten auf den Tisch und presste sich die Hände vors Gesicht. Fred saß da wie versteinert. Willi schlug sich, ohne irgendwen anzusehen, mit der Faust in die flache Hand. »Kommt«, Sprotte stand auf. Wortlos gingen die Hühner zur Leiter.

Frieda drehte sich noch mal um, bevor sie runterstieg. »Tut uns wirklich Leid«, sagte sie. »Ehrlich.« In dem Moment rastete Willi aus.

»Die ganze Arbeit!«, brüllte er. »Alles umsonst!« Er packte den Kistentisch so, dass Steves Karten und die Pappbecher in alle Richtungen flogen, und schmiss ihn runter in den Tümpel. Dann trat er wie rasend gegen die Baumhauswände, bis eins der Bretter zersplitterte, riss es ab und schleuderte es auch in die Tiefe. Den Kassettenrekorder konnte Steve gerade noch retten, aber ihre Pinsel, die leeren Farbdosen, alles, was Willi in die Finger bekam, flog in den Tümpel und versank glucksend im Morast.

Wie gelähmt standen die Hühner an der Leiter. Selbst die anderen Pygmäen wussten nicht, was sie gegen Willis Wut machen sollten.

Da ging Melanie plötzlich auf ihn zu.

»Pass auf, Melli«, sagte Frieda, aber Melanie hatte schon die Hand ausgestreckt. Sie griff nach Willis Arm, hielt ihn fest. »He, die Sachen könnt ihr noch brauchen«, sagte sie mit stockender Stimme. »Für euer neues Quartier. Okay?« Willi stand da, als hätte man die Luft aus ihm rausgelassen. Melanie nahm ihn in den Arm, ganz kurz, ganz schnell, dann drehte sie sich um, lief zur Leiter und kletterte hinunter.

Wortlos folgten die anderen Hühner ihr. Oben im Baumhaus war es wieder still, scheußlich still.

»Die können einem wirklich Leid tun«, sagte Wilma, als sie hintereinander durch den dunklen Wald stolperten. »So ein gutes Bandenquartier kriegen die doch nie wieder. Das Schwarz sah echt gut aus.«

»Mein Vater ist vor ein paar Tagen auch so ausgerastet«, murmelte Melanie. »Hat den Toaster aus dem Fenster geschmissen, den Eierkocher, das Radio. Weil wir in die kleinere Wohnung ziehen müssen.« »Hat er immer noch keine Arbeit?«, fragte Frieda.

Melanie schüttelte den Kopf.

»Nichts als Unglück, wohin man guckt«, murmelte Sprotte. Schweigend kämpften sie sich durch die Brombeerranken. Frieda legte Melanie den Arm um die Schultern. »Steve kann ja mal in seinen Karten nachlesen, wann der ganze Ärger endlich ein Ende hat«, schniefte Wilma und nieste in ihr zerfleddertes Taschentuch. »Wisst ihr, was das Schlimmste ist!« Melanie warf die Haare zurück. »Meine Mutter sagt, sie müssen mir das Taschengeld kürzen. Nicht mal die Hautreinigungscreme, von der ich gelesen hab, will sie mir kaufen. Sie gibt jetzt keine siebzig Mark für eine Tube Creme aus, sagt sie. Wie findet ihr das? Ist eine Tube Creme vielleicht zu viel verlangt, wo ich in der neuen Wohnung nicht mal ein eigenes Zimmer krieg, sondern mir eins mit meiner blöden großen Schwester teilen muss?«

Sprotte und Frieda wechselten einen Blick. Frieda zog ihren Arm von Melanies Schulter. »Siebzig Mark?«, fragte sie. »Siebzig Mark für Creme? Also weißt du, Melli, manchmal spinnst du wirklich. Davon können Kinder woanders ein ganzes Jahr leben.«

»Verdammt, jetzt spiel bloß nicht wieder die Heilige!«, fauchte Melanie. »Wir sind aber nicht woanders. Und die haben ja vielleicht auch keine Hautprobleme.« Darauf fiel Frieda nichts mehr ein. »Da vorne stehen unsere Räder«, sagte Wilma schnell. »Wollen wir nicht gleich nach Hause fahren? Das mit dem Draht können wir doch auch morgen noch erledigen, oder?« »Klar«, murmelte Sprotte und öffnete ihr Fahrradschloss. »Weißt du was, Melli?«, sagte sie, als sie sich auf den Sattel schwang. »Ich finde auch, du spinnst. Aber das mit Willi, das hast du klasse gemacht. Wirklich.« Mit steinerner Miene stieg Melanie auf ihr Fahrrad. »Wann treffen wir uns morgen?«, fragte sie spitz. »Wie war's mit gleich nach der Schule?«, schlug Sprotte vor. »Die Hausaufgaben können wir doch zusammen im Wohnwagen machen.«

»Okay«, Melanie nickte. Frieda und Wilma auch. »Ich muss aber meinen Bruder mitbringen«, sagte Frieda, während sie die dunkle Straße runterfuhren. »Ich bin morgen mit Babysitten dran.«

»Welchen musst du mitbringen, den Großen oder den Kleinen?«, fragte Sprotte, als sie an die hell beleuchtete Hauptstraße kamen. Hier trennten sich ihre Wege, Frieda und Sprotte mussten nach rechts, Melanie und Wilma links abbiegen.

Frieda grinste. »Den Kleinen natürlich.« »Na, ein Glück«, näselte Wilma. »Der wird uns höchstens in den Hausaufgaben rumkrickeln.« Grinsend stieß sie Melanie an. »Oder hättest du lieber den Großen dabei?« »Ach, lasst mich doch in Ruhe, ihr blöden Hühner!«, knurrte Melanie. Aber kichern musste sie trotzdem.

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