Für das andere Jones-Mädchen, wo immer sie ist.
Mein Sohn Absalom! Mein Sohn, mein Sohn Absalom! Wollte Gott, ich wäre für dich gestorben.
Dicke sind toll. Dicke sind toll. Dicke sind toll, toll, toll.
Katie Waddington begleitete ihren schwerfälligen Schritt mit dem gewohnten Mantra, während sie den Bürgersteig entlang zu ihrem Wagen ging. Sie sprach die Worte nicht laut, sondern sagte sie sich in Gedanken vor, weniger deshalb, weil sie allein war und fürchtete, für verrückt gehalten zu werden, sondern vor allem, weil lautes Sprechen ihre strapazierte Lunge zusätzlich angestrengt hätte. Und die hatte schon Mühe genug, durchzuhalten. Genau wie ihr Herz, das, ihrem stets dozierenden Hausarzt zufolge, nicht dazu geschaffen war, Blut durch Arterien zu pumpen, die durch Fettablagerungen stetig enger wurden.
Wenn er sie betrachtete, sah er Fettwülste; Brüste, die wie Säcke von ihren Schultern herabhingen; statt eines Bauchs schlaff wabbelnde Massen, die ihre Scham verdeckten; von Cellulite gewellte Haut. Sie schleppte so viel Fett mit sich herum, dass sie ein ganzes Jahr von ihren Reserven hätte zehren können, ohne einen Bissen zu essen, und wenn dem Arzt zu glauben war, begann das Fett, die lebenswichtigen Organe anzugreifen. Wenn sie nicht bald anfinge, sich bei Tisch zu bremsen, erklärte er bei jedem ihrer Besuche, würde sie nicht mehr lange leben.
»Herzversagen oder ein Schlaganfall, Kathleen«, pflegte er kopfschüttelnd zu sagen. »Sie können es sich aussuchen. Bei Ihrem Zustand müssen Sie unbedingt etwas tun, und dazu gehört vor allem, dass Sie sich nicht ständig Essen in den Mund schieben, das sich sofort in Fettgewebe verwandelt. Verstehen Sie?«
Natürlich, wie sollte sie nicht verstehen? Es war schließlich ihr Körper, über den sie hier sprachen, und man konnte nicht aussehen wie ein Nilpferd im Schneiderkostüm, ohne das gelegentlich zu bemerken, wenn man an einem Spiegel vorüberkam.
Tatsache war jedoch, dass der Arzt der Einzige in Katies Bekannten- und Familienkreis war, dem es schwer fiel, sie als die Dicke zu akzeptieren, die sie schon seit ihrer Kindheit war. Und da die Menschen, die für sie zählten, sie so nahmen, wie sie war, trieb nichts sie an, den vom Arzt immer wieder empfohlenen Kampf gegen die achtzig Kilo Übergewicht aufzunehmen.
Wenn je Zweifel sie plagten, ob sie in einer Gesellschaft, in der die Körper immer glatter, straffer und durchtrainierter wurden, einen Platz hatte, so wurden diese gewöhnlich von ihren Eros-Acizow-Gruppen, die montags, mittwochs und freitags von neunzehn bis zweiundzwanzig Uhr zusammenzukommen pflegten, umgehend beseitigt. In diesen Gruppen versammelte sich die sexuell gestörte Bevölkerung Groß-Londons auf der Suche nach Trost und Problemlösungen. Unter der Leitung von Katie Waddington - die sich das Studium der menschlichen Sexualität zur Leidenschaft gemacht hatte - wurde die Libido der Gruppenteilnehmer unter die Lupe genommen; Erotomanie und -phobie wurden seziert; Frigidität, Nymphomanie, Satyriasis, Transvestismus und Fetischismus gebeichtet; erotische Fantasien gefördert; die sinnliche Vorstellungskraft stimuliert.
Ihre Klienten überschütteten sie mit Dankbarkeit. »Du hast unsere Ehe gerettet«, hieß es häufig, oder: »mein Leben«, »meinen Verstand«, »meine Karriere«.
Sex ist Kommerz, lautete Katies Motto, und zum Beweis der Richtigkeit ihrer These konnte sie beinahe zwanzig Jahre Erfahrung mit etwa sechstausend zufriedenen Klienten und eine lange Warteliste vorweisen.
Kein Wunder, dass sie an diesem Abend nach der Gruppe recht beschwingt zu ihrem Wagen ging, nicht gerade ekstatisch, aber doch sehr zufrieden mit sich. Sie selbst hatte zwar noch nie einen Orgasmus gehabt, aber das brauchte ja niemand zu wissen; Hauptsache, es gelang ihr, anderen zu diesem Glückserlebnis zu verhelfen. Denn die Leute wollten doch alle das Gleiche: sexuelle Befriedigung auf Kommando und ohne Schuldgefühle.
Und wer zeigte ihnen den Weg dorthin? Eine Dicke.
Wer befreite sie von der Scham über ihre Lust? Eine Dicke.
Wer zeigte ihnen die Tricks von der Stimulation der erogenen Zonen bis zum Simulieren von Leidenschaft, um Leidenschaft neu anzufachen? Eine unförmige Dicke aus Canterbury.
Das war wichtiger, als Kalorien zu zählen. Wenn Katie Waddington dazu bestimmt war, als Dicke zu sterben, dann würde sie eben als Dicke sterben.
Es war ein kühler Abend, genauso, wie sie es mochte. Nach einem glühenden Sommer war endlich der Herbst in die Stadt eingezogen, und während sie sich mit ihrem watschelnden Gang durch die Dunkelheit bewegte, dachte sie wie stets an diesen Abenden an die Glanzpunkte der vergangenen Gruppensitzung zurück.
Tränen, ja, Tränen gab es immer, ebenso Händeringen, schamhaftes Erröten, Stottern und Schwitzen. Aber es gab auch jedes Mal einen besonderen Moment, einen Moment des Durchbruchs, der es wert war, sich stundenlang immer wieder dieselben alten Geschichten anzuhören.
Heute Abend hatten ihr Felix und Dolores (Nachnamen taten nichts zur Sache) diesen Moment beschert. Sie waren in die Gruppe gekommen, weil sie, wie sie es ausgedrückt hatten, »den Zauber« in ihrer Ehe wieder finden wollten, nachdem jeder von ihnen zwei Jahre - und zwanzigtausend Pfund - darauf verwendet hatte, seine ganz persönlichen sexuellen Bedürfnisse zu erforschen. Felix hatte längst eingestanden, dass er die Befriedigung außerhalb der Ehe suchte, und Dolores hatte bekannt, dass sie ihren Vibrator und ein Bild Laurence Oliviers als Heathcliff weit erregender fand als die Umarmungen ihres Ehemanns. An diesem Abend jedoch waren Felix' laute Überlegungen darüber, warum der Anblick von Dolores' nacktem Gesäß Gedanken an seine alte Mutter weckte, drei älteren Frauen in der Gruppe zu viel geworden. Sie hatten ihn so heftig angegriffen, dass Dolores selbst leidenschaftlich für ihn in die Bresche gesprungen war und mit ihren selbstlosen Tränen allem Anschein nach seine Aversion gegen ihren Hintern fortgespült hatte. Die beiden waren sich in die Arme gesunken und hatten nicht mehr voneinander gelassen bis zum Ende der Sitzung, als sie in schöner Einmütigkeit gejubelt hatten: »Du hast unsere Ehe gerettet!«
Katie war sich bewusst, dass sie nicht mehr getan hatte, als ihnen ein Forum zu bieten. Aber es gab eben genügend Leute, die gar nicht mehr wollten als eine Gelegenheit, sich selbst oder ihren Partner in der Öffentlichkeit zu demütigen und so eine Situation zu schaffen, die es dem Partner letztlich ermöglichte, zu retten oder gerettet zu werden.
Das Geschäft mit den sexuellen Nöten der Briten war eine echte Goldgrube. Katie fand es ausgesprochen clever von sich, dass sie auf diese Marktlücke gestoßen war.
Sie gähnte herzhaft und bemerkte dabei das laute Knurren ihres Magens. Nach einem Tag und einem Abend harter Arbeit hatte sie ein üppiges Mahl und danach ein paar Stunden Faulenzen vor dem Fernsehgerät als
Belohnung redlich verdient. Die alten Filme mit ihrer romantischen Schönfärberei waren ihr die liebsten. Eine Abblende im entscheidenden Moment wirkte auf sie weit erregender als Nahaufnahmen gewisser Körperteile und ein Soundtrack, der nur aus Keuchen und Stöhnen bestand. Heute Abend würde sie sich Es geschah in einer Nacht gönnen: Clark und Claudette und die prickelnde Spannung zwischen den beiden.
Das ist genau das, was in den meisten Beziehungen fehlt, dachte sie bestimmt zum tausendsten Mal in diesem Monat. Die erotische Spannung. Zwischen Männern und Frauen bleibt nichts mehr der Fantasie überlassen. Wir leben in einer Welt, die alles weiß, alles sagt und alles fotografiert; in der es keine Erwartungsfreude und keine Geheimnisse mehr gibt.
Aber darüber durfte sie sich am allerwenigsten beklagen. An diesem Zustand der Welt verdiente sie; und mochte sie noch so dick sein, die Leute dachten nicht daran, sich über sie lustig zu machen, wenn sie sahen, in welchem Haus sie lebte, welche Kleider sie trug, welchen Schmuck sie sich kaufte, welches Auto sie fuhr.
Das besagte Auto stand gleich drüben auf der anderen Straßenseite, auf einem Privatparkplatz um die Ecke der Klinik, in der sie ihre Tage verbrachte. Sie war sich, als sie am Bordstein stehen blieb, bewusst, dass sie schwerer atmete als gewöhnlich. Mit einer Hand stützte sie sich an einen Laternenpfahl, während ihr Herz sich pflichtschuldig abrackerte.
Vielleicht sollte sie doch einmal über die Diät nachdenken, die der Arzt ihr vorgeschlagen hatte. Aber sogleich verwarf sie den Gedanken wieder. Was blieb denn noch vom Leben, wenn man sich jeden Genuss versagte?
Ein leichter Wind kam auf. Er blies ihr das Haar aus dem Gesicht und kühlte ihren Nacken. Nur einen Moment verschnaufen. Sobald sie wieder zu Atem gekommen war, würde sie topfit sein wie immer.
Sie horchte in die Stille, die sie umgab. Das Viertel hier war teils Wohn-, teils Gewerbegebiet, die meisten Geschäfte waren längst geschlossen, und vor den Fenstern der Wohnungen in den Mietshäusern waren die Jalousien heruntergelassen.
Merkwürdig, dachte sie. Ihr war nie aufgefallen, wie still und leer die Straßen hier nach Einbruch der Dunkelheit waren. Sie sah sich um. In so einer Gegend konnte alles geschehen - Gutes oder Böses -, und Zeugen gäbe es hier sicher nur zufällig.
Sie fröstelte. Besser nicht hier herumstehen.
Sie trat vom Bürgersteig auf die Fahrbahn und schickte sich an, sie zu überqueren.
Das Auto am Ende der Straße nahm sie erst wahr, als seine Scheinwerfer aufflammten und sie blendeten. Donnernd wie ein galoppierender Stier raste es auf sie zu.
Sie wollte laufen, aber der Wagen war schon da. Sie war zu dick, um ihm auszuweichen.