»Kein Problem«, sagte Fred und zog Torte mit sich. »Ich muss sowieso nach Hause. Seit der Sache mit dem Schrottplatz krieg ich schon Ärger, wenn ich ’ne Viertelstunde zu spät komme.« Er drehte sich noch mal zu Sprotte um. »War eine gute Idee, das mit dem Funkgerät«, sagte er. »Schlaf am besten drauf, damit du es nicht überhörst.« »Das überhören wir nicht«, sagte Melanie, während sie ihr Rad auf die Straße schob. »Ich mach heute Nacht sowieso kein Auge zu.«
Wie ein verwunschener Ort erschien der Wohnwagen den Mädchen, als sie ihre Räder wieder durch das Gatter schoben. Das Fenster leuchtete ihnen durch die Dunkelheit entgegen, und die Glühbirnen unterm Dach sahen aus wie ein Band aus Sternen. Das gefrorene Gras knisterte unter ihren Füßen. Die Nacht war still, nur aus der Ferne drang Autolärm herüber, dumpf und weit, weit weg.
Im Hühnerstall hockten die Hennen aufgeplustert auf ihren Stangen. Als Sprotte vorsichtig durch die Tür lugte, glucksten sie leise, als redeten sie im Schlaf.
Niemand schlich in dieser Nacht um den Stall oder den Wohnwagen herum, nur Wilma, mit schussbereiter Wasserpistole auf der Suche nach Einbrechern oder Schlimmerem. Sogar unter den Wagen leuchtete sie mit ihrer Taschenlampe, worauf Frieda feststellte, dass da unten höchstens steif gefrorene Verbrecher lagern könnten. Ihr Hauptquartier empfing sie mit Wärme und Licht. Jacken, Schals, Mützen, alles warfen sie auf einen großen Haufen, dann briet Frieda zehn von den Eiern, die ihre Hennen gelegt hatten, und Trude ließ den Alkohol aus zwei Flaschen Glühwein kochen, die ihr Vater im Vorratsschrank zurückgelassen hatte. Melanie fand das Abkochen albern, aber die anderen überstimmten sie.
»Willst du vom Rad fallen, wenn Willi sich heute Nacht meldet?«, fragte Frieda, und Sprotte drückte ihr das Funkgerät in die Hand und sagte, sie solle sich damit auf die Matratze verziehen, solange die ändern das Essen vorbereiteten. Wie ein Häufchen Elend hockte Melanie auf dem großen Schaumstoffbett, starrte das Funkgerät an und kaute auf einer Haarsträhne herum. Die Eier schmeckten köstlich.
»Im Frühling werden wir uns ein paar Gemüsebeete anlegen«, sagte Sprotte, während sie bei Kerzenlicht an dem kleinen Tisch aßen. »Bohnen wachsen
überall und Zwiebeln auch.«
»Ich mag keine Bohnen«, murmelte Melanie. »Tja, Kartoffelchips kann man nicht pflanzen, Melli«, stellte Wilma fest.
Trude musste kichern und fing sich einen bösen Blick. Als es im Funkgerät knackte, ließ Melanie vor Schreck die Gabel fallen.
»Ach, komm, es wird schon nichts passieren«, sagte Frieda und legte ihr den Arm um die Schulter. »Steve ist doch dabei.«
»Genau«, sagte Sprotte mit vollem Mund, »außerdem hast du ja gehört, was Steves Wunderkarten gesagt haben.« Melanie stocherte abwesend auf ihrem Teller herum. »Steve kann nicht ewig im Schlafsack bei Willi auf dem Teppich schlafen«, murmelte sie.
»Na ja, Willis Vater kann aber auch nicht ewig sauer sein«, antwortete Sprotte.
Die ändern schwiegen. So sicher waren sie sich da nicht. Nach dem Essen machten sie es sich alle auf der großen Matratze bequem. Trude holte ein paar Decken aus dem Schrank, und Frieda brachte das Tablett mit dem abgekochten Glühwein und eine Schachtel Pralinen, die sie von ihrer Mutter als Dankeschön bekommen hatte, weil sie für Titus wieder mal be im Babysitten eingesprungen war. »Was habt ihr euren Eltern gesagt?«, fragte Trude, während sie den Inhaltszettel der Pralinenschachtel studierte. »Ich hab erzählt, ich übernachte bei Sprotte.« »Also, ich bin bei dir«, sagte Melanie und biss genüsslich eine Nougatpraline an. »Weil du sooo traurig bist, dass dein süßer Cousin weg ist. Ich hab meinen Eltern sowieso gesagt, dass ich jetzt öfter bei einer Freundin übernachte. Zu Hause krieg ich kein Auge mehr zu! Meine Schwester knirscht mit den Zähnen im Schla f. Entsetzlich hört sich das an!« »Ich bin auch bei Sprotte«, sagte Wilma. »Ich auch«, sagte Frieda, trank etwas von dem abgekochten Glühwein und lehnte sich gähnend in die Kissen.
»O nein!« Sprotte seufzte. »Das kann ja nicht gut gehen. Von drei Müttern ruft bestimmt eine an. Mam kommt erst spät nach Hause, aber was ist, wenn eine von euren Müttern auf den Anrufbeantworter quasselt und fragt, wie es ihrem Schätzchen geht?«
»Ist euer Anrufbeantworter jetzt nicht dauernd voll wegen Wilmas Anzeige?«, fragte Trude. Sie spielte schon wieder mit ihrem Ohrring.
»Hält sich zum Glück sehr in Grenzen«, sagte Sprotte. »Bisher haben nur zwei draufgesprochen.« »Erzähl doch mal.« Wilma guckte sie mit großen Augen an. »Die gingen ungefähr so.« Sprotte räusperte sich und stammelte mit verstellter Stimme. »Ja, ähm, hallo? Ja, also, ähm, ich, ähm, ich rufe wegen der, ähm, Anzeige an, ähm, ich ...« Die ändern vier kringelten sich vor
Lachen. »Vielleicht sollten wir uns von Steve aus seinen Karten lesen lassen, wie Sprottes Mutter einen Mann kriegt«, kicherte Frieda.
»Steve kassiert fünf Mark fürs Kartenlegen«, sagte Trude, nahm sich eine Praline - und wurde rot, als sie merkte, dass die ändern sie anguckten.
»Du hast dir von Steve die Karten legen lassen?«, fragte Wilma ungläubig. Trude zuckte die Achseln und rückte verlegen ihre neue Brille zurecht.
Melanie prustete los. »Was wolltest du wissen? Ob du Paolo mal heiratest und viele, viele Kinderchen mit ihm kriegst?«
»Du bist so blöd.« Ärgerlich drehte Trude ihr den Rücken zu.
»Hast du eigentlich noch mal was von deinem Cousin gehört?«, raunte Wilma ihr ins Ohr.
Trude nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Wenn ihr's unbedingt wissen wollt«, sagte sie. »Paolo hat mir ein Päckchen geschickt.«
»Nein! Jetzt schon?« Vor Bewunderung stockte Wilma der Atem. »Er ist doch gerade erst weg. Was war drin?« Trude setzte mit verlegenem Lächeln die Brille wieder auf. »Mein Lieblingsschokoriegel und ein Brief.« »Ein Brief? Was hat er geschrieben?« Wilma fasste Trudes Arm.
»Geht dich gar nichts an!« Trude zog ihren Arm weg und rückte zur Seite. »Paolo wollte sich übrigens auch von Steve die Karten legen lassen, aber fünf Mark fand er zu teuer.« »Ob Torte auch fünf Mark bezahlt hat?«, fragte Wilma. »Dafür, dass Steve ihm erzählt hat, dass Frieda seine große Liebe und sein Schicksal ist?« Sie rollte fast vom Bett vor Lachen.
»Und du?«, rief Frieda und kitzelte sie so, dass Wilma nach Luft schnappte. »Dir würde er bestimmt voraussagen, dass du mal wie Oma Slättberg endest und mit Schreckschusspistolen in der Gegend rumballerst.«
»Aufhören!«, japste Wilma. »Aufhören, ich sag nichts mehr, Ehrenwort.«
Frieda ließ sie los. »Du bist vielleicht eine Spionin«, meinte sie. »Dich braucht bloß einer zu kitzeln, schon plauderst du unsere geheimsten Bandengeheimnisse aus.« »Na, zum Glück haben wir davon ja nicht viele«, stellte Melanie fest.
Trude kicherte. »Eigentlich haben wir gar keine, oder?« In dem Augenblick knackte das Funkgerät wieder. Melanie fuhr erschrocken hoch. Sie hörten Steves Stimme. »Hühner, he, Hühner bitte melden. Oder seid ihr grade beim Eierlegen?«
»Wo ist das Ding?«, rief Melanie. Panisch wühlte sie auf dem Bett rum.
»Alle mal aufstehen!«, rief Sprotte.
Die fünf Hühner sprangen vom Bett, guckten unter die Pralinenschachtel, das Tablett, suchten unter den Kissen, zerrten die Decken auseinander ...
»Heee!«, rief Steve. »Kikerikiii, gack, gackgack! Schlaft ihr alle?«
Wilma kroch auf dem Boden herum. »Vielleicht ist es bei der Kitzelei runtergefallen!«
»Da! Da ist es!«, schrie Melanie und schubste sie zur Seite. »Du kniest drauf!« Hektisch schaltete sie das Funkgerät auf Empfang. »Hallo!«, wisperte sie atemlos. »Hallo, Steve? Wo ist Willi? Ist alles in Ordnung?«
»Ja, alles in Ordnung!«, Steves Stimme war deutlich zu verstehen, trotz der lauten Knistergeräusche, die aus dem Funkgerät kamen. »Nur mein Rücken fühlt sich an, als hätte ein Nilpferd drauf rumgetrampelt. Ich hasse Schlafsäcke. Ich hasse sie!«
»Gib mir Willi, ja?«, sagte Melanie.
Es knackte und rauschte, dann hörten sie Willis Stimme. »Seid ihr etwa alle noch wach?«, brummte er. »Klar«, antwortete Melanie. »Was Hühner versprechen, das halten sie auch.«
»Im Gegensatz zu Urwaldzwergen«, flüsterte Sprotte. »Wie ist es gelaufen?«, fragte Melanie besorgt. »Hat dein Vater noch was gesagt?«
»Einen ellenlangen Vortrag hat er gehalten«, knurrte Willi. »Dass er bloß sauer war, weil ich abgehauen bin. Dass er das mit dem Bagger richtig gut fand, weil man sich nichts gefallen lassen soll. Mann, der hat einen Scheiß geredet, du kannst es dir nicht vorstellen. Aber wenn meine Mutter mal was sagen wollte, ist er ihr gleich dazwischengefahren. Steve und ich sind fast umgefallen, so lang haben wir im Flur rumgestanden und uns das angehört. Dann durften wir noch eine Stunde auf dem Sofa sitzen und uns irgendeinen Schwachsinn im Fernsehen mit angucken, bis ihm plötzlich einfiel, dass wir morgen Schule haben, da hat er noch ein bisschen über Rose geschimpft, was das für eine durchgeknallte Tante ist, dass sie ihm gedroht hat und dass sie eine Gefahr für ihre Schüler ist, und dann hat er uns endlich ins Bett geschickt.«
»Bett? Na, schön war’s, auf den Teppich«, sagte Steve. »Als wir um zehn noch getuschelt haben, hat er kurz rumgebrüllt, aber seitdem ist Ruhe.«
»Wir bleiben trotzdem noch wach, okay?«, sagte Mela nie. »Braucht ihr nicht«, meinte Willi. »Wenn mein Vater einmal schläft, dann schläft er.«
»Sein Geschnarche hören wir bis hier!«, rief Steve. »Na gut«, Melanie spielte mit einer Haarsträhne. »Dann, dann - gute Nacht.«
»Ich werd auf jeden Fall mit sechzehn abhauen«, sagte Willi. »Schlaf gut, Melli.«
Melanie legte das Funkgerät neben sich und guckte die ändern an. »Hat wohl geklappt, mein Plan«, sagte sie. Sprotte nickte.
»Dein Plan war gut«, sagte Frieda. »Wirklich gut.« Melanie lächelte.
»Habt ihr gehört? Er darf sie Melli nennen«, sagte Sprotte und klopfte ihr Kissen zurecht.
Melanie streckte ihr die Zunge raus. »Wo ist eigentlich deine Zahnspange?«, fragte sie. »Die trägst du ja nie.« »Ich vergess sie dauernd«, murmelte Sprotte und rollte sich auf die Seie.
»Ja, ja, das kenn ich«, sagte Wilma und räkelte sich ausgiebig. »Ich hatte auch mal eine. Hatte so eine eklige Fleischfarbe. Fleischfarben kriegen die überhaupt nicht hin. Das Ding war eher schweinchenrosa.«
Frieda grinste und rieb sich die Augen. Trude nahm gähnend die Brille ab und legte sie unter ihr Kissen. Todmüde kuschelten sie sich aneinander, zogen die Decken bis an die Nasen und lauschten in die nächtliche Stille. »Wehe, du schnarchst wieder«, sagte Melanie und knuffte Trude in den Rücken.
»Und wehe, du quatschst wieder im Schlaf«, murmelte Sprotte hinter ihr.
»Können wir das Licht anlassen?«, fragte Wilma. »Klar«, murmelte Frieda. »Hat eine den Wecker gestellt?« Sprotte hob noch mal den Kopf und guckte nach. »Alles klar«, sagte sie und gähnte schon wieder. »Oje, schon eins. Da werden wir ja richtig frisch sein morgen.« »Verdammt!« Frieda setzte sich auf. »Wir haben vergessen, Rose anzurufen.«
»Ist nicht mehr zu ändern«, sagte Melanie. »Leg dich wieder hin.«
Mit einem Seufzer legte Frieda sich wieder zwischen die ändern.
»Da draußen war was!«, flüsterte Wilma. »Blödsinn«, murmelte Melanie. »Außerdem - du hast ja deine Wasserpistole, oder?«
Dann schliefen sie ein. Ein Huhn nach dem anderen. Wilma als Letzte.