18

Es passierte am nächsten Morgen, in der ersten großen Pause. Eisbrenner hatte Aufsicht und kriegte, wie immer, nichts mit, weil er hinterm Schulhaus stand, eine Zigarette nach der ändern qualmte und mit dem Hausmeister quatschte. Willis Vater stürmte auf den Pausenhof, bahnte sich rücksichtslos seinen Weg durch die spielenden Kinder und sah sich mit einer Miene auf dem Hof um, als wollte er jemanden totschlagen. Wilma entdeckte ihn als Erste.

»He«, zischte sie Sprotte ins Ohr. »Ist das nicht Willis Vater?« Sprotte spielte gerade Gummitwist mit Frieda und Melanie. »Wo?«, fragte sie.

»Wilma hat Recht!« Melanie stieg so hastig aus dem Gummi, dass es Frieda gegen die Beine klatschte. »Was will der hier?« »Ärger machen«, stellte Frieda fest und wickelte sich das Gummiband von den Beinen. »Jede Wette!« »Kommt!« Sprotte lief los. »Wir müssen die Jungs warnen!« »Was ist los?«, rief Trude, die auf einem Müllcontainer hockte und sich zum ersten Mal in ihrem Leben die Fingernägel lackierte. Sie machte nie mit beim Gummitwist, weil sie dabei wie ein Nilpferd schnaufte.

»Willis Vater rennt wie ein Irrer über den Schulhof!«, rief Frieda ihr zu. Dann waren die ändern drei auch schon im Pausengewühl verschwunden.

»He, wartet!«, schrie Trude und rutschte so hastig von dem Container, dass sie sich den Nagellack auf die Jeans kippte. Sprotte schlug Haken wie ein Kaninchen, während sie über den Hof rannte. Immer wieder sprang sie hoch, um besser sehen zu können. Überall standen die verdammten Riesen aus den höheren Klassen rum und versperrten ihr die Sicht. Die Jungs spielten nicht Fußball hinter der Turnhalle und auf dem großen Klettergerüst hingen sie auch nicht rum. Wo waren sie?

Zum Glück hatte Willis Vater sie auch noch nicht gefunden. Sprotte sah ihn suchend hinten am Zaun entlanggehen. Und dann entdeckte sie die Pygmäen. Nur ein paar Meter von Willis Vater entfernt. Fred und Steve kehrten ihm den Rücken zu, und Torte hatte nur Augen für den albernen Ball, den sie hin und

her kickten.

»Warum rennen wir denn eigentlich so?«, japste Trude, als sie die ändern endlich eingeholt hatte. »Ich riech Ärger«, antwortete Sprotte, während sie sich hastig durch das Schulhofgedränge auf den Zaun zu schlängelte. »Guckt euch den Kerl doch bloß an.« Jetzt stand Willis Vater genau hinter Fred.

»Weit und breit keine Aufsicht!«, rief Melanie. »Dieser verdammte Eisbrenner. Der verdrückt sich immer!« Willis Vater packte Fred am Nacken wie ein Kaninchen. Erschrocken fuhren die ändern Pygmäen herum, aber Willis Vater schubste sie einfach in den Dreck. »Dieser Schweinekerl!«, schrie Sprotte. Sie bekam kaum Luft vor Wut. Ohne nachzudenken stürmte sie die letzten freien Meter auf Willis Vater zu. Er sah sie nicht kommen. Er hatte zu viel damit zu tun, Fred durchzuschütteln und auf ihn einzubrüllen.

Sprotte prallte mit solcher Wucht gegen seinen Rücken, dass sie ihn umstieß. Willis Vater ließ Fred los und stolperte vornüber in eine Pfütze. Sprotte fiel auch hin und schlug sich das Knie auf, als sie auf dem feuchten Asphalt landete. Fluchend kam Willis Vater wieder auf die Füße, die Hände und die Hose voll Dreck. Wütend sah er sich um - und entdeckte Sprotte, die sich auch gerade aufrappelte. »Warst du das gerade?«, schnauzte er und wollte sie packen, aber da stand Fred plötzlich neben Sprotte und zerrte sie mit sich, zwischen die ändern.

»Besser, wir verschwinden!«, sagte Steve, aber er blieb tapfer an Freds Seite stehen. Fred zitterte am ganzen Leib. Sprotte konnte es deutlich spüren. Er war auch hingefallen, als Willis Vater ihn bei Sprottes Angriff losgelassen hatte. Seine linke Hand blutete, aber er achtete nicht darauf. Mit zusammengekniffenen Lippen starrte er Willis Vater an. Der zerrte ein Taschentuch aus der Jackentasche und wischte sich damit den Pfützendreck von den Händen.

»Die Hose bezahlst du mir!«, blaffte er Sprotte an. »Übergeschnapptes Balg ... «

»Verschwinden Sie hier!«, rief Wilma mit schriller Stimme und drängte sich ganz dicht an Sprotte. Natürlich hatte sie ihre Wasserpistole rausgeholt. »Sie haben hier gar nichts zu suchen!«, schrie sie mit hochrotem Kopf. »Das ist ein Schulhof!«

Drei Oberstufler, die zehn Meter entfernt standen, drehten sich um und guckten mäßig interessiert herüber. Dann kehrten sie der seltsamen Szene gelangweilt den Rücken zu.

»Wo ist er?«, schnauzte Willis Vater und steckte sein Taschentuch wieder weg. »Wo ist Willi? Ihr wisst doch, wo er sich versteckt hat. Raus damit, oder

ich schnapp mir jeden Einzelnen von euch.« Drohend machte er einen Schritt vor. Hühner und Pygmäen rückten eng, ganz eng zusammen. »Können Sie nicht zählen?« Frie das Stimme zitterte nur ein ganz kleines bisschen. »Wir sind acht. Da nützt Ihnen Ihre Größe gar nichts. Und wenn ... wenn ...«, das Zittern wurde stärker, weil Frieda so furchtbar wütend war, »wenn Sie Fred noch mal so durchschütteln, dann ... «

»Was dann?«, fragte Willis Vater. »Ich werd ja wohl fragen dürfen, wo mein Sohn ist, oder? Was glaubt der, wie lange ich mir das noch gefallen lasse, dass er nicht nach Hause kommt. Denkt er, ich Löffel für ihn aus, was er sich eingebrockt hat?«

»Versprechen Sie denn, ihn nicht anzurühren, wenn er zurückkommt?«, fragte Wilma.

Sprotte und Fred stießen ihr den Ellbogen fast gleichzeitig in die Seite, aber da war es schon raus.

»Na, seht ihr. Ihr wisst, wo er steckt. Dachte ich's mir doch.« Willis Vater grinste selbstzufrieden und klopfte sich etwas Dreck vom Jackenärmel. »Los, raus damit. Mitjeder Minute, die ich hier rumstehe, wird der Arger nur größer.« Feindselig starrten Hühner und Pygmäen ihn an. »Und wenn der da rumsteht, bis er Moos ansetzt«, murmelte Torte. »Nicht mal Hühner verraten ihre Freunde, oder?« »Gut!«, schnauzte Willis Vater. »Welchen von euch schnapp ich mir zuerst? Wie war's mit dem kleinen Klugscheißer?« Torte zuckte zusammen.

Melanie stellte sich ganz dicht neben ihn.

»Ich trau meinen Augen nicht!« Willis Vater machte einen Schritt auf Torte zu. »Ihr Jungs seid vielleicht Helden. Verkriecht euch bei Mädchen, wenn's brenzlig wird. Da ist mir ja ein Sohn lieber, der Baggerscheiben einschlägt.« »Ach ja, und was sind Sie für einer?« Sprotte spuckte ihm vor Wut fast ins Gesicht. »Gehen auf Jungs los, die einen halben Meter kleiner sind als Sie, verprügeln Ihren eigenen Sohn! Das ist wirklich das Allermieseste, was es gibt. In einen Käfig gehören Sie, Sie ... «

Willis Vater schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Sprotte hatte das Gefühl, der Kopf würde ihr vom Hals gerissen, so hart schlug er zu. Wie betäubt stolperte sie gegen Torte, der immer noch neben ihr stand. »He, da geht's jetzt richtig ab!«, hörte sie einen von den Oberstufen-Riesen rufen.

Das Nächste, was Sprotte merkte, war, dass sie auf dem Asphalt saß und sich die Backe hielt. Frieda und Melanie hockten mit besorgten Gesichtern neben ihr. Willis Vater konnte sie nicht sehen, weil die ändern sich schützend um sie herumgestellt hatten. Fred hatte die Fäuste geballt, und Steve und Torte hielten ihn fest. Sie hatten wohl Angst, dass er sich vor Wut auf Willis Vater stürzen würde. »Sie Scheißkerl!«, hörte Sprotte Fred brüllen. »Sie feiger

Scheißkerl, Sie!« Und dann hörte sie Frau Roses Stimme.

»Was ist hier los?«, rief sie und stieß ein paar Schüler zur Seite, die glotzend herumstanden.

»Er hat Sprotte geschlagen«, sagte Frieda und richtete sich auf.

»Und Fred hat er gepackt, als wollte er ihm die Knochen rausschütteln«, rief Steve.

»Davon hab ich schon gehört«, sagte Frau Rose. Sie kniff die Augen zusammen. Das tat sie nur, wenn sie furchtbar wütend war. »Ein Schüler, der noch bei klarem Verstand war ...«, sagte sie laut und drehte sich zu den zuschauenden Kindern um, »... hat mir das alles erzählt, während er mich hergelotst hat. Der hat nicht bloß dumm dagestanden, als seine Mitschüler verhauen wurden, so wie ihr.«

Besorgt beugte sie sich zu Sprotte hinunter, die mit geschwollenem Gesicht immer noch auf dem Boden hockte. »Alles in Ordnung?«, fragte Frau Rose leise. Sprotte nickte. Frau Rose warf einen Blick auf Fred, der reichlich weiß um die Nase war, dann stellte sie sich so nah vor Willis Vater hin, dass sie hochgucken musste. Frau Rose war nicht gerade groß.

»Verschwinden Sie vom Schulgelände!«, sagte sie. »Sofort, oder ich hole die Polizei. Der Tatbestand, dass Sie auf einen Schulhof spazieren und Kinder schlagen, dürfte wohl für eine Anzeige ausreichen.«

»Brauchen Sie Hilfe, Frau Rose?«, fragten die drei Oberstufen-Riesen, die noch vor ein paar Minuten nur gelangweilt herübergeschaut hatten.

»Na, endlich rührt ihr euch«, sagte Frau Rose. »Bringt den Mann zum Tor. Und passt auf, dass er auch wirklich in die richtige Richtung geht. Aber ohne weitere Gewaltanwendung, bitte.«

»Sie wissen bestimmt auch, wo mein Sohn steckt!«, brüllte Willis Vater, während ihn die Riesen sacht zum Tor drängelten. »Ich werde Ihnen die Schulbehörde auf den Hals hetzen, Sie Kindesentführerin.«

»Du meine Güte«, murmelte Frau Rose. »Der Mensch ist wirklich dreist.« Nachdenklich drehte sie sich zu den Hühnern und Pygmäen um. »Wollt ihr mir nicht doch sagen, wo Willi ist?«, fragte sie. »So kann das doch nicht weitergehen. Irgendwann wird die Polizei nach ihm suchen. Seine Mutter ist völlig verzweifelt.«

»Wir können es nicht sagen«, sagte Sprotte und stand auf. »Wirklich nicht, Frau Rose. Wir haben’s Willi versprochen.« »Wir könnten ja seiner Mutter einen Brief schreiben«, meinte Frieda. »Dass es ihm gut geht und dass er bald wiederkommt.«

»Wir könnten auch versuchen, das Geld aufzutreiben«, sagte Fred. »Für die Scheibe. Damit sein Vater sich etwas abregt.« Frau Rose starrte wortlos zum Tor, wo die Oberriesen Willis Vater gerade auf die Straße schoben. Mit einer wütenden Bewegung schüttelte er sie ab, sah sich noch mal um und ging dann hoch erhobenen Hauptes davon.

»Das Geld ist ein Problem, ja«, murmelte Frau Rose. »Darüber werde ich mir noch mal den Kopfzerbrechen. Aber es ist nicht das Einzige. Wie entschärfen wir diesen Wüterich?« Sie guckte Fred an. »Willi geht es wirklich gut?« »Ist ihm wahrscheinlich noch nie besser gegangen«, sagte er. »Sagt ihm, er muss sich melden«, sagte Frau Rose. »Bald. Sonst findet ihn die Polizei. Euch ist doch wohl klar, dass das nicht allzu schwer sein wird, oder?«

Hühner und Pygmäen nickten. Frau Rose aber ging mit einem tiefen Seufzer zum Schulgebäude zurück.

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