7

Der nächste Tag fing mit einer weiteren Überraschung an. Trude kam mit streichholzkurzen Haaren in die Schule. Ihre Augenbrauen waren ganz schmal, und eine andere Brille trug sie auch.

»Wie siehst du denn aus?«, fragte Melanie, als Trude sich mit gesenktem Kopf an ihr vorbeischob. Die beiden saßen nebeneinander, vorn in der zweiten Reihe. »Anders«, sagte Trude.

Frieda hob den Kopf. Sie saß an Frau Roses Pult und schrieb den Gutschein für die Pygmäen. »He, das sieht gut aus, Trude«, sagte sie.

»Ehrlich?« Trude zupfte mit unsicherem Lächeln an ihren Haaren rum und wurde so dunkelrot wie Frau Roses Montagslippenstift.

»Doch«, Sprotte hockte sich auf Melanies Tisch. »Sieht frech aus, nicht, Melli?«

Melanie nickte nur. Sie regte sich nicht mal über >Melli< auf, so sprachlos war sie.

»Hast du dir die Augenbrauen gezupft?« Wilma lehnte sich über Sprottes Schulter. »Tut das nicht weh?« Trude zuckte die Achseln. »Die habe n mich schon lange gestört«, murmelte sie. »Die wuchsen doch in alle Richtungen.«

»Wann warst du denn gestern noch beim Frisör?«, fragte Frieda. »Du musstest doch deinen Cousin abholen.« Trude schob die Tasche unter ihren Tisch. »Musste ich auch. Er hat mir die Haare geschnitten. Mein Cousin, mein ich. Paolo. Macht er bei sich selbst auch immer.« Sie lächelte. »Die Brille gehört ihm. Hat er mir geliehen. Ist seine Ersatzbrille. Er ist nämlich auch weitsichtig.«

»Ah ja?« Melanie runzelte die Stirn. »Paolo. Was ist denn das für ein Name? Ist dein Cousin Italiener?« »Seine Mutter ist Italienerin.« Trude nahm die Brille ab und putzte sie. »Heute Nachmittag will er mir helfen, eine neue Brille auszusuchen. Meine sieht ein bisschen spießig aus, meint er. Stimmt ja auch, oder?«

»Ich hab dir das schon hundertmal gesagt«, bemerkte Melanie spitz. »Aber mit mir wolltest du ja nie losgehen, eine andere kaufen. Zum Frisör wolltest du auch nicht, und jetzt lässt du dir von einem Wildfremden an den Haaren rumschnippeln. Ich fass es nicht.«

»Was regst du dich auf?«, sagte Wilma. »Sieht doch toll aus.« »Trotzdem«, sagte Melanie. »Na ja.« Trude wand sich auf ihrem Stuhl. »Du hast einen

ganz anderen Geschmack als ich. Aber mein Cousin ...«, sie kicherte, »er sagt, er findet dicke Mädchen sexy. Er sagt, dünne Mädchen fühlen sich an wie ein Sack voll Knochen und erinnern ihn irgendwie an Friedhof. Er sagt, bei Dünnen hat man beim Schmusen dauernd Angst, dass sie irgendwo durchbrechen.« Sie kicherte noch einmal. »Na, der sagtja 'ne Menge«, meinte Melanie und lehnte sich mit verschränkten Armen auf ihrem Stuhl zurück. »Wie alt ist denn dein Cousin?«

»Fünfzehn.« Trude zog den Kopf ein. Die Pygmäen kamen in die Klasse.

»Achtung, Trude«, murmelte Sprotte. »Jetzt wird's hart.« Sie legte ihr den Arm um die Schulter.

»He, Trude!« Torte brüllte so laut, dass die ganze Klasse den Kopf hob. »Ich fass es nicht, Mann! Wahnsinn!« Er torkelte zwei Schritte zurück, als würde er im nächsten Moment hintenüberkippen.

Wortlos schob Willi sich an ihm vorbei. Er war kein Fan von Tortes Witzen. Aber Fred und Steve blieben stehen. »He, Trude, wer hat dir denn die heiße Frisur verpasst?«, fragte Steve.

»Du siehst aus, als wärst du auf einer Schönheitsfarm gewesen.« Fred beugte sich vor und beäugte Trude aus cbr Nähe. »Irre, guckt euch das an. Sogar die Augenbrauen hat sie sich gezupft.« Unsanft stieß Sprotte ihn zurück. »Lasst sie in Ruhe, ihr Pfeifen«, fauchte sie. »Bei euch würde keine Schönheitsfarm der Welt was ausrichten können. Ihr müsst doch jeden Tag aufpassen, dass sie euch nicht fürs Affenhaus fangen.« »Stimmt.« Fred grunzte und kratzte sich geräuschvoll unter den Armen. »Aber noch haben sie uns nicht gekriegt. Na ja, ihr seid ja auch noch nicht im Kochtopf gelandet, obwohl ihr die einzigen wild rumla ufenden Hühner seid.« In dem Augenblick kam Frau Rose rein. Frieda raffte hastig ihre Sachen zusammen und ging an ihren Platz, und die Pygmäen ließen Trude fürs Erste in Ruhe.

Aber als Frau Rose die ersten Aufgaben an die Tafel schrieb, schickte Torte Trude einen Zettel mit einer Haarsträhne, die er sich abgeschnitten hatte. Eine mitleidige Spende, stand auf dem Zettel. Weil du doch jetzt nur noch so wenig Haare hast und dir im Winter sonst dein Hühnerhirn erfriert. Natürlich bemerkte Frau Rose den wandernden Zettel. Nachdem sie ihn zu Tortes großer Zufriedenheit der Klasse vorgelesen hatte, brachte sie dem Spender die Haare mit spitzen Fingern zurück, ließ sie auf seinen Kopf rieseln und sagte: »Mein lieber Torsten, du hast vielleicht auf dem Kopf derzeit mehr als Trude, aber was den Inhalt deines Kopfes betrifft, so mach ich mir da doch langsam etwas Sorgen.«

»Ha, wie?«, murmelte Torte verdattert.

Aber Frau Rose sagte nur: »Siehst du?«, und ging mit energischen Schritten zur Tafel zurück.

In der nächsten großen Pause machten die Wilden Hühner sich auf die Suche nach den Pygmäen, um ihnen, wie vereinbart, den Gutschein zu geben.

»Hoffentlich fangen die nicht gleich wieder mit meinen Haaren an«, murmelte Trude.

»Ach was«, sagte Melanie und tastete an ihrem Hals herum. »He, guck mal«, raunte sie Trude zu. »Krieg ich da einen neuen Pickel?«

»'ne rote Stelle hast du da«, stellte Trude fest, »sieht aber nicht wie ein Pickel aus.«

»Eher wie ein Knutschfleck!«, stellte Frieda trocken fest. Schnell schlug Melanie den Kragen hoch. »Ach, Quatsch«, sagte sie.

»Doch, wirklich!« Wilma nieste. »Frieda hat Recht. Sieht haargenau wie ein Knutschfleck aus. Wer hatte denn die Ehre? Sag schon, ich schreib's auch nicht in unser Bandenbuch, Ehrenwort.«

Melanie schubste sie wütend in eine Horde rauchender Oberstufler.

»Pickel und Knutschflecken«, knurrte Sprotte. »So was muss man sich allen Ernstes anhören! Und meine Mutter dröhnt sich im Taxi nur noch mit Englischkassetten zu. Beim Frühstück liest sie nicht mehr Zeitung, sondern Bücher über Amerika. Der ganze Mist hier interessiert sie nicht mehr, sagt sie. Und wenn ich dann sag, dass es in Amerika auch jede Menge Mist gibt, dann grinst sie nur komisch und sagt, ja, aber abenteuerlichen Mist. Stellt euch das mal vor. Haben die eigentlich schon erforscht, was für eine Wirkung Liebeskummer aufs Gehirn hat?«

»Vielleicht sollten wir sie mit dem neuen Biolehrer verkuppeln«, schlug Melanie vor. »Ihr wisst schon, der mit dem niedlichen kleinen Zopf. Der soll unverheiratet sein.« »Ach ja, woher weißt du das denn schon wieder?«, fragte Sprotte. »Außerdem, ein Lehrer kommt bei uns nicht in die Wohnung. Nur über meine Leiche. Ein Lehrer als Aushilfsvater!« Sprotte verdrehte die Augen. »Das ist ja wohl das Allerschlimmste, was man sich vorstellen kann.« »Ach ja?« Melanie spitzte beleidigt die Lippen. »Hättest du lieber einen, der den ganzen Tag da ist, weil er keine Arbeit hat? Das ist gar nicht lustig, sag ich dir.« »Ich hab am liebsten gar keinen«, antwortete Sprotte. »Das ist auch nicht lustig«, murmelte Trude, deren Vater vor zwei Monaten ausgezogen war. Sogar eine neue Freundin hatte er schon. Wenn Trude am Wochenende ihren Vater besuchte, kochte sie ihr Diätgerichte. Außerdem glaubte sie offenbar, dass Kinder schwerhörig sind, denn als sie Trude das erste Mal traf, hatte sie ihren Vater mit gesenkter Stimme gefragt, ob seine Tochter schon immer so dick gewesen wäre oder ob das Kummerspeck sei.

»He, Trude!« Melanie zupfte sie an den Haaren. »Träumst du von deinem Cousin?« »Schließ nicht immer von dir auf andere, Melli«, sagte

Sprotte. »Nicht jede denkt pausenlos über Jungs nach. Na endlich!« Sie ging einen Schritt schneller. »Da vorne sind die Urwaldzwerge. Bringen wir's hinter uns.« Hinter der Sporthalle kickten die Pygmäen einen Fußball durch die Pfützen. Als Torte die Hühner kommen sah, schoss er Frieda den dreckigen Ball genau vor den Bauch. Ärgerlich riss Fred ihn an der Schulter zurück und knurrte ihm was ins Ohr. Torte kniff wütend die Lippen zusammen, aber er nickte.

»Sag deinem Chef-Kundschafter, er lebt gefährlich, wenn er so weitermacht!«, sagte Sprotte und hielt Fred den Gutschein hin. »Ich bin nämlich nicht so geduldig wie Frieda.« »Ja, ja, uns nervt er auch«, murmelte Fred, während er den Gutschein musterte. »Ist Frieda wirklich mit 'nem anderen zusammen?«

»Nein, verdammt noch mal!« Sprotte warf Torte einen grimmigen Blick zu, aber der kehrte ihnen allen den Rücken zu. »Wir, die Wilden Hühner«, las Fred vor, »bestätigen hiermit, dass die Pygmäen was bei uns guthaben. Der Gutschein muss in den nächsten sechs Monaten eingelöst werden und gilt nicht für Dienste, die den Stolz und die Ehre der Wilden Hühner verletzen. Unterzeichnet: Sprotte, Melanie, Trude, Frieda und Wilma.« Mit spöttischem Grinsen hob Fred den Kopf. »Stolz und Ehre. Klingt großartig.«

»Wer hat denn das Huhn da drunter gezeichnet?«, fragte Steve und lugte über Freds Schulter.

»Ich, wieso?« Feindselig guckte Sprotte ihn an. »Hat das Magersucht oder so was?«, sagte Steve. »Na, daran leidest du bestimmt nicht«, meinte Mela nie und schob sich einen Kaugummi in den Mund. »Und du kriegst schon wieder einen neuen Pickel!«, antwortete Steve hämisch. »Willkommen im Club der Streuselkuchen.«

Melanie verschlug es vor Wut die Sprache. Sie griff an ihr Glimmerpflaster.

»Können wir jetzt vielleicht über Samstagabend reden?«, fragte Sprotte.

Fred grinste sie an. »Klar, schieß los.«

Sprotte warf ihm nur einen düsteren Blick zu. »Mann, ich hoffe bloß, ihr Erbsenhirne versteht, wie verdammt ernst die Sache ist. Es geht um Leben und Tod, kla r?« »Und um Hühnersuppe«, murmelte Steve. Fred stieß ihm den Ellbogen in die Seite. »Das kann ja was werden am Samstag«, flüsterte Wilma Sprotte zu.

»Erzählt endlich, wie die Sache ablaufen soll«, sagte Fred. »Die Pause dauert nicht ewig.«

»Okay.« Sprotte warf den anderen Pygmäen einen misstraui-schen Blick zu.

»Das Treffen haben wir ja schon besprochen. Acht Uhr vor den Tannen am Anfang der Straße. Vergesst die Kartons nicht. Am besten bringt ihr euch was zum Gesichterschwärzen mit. Zieht auch was Dunkles an.«

Steve kicherte. »Mensch, ich denk, wir wollen nur ein paar Hühner klauen. Das hört sich ja an, als hätten wir einen Bankraub vor.«

»Halt den Mund, Steve«, brummte Fred. »Mit Sprottes Oma ist nicht zu spaßen.«

Sprotte redete weiter: »Die Fahrräder verstecken wir unter den Büschen, die gegenüber von dem Grundstück meiner Oma wachsen. Wenn wir uns in den Garten schleichen, geh ich vor. Trampelt bloß nicht über die Beete, die muss ich nämlich wieder in Ordnung bringen.«

»Klar, wir sind ja nicht blöd«, knurrte Willi. »Sonst noch was?«

»Ja. Für das Hühnerfangen bringt ihr am besten Fleischwurststreifen mit«, sagte Sprotte. »Darauf sind sie so verrückt, dass man sie gut packen kann, wenn sie danach picken. Wilma wird vorm Stall Wache stehen, solange wir drin sind. Sobald wir die Hühner im Karton haben, raus aus dem Garten! Ich geh wieder vor. Kein Getuschel und kein Gekicher, klar? Die Hühner werden schon genug Lärm machen.«

»Klar«, brummten die Pygmäen.

»Sobald wir raus aus dem Garten sind«, fuhr Sprotte fort, »packen wir alle Hühnerkartons auf unsere Fahrräder und bringen sie in Sicherheit. Ihr wartet noch zehn Minuten, dann fahrt ihr nach Hause.« »Wir warten noch zehn Minuten?«, fragte Willi. »Spinnst du?

Damit wir erwischt werden, wenn deine Oma doch was gehört hat?«

»Na gut«, Sprotte zuckte die Achseln. »Dann fahrt ihr eben noch bis zur Hauptstraße mit, aber spätestens an der Kreuzung trennen wir uns.«

Fred zupfte an seinem Ohrring. »Wisst ihr denn jetzt, wo ihr die Hennen lassen könnt?«

»Klar, bei unserm neuen Bandenquartier!«, schniefte Wilma. Sprottes warnender Rippenstoß kam zu spät. Mela-nie seufzte.

»Ach, sieh mal einer an«, Fred warf den ändern Pygmäen einen viel sagenden Blick zu. »Die Hühner haben endlich ein Nest. Ihr erzählt uns wohl nicht, wo es ist, oder?« Sprotte grinste ihn nur an. »Ich wette, du denkst jetzt, dass ihr uns einfach am Samstag nachfahren könnt«, sagte sie. »Aber das vergiss gleich wieder, klar? Ich kipp dich höchstpersönlich vom Rad, wenn ihr so was versucht.« »Mann, da kriegen wir jetzt aber Angst«, knurrte Willi. »Was, Fred?«

»Ihr wisst ja schließlich auch, wo unser Hauptquartier ist«, sagte Steve empört.

»Wenn ihr so blöd sei, Melanie einzuladen!«, antwortete Sprotte. »Aber ernsthaft, ich will euer Ehrenwort, dass ihr uns Samsta gabend nicht folgt.«

Die Jungs guckten sich an. Dann steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander. Ziemlich lange.

»Okay«, meinte Fred schließlich. »Was soll's. Wir werden euch Samstagabend nicht nachfahren. Da geht's nur um die Hühner, um die gefiederten. Ehrenwort.« Sprotte guckte ihm misstrauisch in die Augen, aber Fred wich ihrem Blick nicht aus. »Okay, ihr habt's versprochen«, sagte sie. »Ich hoffe, ein Ehrenwort gilt bei euch Urwaldzwergen was.«

»Willst du uns beleidigen?«, fragte Willi mit finsterem Gesicht. »Um eure blöden Hühner zu retten, sind wir gut genug, aber sonst... «

»Ach, Sprotte hat das nicht so gemeint«, sagte Melanie schnell.

»Doch, hat sie«, sagte Fred und grinste. »Sie hat nun mal eine spitze Zunge. Aber damit können wir leben.« Er drehte sich um und legte Willi den Arm um die Schultern. »Wir kriegen sowieso raus, wo das wilde Federvieh sein neues Nest hat, was?«

»Nur 'ne Frage der Zeit«, meinte Steve. »Eben.« Fred winkte den ändern ihm zu folgen. »Sucht euch noch ein paar Regenwürmer!«, rief Torte über die Schulter. »Ist heute genau das richtige Wetter dafür.« »Genau«, sagte Steve, während er den Fußball aus einer Pfütze fischte. »Und deine Frisur, Trude, muss ich echt noch mal sagen, wirklich oberscharf. War ein Männerfrisör, oder?« Dann rannte er kichernd den ändern dreien hinterher.

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