20

Libby Neal war nie in Richard Davies' Wohnung gewesen, darum hatte sie, als sie Gideon von Temple aus dorthin fuhr, keine Ahnung, womit sie zu rechnen hatte. Hätte jemand sie nach ihren Erwartungen gefragt, so hätte sie gesagt, Gideons Vater führe wahrscheinlich ein Leben wie Gott in Frankreich. Bei dem Aufstand, den er machte, weil Gideon seit vier Monaten seine Geige nicht angerührt hatte, musste man vermuten, dass er es gewöhnt war, das Geld aus dem Fenster zu werfen, sich das allerdings nur leisten konnte, solange regelmäßig Kohle von Gideon rüberkam.

Sie fragte deshalb ungläubig: »Hier?«, und sah sich mit einem Gefühl vager Enttäuschung um, als Gideon sie in einer Straße namens Cornwall Gardens bat, an den Bordstein zu fahren und zu parken. Die alten Kästen rechts und links waren - na gut - ziemlich edel, aber total heruntergekommen. Da und dort dazwischen gequetscht gab es ein paar Häuser, die ganz okay aussahen, aber den Rest konnte man echt vergessen.

Es kam noch schlimmer. Gideon führte sie, ohne auf ihre Frage zu antworten, zu einem Haus, das man nur als Bruchbude bezeichnen konnte. Zwischen der hoffnungslos verzogenen Tür und dem Pfosten klaffte ein so breiter Spalt, dass zum Offnen eine Kreditkarte genauso gut getaugt hätte wie der Schlüssel, den Gideon benutzte. Drinnen gingen sie die Treppe hinauf zu einer weiteren Tür, die zwar nicht verzogen war, dafür aber mit einem grünen Schnörkel besprüht, der die Form eines Z hatte, als wäre ein irischer Zorro zu Besuch gewesen.

»Dad?«, rief Gideon gedämpft, als er die Tür aufstieß und sie in die Wohnung seines Vaters traten. Bevor er in einer Küche gleich neben dem Wohnzimmer verschwand, sagte er zu Libby:

»Warte hier«, was diese nur zu gern tat. Dass Richard Davies in so einer Bruchbude hauste, hätte sie ihm nicht zugetraut.

Erst mal, was war mit dem Farbgefühl des Mannes los? Sie war selbst keine Expertin für Raumausstattung - solche Geschichten überließ sie lieber ihrer Mutter und Schwester, die total auf Feng Shui standen. Aber sogar sie merkte, dass bei den Farben hier garantiert jeder nur noch den Wunsch hatte, von der nächsten Brücke zu springen. Kotzgrüne Wände. Kackebraune Möbel. Und dazu so krankes Zeug wie der Akt ohne Kopf mit dem Schamhaar, das aussah wie das Innere einer Kloschüssel, wenn gerade die Spülung lief. Was sollte das bloß bedeuten? Über dem offenen Kamin - der aus irgendeinem unerfindlichen Grund mit Büchern gefüllt war - waren abgesägte Äste zu einem kreisrunden Objekt an die Wand geschlagen. Sie sahen aus wie Spazierstöcke, geschmirgelt und poliert, und sie waren mit Löchern versehen, durch die Lederschnüre gefädelt waren. So was Irres, und dann noch über dem Kamin!

Das Einzige, was in diesem Zimmer Libbys Erwartungen entsprach, waren die vielen Fotos von Gideon. Es waren Massen, und alle konnte man sie unter demselben langweiligen Thema ablegen: die Geige. Überraschung!, dachte Libby. Wär ja ein Wunder gewesen, wenn Richard irgendwo ein Foto von Gideon gehabt hätte, auf dem der zur Abwechslung mal bei einer Tätigkeit gezeigt wurde, die ihm Spaß machte. Beim Drachensteigen auf dem Primrose Hill, zum Beispiel. Oder bei der Landung mit seinem Segelflieger. Oder wie er gerade einem kleinen Bengel aus dem East End zeigte, wie man eine Geige hielt, anstatt sie selber zu halten und zu spielen und eine Riesengage dafür zu kassieren. Aber nein, das wäre ja unmöglich gewesen. Einen Tritt in den Hintern sollte man Richard geben, dachte Libby. Der tat doch überhaupt nichts dafür, dass es Gideon besser ging.

Sie hörte, wie in der Küche quietschend ein Fenster geöffnet wurde, hörte Gideon in den Garten hinaus, der sich links vom Haus befand, nach seinem Vater rufen. Aber dort draußen war Richard offensichtlich auch nicht, denn nach ungefähr dreißig Sekunden und einigen weiteren Rufen wurde das Fenster zugeschlagen. Gideon kam ins Wohnzimmer zurück, ging aber gleich weiter in den Flur.

Da er diesmal nicht »Warte hier« sagte, folgte ihm Libby. Von diesem gruseligen Wohnzimmer hatte sie sowieso genug.

Er arbeitete sich von hinten nach vorn durch die Wohnung, rief: »Dad?«, als er zuerst eine Schlafzimmertür und dann eine Badezimmertür öffnete. Libby blieb bei ihm. Sie wollte ihm gerade sagen, es sei doch mittlerweile ziemlich klar, dass Richard nicht zu Hause sei, und er könne es sich sparen, durch die Wohnung zu brüllen, als wäre sein Vater in den letzten vierundzwanzig Stunden plötzlich taub geworden, da stieß er die nächste Tür auf.

Das Zimmer dahinter war die absolute Krönung. Libby folgte ihm hinein und sagte verblüfft: »Hoppla! Entschuldigung«, als ihr Blick auf einen Soldaten in Uniform fiel, der neben der Tür stand. Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass der Soldat nicht der verkleidete Richard war, der sie und seinen Sohn zu Tode erschrecken wollte. Der Soldat war eine Puppe. Vorsichtig trat sie näher. »Wahnsinn! Was soll denn das?«, fragte sie und wandte sich Gideon zu.

Aber der war schon am anderen Ende des Raums an einem Schreibtisch, dessen Klappe er geöffnet hatte, um nun sämtliche Fächer und Schubladen zu durchsuchen. Er sah so konzentriert aus, dass er sie wahrscheinlich gar nicht hören würde, wenn sie jetzt fragte, was sie gern fragen wollte - was, zum Teufel, Richard mit dieser Gruselfigur in seiner Wohnung wollte und ob Gideon glaube, dass Jill davon wisse.

Glasvitrinen und Schaukästen standen herum, genau wie in einem Museum. In ihnen waren Briefe, Orden, Urkunden, Telegramme und aller möglicher anderer Schrott ausgestellt, der, wie sich bei näherer Betrachtung zeigte, aus dem Zweiten Weltkrieg zu stammen schien. An den Wänden hingen Bilder aus der gleichen Zeit, alle zeigten sie einen Typen beim Militär. Hier lag er bäuchlings auf der Erde und blinzelte an einem Gewehrlauf entlang wie John Wayne in einem Kriegsfilm. Dort rannte er neben einem Panzer her. Auf dem nächsten Foto hockte er im Schneidersitz da, umgeben von einer Gruppe ähnlicher Typen, die ihre Waffen so lässig geschultert hatten, als war's ganz normal, eine AK-47 - oder was es damals gewesen war - über der Schulter zu tragen. Kein Mensch würde sich heute mit so was brüsten, außer er gehörte irgendeiner martialischen NeonaziTruppe an.

Libby war mulmig zumute. Sie hätte nichts dagegen gehabt, innerhalb der nächsten dreißig Sekunden aus diesem Gruselkabinett zu verschwinden.

Dieser Wunsch wurde stärker, als sie die letzte Serie Fotos sah.

Die Bilder zeigten denselben Typen wie vorher, aber unter gänzlich anderen Umständen. Er sah aus wie einer aus einem Konzentrationslager. Er wog höchstens noch dreißig Kilo, und sein ganzer Körper war eine einzige eiternde Wunde. Er lag in einer Blätterhütte auf einer Pritsche, und seine Augen waren so tief in seinen Schädel eingesunken, dass es aussah, als wollten sie sich durch ihn hindurchbrennen. Aber sie waren lebendig, diese Augen. Sie blickten in die Kamera, und sie sagten, euch krieg ich, und wenn's ewig dauert. Richtig unheimlich.

Hinter Libby wurden Schubladen zugestoßen und andere herausgezogen. Papier raschelte, Gegenstände wurden zu Boden geworfen. Sie sah Gideon zu und dachte, wenn Richard das sieht, wird er total ausrasten, aber es war ihr ziemlich egal, denn Richard erntete ja nur, was er über so lange Zeit gesät hatte.

»Gideon«, sagte sie. »Was suchen wir hier eigentlich?«

»Er hat ihre Adresse. Er muss sie haben.«

»Das ist doch Unsinn.«

»Doch, er weiß, wo sie ist. Er hat sie gesehen.«

»Hat er dir das gesagt?«

»Sie hat ihm geschrieben. Er weiß die Adresse.«

»Gid, hat er dir das gesagt?« Libby glaubte es nicht. »Hey, warum sollte sie ihm schreiben? Warum sollte sie versuchen, ihn zu treffen? Cresswell-White hat doch gesagt, dass sie zu euch keine Verbindung aufnehmen darf, sonst haut es mit ihrer Bewährung nicht mehr hin. Die hat gerade zwanzig Jahre gesessen, richtig? Glaubst du, sie will gleich noch mal drei oder vier Jahre zurück in den Knast?«

»Er weiß es, Libby. Und ich auch.«

»Was tust du dann hier? Ich meine, wenn du es weißt…« Gideons Verhalten wurde von Minute zu Minute rätselhafter. Libby dachte flüchtig an die Psychiaterin. Sie wusste ihren Namen, Dr. Soundso Rose, aber das war auch alles. Sollte sie jeden Dr. Rose im Telefonbuch anrufen - wie viele konnte es da geben? - und sagen: Entschuldigen Sie, ich bin eine Freundin von Gideon Davies. Ich krieg langsam den Horror. Der benimmt sich total seltsam. Können Sie mir helfen?

Machten Psychiater Hausbesuche? Waren sie überhaupt bereit, es ernst zu nehmen, wenn ein Freund eines Patienten anrief und sagte, da laufe was aus dem Ruder? Oder waren sie in so einem Fall eher der Meinung, der Freund gehöre als Nächster auf die Couch? Scheiße. Mist. Was sollte sie tun? Richard würde sie jedenfalls bestimmt nicht anrufen. Von dem war nichts Gutes zu erwarten.

Gideon hatte unterdessen sämtliche Schubladen ausgeleert und den ganzen Krempel mit aller Gründlichkeit durchgesehen. Das Einzige, was er sich noch nicht vorgenommen hatte, war ein Briefhalter auf dem Schreibtisch, den er sich aus irgendeinem bizarren Grund - aber wer zählte die jetzt noch? - bis zum Schluss aufgehoben hatte. Einen nach dem anderen öffnete er die Briefumschläge und warf sie zu Boden, nachdem er sich ihren Inhalt angesehen hatte. Aber beim fünften Kuvert hielt er inne und begann zu lesen. Libby konnte erkennen, dass es sich um eine Grußkarte handelte, mit einem Blumenbild vorn und einer gedruckten Botschaft sowie einigen Zeilen handgeschriebenen Texts innen. Seine Hand sank schwer herab, als er die Worte gelesen hatte.

Er hat's gefunden, dachte sie und ging zu ihm. »Was ist es? Hat sie wirklich an deinen Dad geschrieben?«

Er sagte: »Virginia.«

»Was? Wer? Wer ist Virginia?«

Seine Schultern bebten, und er hielt die Karte in seiner Faust wie in einem Würgegriff. »Virginia«, sagte er wieder. »Virginia! Strafe ihn Gott! Er hat mich belogen.« Er begann zu weinen, nein, er schluchzte. Sein Körper wurde von heftigen Zuckungen geschüttelt, während er schluckte und würgte, als wollte alles aus ihm heraus: der Inhalt seines Magens, seine Gedanken und seine Gefühle.

Vorsichtig griff Libby nach der Karte. Er ließ sie sich aus der Hand nehmen, und sie überflog das Geschriebene auf der Suche nach den Worten, die Gideon zu dieser heftigen Reaktion veranlasst hatten.

Lieber Richard, stand da, danke dir vielmals für die Blumen. Es war keine große Feier, aber ich habe versucht, sie so zu gestalten, dass sie Virginia gefallen hätte. Ich habe überall in der Kapelle ihre Fingerfarbengenälde aufgehängt und ihr ihre Lieblingsspielsachen rund um den Sarg gelegt.

Unsere Tochter war auf ihre eigene Art ein Wunderkind. Nicht nur weil sie den medizinischen Vorhersagen zum Trotz zweiunddreißig Jahre alt wurde, sondern auch weil sie jedem, der mit ihr in Berührung kam, so vieles geben konnte. Ich denke, du wärst stolz gewesen, ihr Vater zu sein, wenn du sie gekannt hättest, Richard. Trotz ihren Problemen besaß sie deine Beharrlichkeit und deinen Kampfgeist, keine geringen Gaben an ein Kind.

Herzlichst, Lynn.

Libby las das Schreiben noch einmal und verstand. Sie besaß deine Beharrlichkeit und deinen Kampfgeist, keine geringen Gaben an ein Kind. Virginia, dachte sie. Auch Richards Kind. Gideon hatte noch eine Schwester, und auch die war tot.

Sie sah Gideon an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Er hatte in den vergangenen Tagen so viele Schläge einstecken müssen, und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn trösten sollte.

Zaghaft sagte sie: »Du hast nichts von ihr gewusst, Gid?«, und sagte noch einmal: »Gideon?«, als er nicht antwortete. Behutsam berührte sie seine Schulter. Er bewegte sich nicht, aber er zitterte am ganzen Körper.

»Tot«, sagte er schließlich.

»Ja«, antwortete sie. »Das habe ich gelesen. Lynn muss - na ja, sie spricht von >unserer Tochterc, also war sie offensichtlich die Mutter. Das heißt, dass dein Dad früher schon mal verheiratet war und du eine Stiefschwester hattest. Hast du das nicht gewusst?«

Er nahm ihr die Karte wieder ab, stemmte sich aus dem Schreibtischsessel, schob die Karte ungeschickt wieder in den Umschlag und steckte diesen in seine hintere Hosentasche. Mit einer Stimme, die so leise war, als spräche er in Hypnose, sagte er:

»Er belügt mich ständig. Das war immer so. Und er lügt auch jetzt.«

Wie blind watete er durch den Müll, den er auf dem Fußboden hinterlassen hatte, und Libby, die ihm folgte, sagte: »Vielleicht hat er gar nicht gelogen.« Sie sagte es nicht, um Richard Davies zu verteidigen - dieser Mensch hätte wahrscheinlich das Blaue vom Himmel gelogen, um zu erreichen, was er wollte -, sondern weil sie es so schrecklich fand, dass Gideon nun auch noch das zugemutet wurde. »Ich meine, wenn er dir nicht von Virginia erzählt hat, muss das ja nicht unbedingt eine bewusste Lüge gewesen sein. Vielleicht gab es einfach nie einen Anlass, darüber zu sprechen. Es ergab sich für ihn nie eine Gelegenheit, von ihr zu erzählen. Vielleicht wollte auch deine Mutter nicht, dass darüber geredet wird. Vielleicht war es zu schmerzhaft? Ich will damit nur sagen, dass es nicht unbedingt -«

»Ich wusste es«, sagte er. »Ich habe es immer gewusst.«

Er ging in die Küche, Libby hinterher, verwundert über diese letzte Bemerkung. Wenn Gideon von Virginia gewusst hatte, was war dann mit ihm los? War er entsetzt über ihren Tod? War er verstört, weil niemand ihn von ihrem Tod in Kenntnis gesetzt hatte? Empört, weil er daran gehindert worden war, zu ihrer Beerdigung zu gehen? Aber Richard selbst war ja, nach dieser Dankeskarte zu urteilen, auch nicht dort gewesen. Was also war die Lüge?

»Gid -«, begann sie und brach ab, als er zum Telefon ging und eine Nummer einzutippen begann. Eine Hand auf seinen Magen gedrückt, stand er da und klopfte mit dem Fuß auf den Boden, sein Gesicht eine Maske grimmiger Entschlossenheit.

»Jill?«, sagte er ins Telefon. »Gideon hier. Ich würde gern meinen Vater sprechen . Nein? Wo kann er dann…? Ich bin in seiner Wohnung. Nein, er ist nicht hier -ja, da habe ich nachgesehen. Hat er irgendetwas zu dir gesagt…?«

Es folgte eine ziemlich lange Pause, während der Richards Geliebte entweder nachdachte oder eine Reihe von Möglichkeiten aufzählte. Dann sagte Gideon: »Gut. MotherCare. In Ordnung… Danke, Jill.« Danach legte er wieder eine Pause ein, während der er nur zuhörte, und schloss das Gespräch dann mit den Worten:

»Nein, du brauchst ihm nichts auszurichten. Es wäre mir sogar lieber, du würdest ihm nichts von meinem Anruf sagen, falls er sich bei dir meldet. Ich möchte ihn nicht… Genau! Wozu ihn beunruhigen? Er hat genug um die Ohren.« Dann legte er auf.

»Sie meint, er sei in der Oxford Street. Einkäufe machen. Er möchte ein Babyfon haben. Sie hat noch keines besorgt, weil sie dachte, das Kind würde bei ihnen schlafen. Oder bei ihr. Oder bei ihm. Oder bei irgendjemandem. Auf keinen Fall wollte sie es allein schlafen lassen. Denn wenn man ein Baby allein lässt, Libby, wenn ein Kind eine Zeit lang unbeaufsichtigt bleibt, wenn die Eltern nicht wachsam sind, wenn ein unerwartetes Ereignis sie ablenkt, wenn ein Fenster offen steht, wenn man vergisst, eine brennende Kerze auszublasen, ganz gleich, was, dann kann das Schlimmste geschehen. Dann wird das Schlimmste geschehen. Und wer weiß das besser als mein Vater?«

»Los, gehen wir«, sagte Libby. »Verschwinden wir hier, Gideon. Komm schon. Ich spendier dir einen Milchkaffee, okay? Irgendwo in der Nähe gibt's bestimmt ein Starbucks.«

Er schüttelte den Kopf. »Fahr du nach Hause. Nimm den Wagen. Fahr nach Hause.«

»Ich lass dich hier nicht allein. Wie willst du denn überhaupt -«

»Ich warte auf meinen Vater. Er kann mich dann nach Hause fahren.«

»Wer weiß, wann er kommt. Wenn er erst zu Jill fährt und bei ihr dann die Wehen anfangen und sie zur Entbindung ins Krankenhaus muss, kann es Tage dauern. Komm schon. Ich möchte nicht, dass du ganz allein hier rumhängst.«

Aber er war nicht umzustimmen. Er wollte nicht, dass sie blieb, und er wollte nicht mit ihr fahren. Er wollte mit seinem Vater sprechen.

»Es ist mir egal, wie lang es dauert«, sagte er. »Diesmal ist es mir wirklich völlig egal.«

Widerstrebend fügte sie sich seinem Wunsch, außerdem war er nach dem Gespräch mit Jill etwas ruhiger, schien sich einigermaßen gefangen zu haben.

»Aber du rufst mich an, wenn du was brauchst«, sagte sie.

Er brachte sie zur Tür. »Ich brauche nichts«, antwortete er.


Helen selbst öffnete, als Lynley an die Tür des Hauses in Stamford Brook klopfte.

»Helen«, sagte er, »wieso bist du immer noch hier? Ich konnte es nicht glauben, als Hillier sagte, du wärst vom Krankenhaus aus hier herausgefahren. Das solltest du nicht tun.«

»Aber warum denn nicht?«, fragte sie ruhig und vernünftig.

Als er ins Haus trat, kam mit lautem Gebell Webberlys Hund aus der Küche angerannt. Lynley wich zur Tür zurück, während Helen den Hund beim Halsband nahm und sagte: »Nein, Alfie.«

Sie schüttelte ihn einmal kräftig. »Er benimmt sich nicht gerade wie ein guter Freund, aber er ist schon in Ordnung. Hunde, die bellen, beißen nicht.«

»Versprichst du mir das?«, fragte Lynley.

Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Ich habe eigentlich von dir gesprochen.« Sie ließ den Hund los, als dieser sich beruhigt hatte, dann kurz Lynleys Hosenaufschläge beschnupperte und zur Küche zurück trottete. »Gib mir bitte keine guten Ratschläge, Darling«, sagte Helen zu ihrem Mann. »Du siehst, ich habe wehrhafte Freunde.«

»Mit scharfen Zähnen.«

»Stimmt.« Mit einer Kopfbewegung zur Haustür sagte sie: »Ich hatte gar nicht mit dir gerechnet. Ich hoffte, es wäre Randie.«

»Sie will ihn wohl auf keinen Fall allein lassen.«

»Es ist das reinste Tauziehen. Sie will ihren Vater nicht verlassen, und Frances will das Haus nicht verlassen. Als der Anruf kam, dass er einen Herzinfarkt erlitten hatte, dachte ich, jetzt wird sie doch ganz bestimmt zu ihm fahren wollen. Sie wird sich überwinden, denn es kann ja sein, dass er stirbt, und nicht bei ihm zu sein, wenn er stirbt… Aber nein.«

»Das ist nicht dein Problem, Helen. Und so wie du dich die letzten Tage gefühlt hast - du brauchst dringend Ruhe. Wo ist denn Laura Hillier?«

»Sie und Frances hatten einen Riesenstreit. Das heißt, er ging eigentlich mehr von Frances aus. Es war so ein Gespräch nach dem Motto, schau mich gefälligst nicht an, als wär ich ein Ungeheuer, weißt du, wo die eine versucht, die andere davon zu überzeugen, dass sie das nicht denkt, was die andere ihr unbedingt einreden will, dass sie denkt, weil sie es nämlich auf einer gewissen Ebene - würde man sagen, im Unterbewussten? - tatsächlich denkt.«

Lynley hatte keinen Boden mehr unter den Füßen und sagte:

»Kann es sein, dass diese Gewässer zu tief für mich sind, Helen?«

»Ein Rettungsring wäre vielleicht nicht schlecht.«

»Und ich dachte, ich könnte helfen.«

Helen war ins Wohnzimmer gegangen. Dort stand ein Bügelbrett und auf ihm ein Bügeleisen, woraus Lynley verblüfft schloss, dass seine Frau tatsächlich dabei war, die Familienwäsche zu bügeln. Über dem Brett lag ein Herrenhemd, dessen einer Ärmel offensichtlich das Objekt ihrer jüngsten Bemühungen war. Nach den Falten zu urteilen, die wie in das Kleidungsstück gestanzt wirkten, schien Helens Berufung nicht unbedingt das Bügeln zu sein.

Sie bemerkte seinen Blick und sagte: »Na ja, ich wollte mich nützlich machen.«

»Du bist großartig. Wirklich«, versicherte Lynley ermutigend.

»Aber ich mache es irgendwie falsch. Das sehe ich selbst. Ich bin sicher, es gibt da eine Methode - eine Reihenfolge oder so was -, aber ich bin bis jetzt nicht dahinter gekommen. Zuerst die Ärmel? Oder der Rücken? Der Kragen vielleicht? Ganz gleich, wo ich anfange, der Teil, den ich gerade gebügelt habe, verknittert sofort wieder, wenn ich den nächsten Teil in Angriff nehme. Hast du keinen Rat für mich?«

»Es muss doch in der Nähe eine Wäscherei geben.«

»Das ist wirklich wahnsinnig hilfreich, Tommy.« Helen lächelte kläglich. »Vielleicht sollte ich bei Kissenbezügen bleiben.«

»Wo ist Frances?«

»Darling, nein! Wir können sie doch jetzt unmöglich -«

Er lachte. »Das meinte ich nicht. Ich würde gern mit ihr sprechen. Ist sie oben?«

»Ach so. Ja. Nach dem Krach gab's natürlich Tränen. Laura stürzte schluchzend aus dem Haus, und Frances rannte mit verbissener Miene nach oben. Als ich später nach ihr sah, hockte sie im Schlafzimmer in einer Ecke auf dem Boden und hielt sich an den Vorhängen fest. Sie bat mich, sie in Ruhe zu lassen.«

»Sie braucht Randie. Und Randie braucht sie.«

»Glaub mir, Tommy, das habe ich ihr bereits in allen Tonarten gesagt, von piano bis fortissimo. Nur aggressiv habe ich es nicht versucht.«

»Aber das braucht sie vielleicht. Ein bisschen Aggressivität.«

»Der Ton könnte vielleicht eine Wirkung haben - obwohl ich es bezweifle -, aber mit Lautstärke, das garantiere ich dir, wirst du überhaupt nichts erreichen. Jedes Mal, wenn ich nach oben gehe, um nach ihr zu sehen, bittet sie mich, sie allein zu lassen. Ich tu das zwar nicht gern, aber ich finde, man muss ihre Wünsche respektieren.«

»Dann lass es mich doch mal versuchen.«

»Ich komme mit. Gibt es von Malcolm eigentlich etwas Neues? Wir haben aus dem Krankenhaus nichts mehr gehört, seit Randie angerufen hat. Aber das ist wahrscheinlich ein gutes Zeichen. Randie hätte doch bestimmt sofort telefoniert, wenn… Hat sich an seinem Zustand gar nichts geändert, Tommy?«

»Nein, nichts«, antwortete Lynley. »Sein Herz verkompliziert die Situation natürlich. Man kann nur warten.«

»Meinst du, es wird auf eine Entscheidung hinauslaufen…?«

Helen blieb oberhalb von ihm auf der Treppe stehen und blickte zu ihm zurück. Sein Gesicht gab ihr die Antwort auf die unvollendete Frage. »Ach Gott, es tut mir so Leid für sie alle«, sagte sie.

»Und für dich auch. Ich weiß doch, wie viel er dir bedeutet.«

»Frances muss zu ihm ins Krankenhaus. Man kann Randie nicht zumuten, alles allein zu entscheiden, wenn es soweit kommen sollte.«

»Nein, ganz gewiss nicht«, stimmte Helen zu.

Lynley, der nie im oberen Stockwerk des Hauses gewesen war, ließ sich von Helen den Weg zum Schlafzimmer zeigen. Hier oben durchzogen die verschiedensten Gerüche die Luft: Blumendüfte aus Schalen mit getrockneten Blüten auf einer dreistöckigen Etagere gleich bei der Treppe, würziger Orangenduft, der mit dem Rauch einer brennenden Kerze neben der Badezimmertür aufstieg, das Zitronenaroma der Möbelpolitur. Aber all diese Düfte vermochten nicht, den durchdringenden Geruch überheizter Luft und schalen Zigarrenrauchs zu überdecken, die sich in diesen Räumen so festgesetzt hatten, dass es schien, als könnte höchstens ein heftiger und lang andauernder Regenguss sie vertreiben.

»Es gibt nicht ein offenes Fenster im Haus«, bemerkte Helen leise. »Ich weiß, es ist November, da kann man natürlich nicht erwarten… Aber trotzdem… Es muss sehr schwierig für sie sein, nicht nur für Malcolm und Randie. Sie können ja weg. Auch für Frances, denn sie wünscht sich doch sicher nichts so sehr, wie wieder - wieder gesund zu werden.«

»Ja, das möchte man meinen«, stimmte Lynley zu. »Ist es hier, Helen?«

Nur eine der Türen war geschlossen, und Helen nickte, als er auf diese zeigte. Er klopfte an und sagte: »Frances? Ich bin's, Tommy. Darf ich reinkommen?«

Keine Antwort. Er rief noch einmal, ein wenig lauter diesmal, und ließ ein zweites Klopfen folgen. Als sie sich auch jetzt nicht meldete, legte er die Hand an den Türknauf, der sich ohne Mühe drehen ließ. Lynley öffnete vorsichtig die Tür einen Spalt. Hinter ihm rief Helen gedämpft: »Frances? Möchten Sie mit Tommy sprechen?«

Woraufhin Webberlys Frau endlich reagierte und »Ja« sagte, mit einer Stimme, aus der weder Furcht noch Ärger angesichts der Störung herausklangen, die nur leise und sehr müde war.

Sie fanden sie nicht in der Ecke, wo Helen sie zuletzt gesehen hatte, sondern auf einem ungepolsterten, steiflehnigen Stuhl sitzend, den sie an ihren Toilettentisch herangezogen hatte, um dort im Spiegel ihr Bild betrachten zu können. Auf dem Tisch hatte sie Haarbürsten, Spangen und Bänder bereit gelegt, und als Helen und Lynley eintraten, ließ sie gerade zwei der Bänder durch ihre Finger laufen, als wollte sie die Wirkung der Farbe auf ihrer Haut prüfen.

Sie trug offensichtlich noch dieselben Kleider wie in der Nacht, als sie ihre Tochter angerufen hatte: einen gesteppten rosaroten Morgenrock und darunter ein blaues Nachthemd. Sie hatte ihr Haar nicht geordnet, auch wenn sie sämtliche Bürsten vor sich ausgelegt hatte, denn es war immer noch platt an den Kopf gedrückt wie unter einem unsichtbaren Hut.

Sie war so bleich, dass Lynley trotz der Tageszeit sofort an einen stärkenden Schluck Alkohohl dachte: Gin, Brandy, Whisky, Wodka oder irgendetwas anderes, was ihrem Gesicht wieder Farbe geben würde. Er sagte zu Helen: »Würdest du uns etwas zu trinken holen, Darling?« Und zu Webberlys Frau: »Frances, Ihnen würde ein Brandy gut tun. Tun Sie mir den Gefallen und trinken Sie einen.«

»Ja, gut«, antwortete sie. »Einen Brandy.«

Helen ging. Lynley schob eine Wäschetruhe, die am Fußende des Bettes stand, zum Toilettentisch hinüber, wo Frances saß, um mit ihr von Angesicht zu Angesicht sprechen zu können und nicht von oben herab wie ein Schulmeister. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Er wusste nicht, was helfen würde. Wenn man bedachte, wie lange Frances Webberly, von unerklärlichen Ängsten heimgesucht, dieses Haus nicht mehr verlassen hatte, war nicht damit zu rechnen, dass sie sich von einigen simplen Worten darüber, in welcher Gefahr ihr Mann schwebte und wie dringend ihre Tochter sie brauchte, überzeugen lassen würde, dass ihre Ängste grundlos waren. Er war klug genug, zu wissen, dass der menschliche Geist so nicht funktionierte. Alltagslogik reichte nicht aus, um Dämonen auszutreiben, die im dunklen Labyrinth der Seele hausten.

Er sagte: »Kann ich irgendetwas für Sie tun, Frances? Ich weiß, Sie wollen zu ihm.«

Sie hatte eines der Bänder an ihre Wange gehoben und ließ es sinken, um es auf dem Tisch niederzulegen. »Das wissen Sie«, erwiderte sie, nicht als Frage, sondern als Feststellung. »Wenn ich das Herz einer Frau besäße, die ihren Mann richtig zu lieben weiß, wäre ich schon bei ihm. Unmittelbar nach dem Anruf des Krankenhauses wäre ich zu ihm gefahren, als sie sagten: >Ist dort Mrs. Webberly? Hier ist die Notaufnahme des Charing Cross Hospitals. Spreche ich mit einer Angehörigen von Malcolm Webberly?< Da wäre ich gefahren und hätte kein weiteres Wort abgewartet. Keine Frau, die ihren Mann liebt, hätte das getan. Keine richtige Frau hätte gesagt: >Was ist denn passiert? O Gott! Wieso ist er nicht hier? Bitte sagen Sie es mir. Der Hund ist nach Hause gekommen, aber Malcolm nicht, er hat mich verlassen, nicht wahr? Er hat mich verlassen, er hat mich schließlich doch verlassen! < Und sie sagten: >Mrs. Webberly, Ihr Mann ist am Leben. Aber wir möchten gern mit Ihnen sprechen. Hier im Krankenhaus. Sollen wir Ihnen ein Taxi schicken? Oder haben Sie jemanden, der Sie hierher fahren kann?< Das war wirklich rücksichtsvoll von ihnen, nicht wahr, sich nichts anmerken zu lassen. Mein Gerede einfach zu übergehen. Aber nachdem sie aufgelegt hatten, da sagten sie: >Hey, die Frau gehört in die Klapsmühle. Kann einem Leid tun, dieser Webberly. Kein Wunder, dass er draußen auf der Straße rumgeirrt ist. Wahrscheinlich hat er sich absichtlich vor das Auto geworfen! <« Ihre Finger krümmten sich krampfhaft um ein dunkelblaues Haarband, und die Nägel gruben Kerben in den Satin.

»Wenn man mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wird, ist man natürlich durcheinander, Frances«, sagte Lynley. »Schwestern, Ärzte, Pfleger - jeder in einem Krankenhaus weiß das.«

»>Er ist dein Mann<, hat sie gesagt. >Er hat sich in all diesen schlimmen Jahren immer um dich gekümmert, du schuldest ihm das. Und Miranda schuldest du es auch, Frances. Du musst dich zusammenreißen, denn wenn du es nicht tust und Malcolm etwas zustößt - wenn er, mein Gott, stell dir vor er stirbt… Steh auf, steh verdammt noch mal auf, Frances Louise! Du und ich, wir wissen doch genau, dass dir nichts, aber auch gar nichts fehlt! Du stehst nicht mehr im Scheinwerferlicht. Akzeptier das einfach.< Als hätte sie auch nur eine Ahnung, wie es ist. Als hätte sie selbst in meiner Welt gelebt, in dieser Welt hier drinnen« - sie klopfte sich heftig an die Schläfe - »und nicht in ihrer eigenen kleinen heilen Welt, wo alles in bester Ordnung ist und immer war und immer sein wird, Amen. Aber bei mir ist es nicht so. Nein. So ist es bei mir nicht.«

»Natürlich«, stimmte Lynley zu. »Jeder von uns sieht die Welt durch das Prisma seiner eigenen Erfahrungen. Aber manchmal, in einem Moment der Krise, vergessen wir das. Und dann sagen und tun wir Dinge… Es geht immer um ein Ziel, das jeder zu erreichen sucht, ohne zu wissen, wie dies funktionieren soll. Wie kann ich Ihnen helfen, Frances?«

In diesem Moment kam Helen zurück, in der Hand ein Weinglas, das zur Hälfte mit Brandy gefüllt war. Sie stellte es auf den Toilettentisch und sah Lynley mit einem Gesicht an, als wollte sie sagen: »Und was nun?« Er wünschte, er hätte ihr eine Antwort geben können. Er hatte kaum Zweifel daran, dass Frances' Schwester vom besten Willen beseelt das ganze Repertoire bereits durchprobiert hatte. Ganz sicher hatte Laura Hillier zunächst versucht, vernünftig mit ihrer Schwester zu reden, und dann, als das nichts half, alle anderen Register gezogen, von der Manipulation über die Schuldzuweisung bis zu den Drohungen. Das, was wahrscheinlich notwendig wäre, um der armen Frau zu helfen - sie langsam Schritt für Schritt wieder an die Außenwelt zu gewöhnen, vor der sie seit Jahren zurückschreckte -, konnte keiner von ihnen bewerkstelligen, ganz abgesehen davon, dass die Zeit fehlte.

Was nun?, fragte sich Lynley genau wie seine Frau. Ein Wunder, Helen.

»Trinken Sie, Frances«, sagte er und hielt ihr das Glas hin. Als sie getrunken hatte, legte er seine Hand auf die ihre und fragte:

»Was genau hat man Ihnen über Malcolm gesagt?«

Frances murmelte: »>Die Ärzte wollen mit dir sprechen<, hat sie gesagt. >Du musst ins Krankenhaus fahren. Du musst an seiner Seite sein. Du musst Randie beistehen.««

Zum ersten Mal ließ Frances Webberly ihr Spiegelbild aus den Augen und sah zu Lynleys Hand hinunter, die immer noch auf der ihren lag. »Wenn Randie bei ihm ist«, sagte sie, »ist ihm das schon beinahe genug. >Was für eine herrliche neue Welt uns geschenkt worden ist<, sagte er bei ihrer Geburt. Deswegen musste sie Miranda getauft werden. In seinen Augen war sie vollkommen. Die Vollkommenheit schlechthin. Ich konnte nicht einmal hoffen, so zu sein. Niemals. Daddy hatte eine Prinzessin.«

Sie griff nach dem Weinglas, das Lynley abgestellt hatte, wollte es nehmen und hielt plötzlich inne. »Nein. Nein, das stimmt nicht«, sagte sie. »Nicht Prinzessin. Nein. Daddy hatte eine Königin gefunden.« Ihr Blick blieb starr auf das Glas mit dem Brandy gerichtet, aber in ihren Augen sammelten sich Tränen.

Lynley schaute Helen an, die rechts hinter Frances stand, und sah, dass sie in diesem Moment genau wie er am liebsten geflohen wäre. Sich mit der Eifersucht einer Mutter konfrontiert zu sehen, die so stark war, dass sie ihr Opfer selbst angesichts einer Krise auf Leben und Tod nicht loslassen konnte… Das war mehr als erschreckend, fand Lynley. Es war obszön. Er kam sich vor wie ein Voyeur.

Helen sagte: »Wenn Malcolm auch nur die kleinste Ähnlichkeit mit meinem Vater hat, Frances, dann vermute ich, dass er immer überzeugt war, Randie gegenüber eine besondere Verantwortung zu haben, weil sie eine Tochter ist und nicht ein Sohn.«

»Ja, ich habe das in meiner eigenen Familie erlebt«, fügte Lynley hinzu. »Mein Vater hat meine ältere Schwester völlig anders behandelt als mich. Oder auch als meinen jüngeren Bruder. Wir waren in seinen Augen längst nicht so verletzlich. Wir mussten gestählt werden. Aber meiner Ansicht nach heißt das alles doch nur -«

Frances zog ihre Hand unter der seinen heraus. »Nein«, sagte sie. »Sie haben schon Recht. Ich meine, im Krankenhaus, mit dem, was sie denken. Die Königin ist tot, und jetzt kommt er mit dem Leben nicht mehr zurecht. Darum hat er sich gestern Abend vor ein Auto geworfen.« Zum ersten Mal sah sie Lynley direkt an. Noch einmal sagte sie: »Die Königin ist endgültig tot. Niemand kann sie ersetzen. Ganz gewiss nicht ich.«

Und Lynley verstand plötzlich. »Sie haben es gewusst«, sagte er im selben Moment, als Helen rief: »Frances, Sie dürfen niemals glauben -«

Frances brachte sie zum Schweigen, indem sie aufstand. Sie trat zu einem der beiden Nachttische, zog die Schublade heraus und stellte sie aufs Bett. Von ganz hinten, getrennt von den restlichen Gegenständen, die hier verwahrt waren, nahm sie ein kleines gefaltetes Tüchlein aus weißem Leinen. Wie ein Priester bei einem Ritual schüttelte sie es zuerst auseinander und breitete es dann auf dem Bettüberwurf aus.

Lynley trat näher. Helen ebenfalls. Alle drei sahen sie auf das weiße Stück Leinen hinunter, ein Taschentuch gewöhnlicher Art bis auf zwei Details: In einer Ecke waren die ineinander verschlungenen Initialen E und D zu erkennen, und in der Mitte war ein rostfarbener Fleck, Erinnerung an ein kleines Drama aus der Vergangenheit. Er schneidet sich in den Finger, den Handballen, den Handrücken, während er irgendetwas für sie tut - ein Brett durchsägt, einen Nagel einschlägt, ein Glas abtrocknet, die Scherben einer versehentlich zerschlagenen Tasse aufhebt -, und sie zieht eilig das Taschentuch aus ihrer Jackentasche, ihrer Handtasche, ihrem Pulloverärmel, ihrem Büstenhalter und drückt es auf seine Haut, weil er nie eines bei sich hat. Dieses kleine Stück Leinen findet seinen Weg in die Tasche seiner Hose, seines Jacketts, seines Mantels, wo er es vergisst und seine Frau es findet, als sie die Wäsche sortiert, die Sachen für die Reinigung, für die Kleidersammlung zurecht legt - und sofort weiß, was es ist, und es aufbewahrt.

Wie viele Jahre lang?, fragte sich Lynley. Wie viele gottverdammte, schreckliche Jahre lang, in denen sie nicht ein einziges Mal gefragt hatte, was dieses Taschentuch zu bedeuten hatte, ihrem Mann niemals die Gelegenheit gab, die Wahrheit zu sagen, wie immer diese Wahrheit auch aussah, oder zu lügen, eine Erklärung zu erfinden, die vielleicht völlig glaubwürdig gewesen wäre oder wenigstens so plausibel, dass sie daran hätte festhalten können, um sich selbst zu belügen.

»Frances«, sagte Helen, »darf ich das wegwerfen?« Sie legte ihre Finger nicht auf das Taschentuch, sondern daneben, als wäre es eine Reliquie und sie eine Novizin in irgendeiner obskuren Glaubensgemeinschaft, wo nur die Geweihten das Heiligtum berühren durften.

Frances sagte: »Nein!«, und packte das Tuch. »Er hat sie geliebt«, fuhr sie fort. »Er hat sie geliebt, und ich wusste es. Ich sah es kommen. Ich sah, wie es sich entwickelte; es war, als würde mir eine Studie des ganzen Prozesses der Liebe vorgeführt. Wie in einem Fernsehspiel. Und ich habe immer nur gewartet, weil ich von Anfang an wusste, was mit ihm los war. Er müsse einfach darüber sprechen, sagte er. Wegen Randie . weil diese armen Menschen ein kleines Mädchen verloren hätten, das nicht viel jünger gewesen sei als unsere Randie, und er könne mitfühlen, wie entsetzlich es für sie sei, wie sehr sie litten, besonders die Mutter, und: >Kein Mensch scheint mit ihr darüber sprechen zu wollen, Frances. Sie hat niemanden. Sie lebt unter einer Glocke des Schmerzes - nein, unter einer Giftwolke des Schmerzes, die keiner ihr zu lichten hilft. Das ist unmenschlich, Frances. Unmenschlich! Jemand muss ihr helfen, bevor sie erstickt. < Und damit stand für ihn fest, dass er ihr helfen würde. Er würde diesen Mörder hinter Schloss und Riegel bringen, so wahr ihm Gott helfe, >Ich werde nicht rasten noch ruhen, Frances, Liebes, bis dieser Mörder seine gerechte Strafe bekommt. Denn wie würden wir uns fühlen, wenn jemand - was Gott verhüten möge - unserer Randie etwas antäte? Wir würden die Nächte aufbleiben, nicht wahr, wir würden in allen Straßen suchen, wir würden nicht schlafen und nicht essen, wir würden tagelang nicht heimkehren, wenn das erforderlich wäre, um das Ungeheuer zu finden, das unserem Kind etwas Böses getan hat.<«

Lynley ließ langsam seinen Atem entweichen und merkte erst jetzt, dass er ihn angehalten hatte, seit Frances zu sprechen begonnen hatte. Er fühlte sich dieser Situation nicht gewachsen. Hilfesuchend blickte er zu seiner Frau, und als er sah, dass sie die Finger an den Mund drückte, wusste er, dass das, was sie empfand, eine tiefe Trauer war - eine tiefe Trauer wegen all dem, was zwischen Frances Webberly und ihrem Mann viel zu lange unausgesprochen geblieben war. Unwillkürlich fragte er sich, was denn eigentlich schlimmer war: jahrelang die Folter der eigenen Fantasien zu ertragen oder innerhalb von Sekunden durch die Wahrheit den Tod zu erfahren.

Helen sagte: »Frances, wenn Malcolm Sie nicht geliebt hätte -«

»Pflichtgefühl.« Frances ging daran, das Taschentuch wieder sehr sorgsam zu falten.

»Aber das ist meiner Ansicht nach ein Teil der Liebe, Frances«, sagte Lynley. »Es ist nicht der einfache Teil. Es ist nicht wie dieser erste Sturm der Gefühle: dieses heiße Begehren und die unerschütterliche Gewissheit, man sei vom Schicksal füreinander bestimmt, und, ach, welch ein Glück, dass wir einander gefunden haben! Es ist der schwierige Teil, bei dem es um die Möglichkeit der Wahl geht und die Entscheidung, am Kurs festzuhalten.«

»Ich habe ihm gar keine Wahl gelassen«, entgegnete Frances Webberly.

»Frances«, sagte Helen leise, und Lynley konnte allein ihrem Ton entnehmen, was die nächsten Worte sie kosteten. »Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Sie über diese Macht gar nicht verfügen.«

Die Worte veranlassten Frances zu einem scharfen Blick auf Helen, aber natürlich konnte sie nicht hinter die Fassade sehen, die Helen errichtet hatte, um in der Welt zu leben, die sie vor langer Zeit für sich erschaffen hatte: die schicke Frisur, die makellose und sorgfältig gepflegte Haut, die manikürten Nägel, der perfekte schlanke Körper, der wöchentlich massiert wurde, die eleganten Kleider für Frauen, die wussten, was Eleganz war und wie man sie einsetzte. Aber die wahre Helen, in der sie die Frau hätte erkennen können, die einst aus dem Leben eines Mannes geflüchtet war, den sie geliebt hatte, weil sie es nicht fertig brachte, an einem Kurs festzuhalten, der sich ihrer Meinung nach und für ihre Möglichkeiten allzu radikal geändert hatte… Diese Helen kannte Frances Webberly nicht und hatte daher keine Ahnung davon, dass niemand besser als Helen wusste, dass niemals ein Einzelner allein durch seinen Zustand - ob geistig, seelisch, sozial, körperlich oder in Kombination dieser verschiedenen Aspekte - die Entscheidungen eines anderen wirklich bestimmen konnte.

»Frances«, sagte Lynley, »eines müssen Sie wissen: Malcolm hat sich nicht vor ein Auto geworfen. Ja, Eric Leach hat ihn angerufen, um ihn von Eugenie Davies' Tod in Kenntnis zu setzen, und ich nehme an, Sie haben in der Zeitung von ihrem Tod gelesen.«

»Er war verstört. Ich glaubte, er hätte sie vergessen, aber dann wurde mir klar, dass das nicht der Fall war. Er hat sie nie vergessen, in all den Jahren nicht.«

»Er hat sie nicht vergessen, das stimmt«, sagte Lynley, »aber die Gründe sind andere, als Sie glauben. Frances, wir vergessen nicht. Wir können gar nicht vergessen. Was wir erleben, lässt uns nicht unberührt. Aber die Tatsache, dass wir uns erinnern, heißt allein das, nicht mehr und nicht weniger. Denn so arbeitet unser Verstand. Er behält die Dinge in Erinnerung. Und wenn wir Glück haben, entstehen aus dem Erinnern keine Albträume. Mehr können wir uns nicht erhoffen.«

Lynley wusste, dass er sich auf einem schmalen Grat zwischen Lüge und Wahrheit bewegte. Er hielt es für ziemlich wahrscheinlich, dass das, was Webberly während dieser Beziehung zu Eugenie Davies und in den darauf folgenden Jahren erlebt hatte, weit über bloßes Erinnern hinausging. Aber das zählte im Augenblick nicht. Jetzt kam es einzig darauf an, dass Webberlys Frau einen Teil der letzten achtundvierzig Stunden verstand. Darum erklärte er es ihr noch einmal. »Frances, er hat sich nicht absichtlich vor ein Auto geworfen. Er wurde angefahren. Jemand wollte ihn töten. In den nächsten Stunden oder Tagen wird sich zeigen, ob dieser Jemand Erfolg gehabt hat; denn es kann sein, dass Malcolm sterben wird. Zumal er auch noch einen schweren Herzinfarkt hatte. Das hat man Ihnen doch mitgeteilt, nicht wahr?«

Ein schrecklicher Laut kam ihr über die Lippen, halb wie das Brüllen einer Gebärenden und halb wie das angstvolle Jammern eines verlassenen Kindes. »Malcolm darf nicht sterben«, wimmerte sie. »Ich habe solche Angst.«

»Da sind Sie nicht allein«, sagte Lynley.


Nur dank ihrem Termin in einem Frauenhaus behielt Yasmin Edwards in der Zeit zwischen ihrem Anruf bei Constable Nkata und ihrem Treffen mit ihm in ihrem Laden die Nerven. Er hatte gesagt, er müsse erst von Hampstead herüberfahren und könne darum nicht mit Sicherheit sagen, wann er da sein werde, aber er werde so schnell wie möglich kommen, und in der Zwischenzeit könne sie ihn jederzeit anpiepen, falls sie plötzlich Befürchtungen bekäme, er würde nicht kommen oder hätte den Termin vergessen oder wäre irgendwo hängen geblieben. Er würde ihr dann genau sagen, wo er sich gerade befinde. Sie hatte gesagt, sie könne auch zu ihm kommen oder sich irgendwo auf halbem Weg mit ihm treffen. Das wäre ihr sogar lieber, hatte sie erklärt. Aber er hatte ihren Vorschlag abgelehnt und gemeint, es sei das Beste, wenn er zu ihr komme.

Beinahe hätte sie es sich da anders überlegt. Aber dann dachte sie an die Galveston Road Nummer fünfundfünfzig, an Katjas Küsse und was es hieß, dass Katja noch immer hinabgleiten und sie lieben konnte. Und sie sagte: »In Ordnung. Ich warte dann im Laden auf Sie.«

Aber erst einmal fuhr sie zu ihrem Termin in dem Frauenhaus in Camberwell. Drei Schwestern in den Dreißigern, eine Asiatin und eine alte Frau, die seit sechsundvierzig Jahren verheiratet war, lebten zur Zeit dort. Sie teilten miteinander zahllose blaue Flecke, zwei Veilchen, vier Platzwunden an den Lippen, eine zusammengeflickte Wange, ein gebrochenes Handgelenk, eine ausgekugelte Schulter und ein durchstochenes Trommelfell. Sie waren wie geprügelte Hunde, die vor kurzem von der Kette gelassen worden waren: geduckt und zwischen Flucht und Angriff schwankend.

Lasst euch von niemandem so was gefallen, hätte Yasmin die Frauen am liebsten angeschrien. Das Einzige, was sie davon abhielt, waren die Spuren in ihrem eigenen Gesicht - die Narbe und die nach einem Bruch schlecht verheilte Nase -, die genug darüber sagten, was sie selbst sich einmal alles hatte gefallen lassen.

Sie sah die Frauen deshalb nur mit einem breiten Lächeln an und sagte: »Kommt doch rüber, ihr Klasseweiber.« Insgesamt blieb sie zwei Stunden und arbeitete mit ihren Schminkutensilien, ihren Farbmustern, mit Schals, Düften und Perücken. Und als sie schließlich ging, konnten drei der Frauen wieder lächeln, die vierte hatte tatsächlich ein Lachen zustande gebracht, und die fünfte wagte es, den Blick vom Boden zu heben. Yasmin war zufrieden mit ihrer Arbeit.

Sie fuhr zum Laden zurück. Als sie ankam, marschierte schon der Bulle auf der Straße auf und ab. Sie beobachtete, wie er auf die Uhr schaute und versuchte, hinter den eisernen Vorhang zu spähen, den sie vor dem Laden herunterzulassen pflegte, wenn sie nicht da war. Dann schaute er wieder auf seine Uhr, zog seinen piepser aus dem Halter an seinem Gürtel und gab eine Nummer ein.

Yasmin fuhr in dem alten Fiesta vor und öffnete die Tür. Noch ehe sie ein Bein aus dem Wagen geschwungen hatte, war der Bulle da.

»Soll das ein Witz sein?«, fragte er verärgert. »Glauben Sie vielleicht, eine Morduntersuchung wäre ein Jux, Mrs. Edwards?«

»Sie haben doch gesagt, dass sie nicht wissen, wie lange -« Yasmin brach ab. Wie kam sie dazu, sich vor ihm zu rechtfertigen?

»Ich hatte einen Termin. Wollen Sie mir jetzt tragen helfen, oder macht's Ihnen mehr Spaß, mich fertig zu machen?« Trotzig sah sie ihm ins Gesicht - eine Frau, so groß wie er - und wartete auf eine Beleidigung oder auf Spott.

Aber es kam nichts dergleichen. Er ging wortlos zum Kofferraum des Fiesta und wartete darauf, dass sie aufsperren würde.

Sie tat es, hob ihm den Karton mit ihren Frisiersachen in die Arme und stellte noch den Koffer mit dem Schminkzeug, den Cremes und den Bürsten obenauf. Dann knallte sie die Kofferraumklappe zu und ging zum Laden, wo sie die Eisengitter aufsperrte und nach oben schob und mit der Schulter nachhalf, wie immer, wenn es auf halbem Weg klemmte.

»Moment mal«, sagte er und stellte seine Last zu Boden. Bevor sie es verhindern konnte, drückte er seine Hände - breit und flach und schwarz mit hellen ovalen Nägeln, die kurz geschnitten und gepflegt waren - rechts und links unter das Gitter und stieß es hinauf, während sie schob. Mit einem Knirschen von Metall auf Metall hob sich das Gitter. Der Bulle blieb, wo er war, direkt hinter ihr, viel zu nahe, und sagte: »Da muss mal was gemacht werden. Der wird sich bald überhaupt nicht mehr hochschieben lassen.«

»Ich komm schon zurecht«, sagte sie und ergriff den Metallkoffer mit den Schminksachen, weil sie etwas tun und ihm zu verstehen geben wollte, dass sie keine Hilfe nötig hatte.

Aber drinnen im Laden war es wie zuvor. Er schien den Raum zu füllen, er schien von ihm Besitz zu ergreifen. Und das ärgerte sie, zumal er überhaupt nichts tat, woraus man hätte schließen können, dass er es darauf anlegte, den starken Mann zu markieren. Er stellte den Karton auf den Tresen und sagte in ernsthaftem Ton: »Ich habe fast eine Stunde auf Sie gewartet, Mrs. Edwards. Ich hoffe, es hat sich gelohnt.«

»Von mir brauchen Sie sich überhaupt nichts -« Sie fuhr zornig herum. Sie war gerade dabei gewesen, ihren Schminkkoffer zu verstauen, als er sprach, und ihre Reaktion war reiner Reflex, zack!, genau wie bei den Pawlowschen Hunden und ihrer Glocke.

Mensch, komm, jetzt zier dich nicht so, Yas. Wenn eine so 'nen Körper hat wie du, sollte sie ihn auch gebrauchen.

Darum hätte sie jetzt dem Bullen beinahe ins Gesicht geschrien: Von mir brauchen Sie sich überhaupt nichts zu erhoffen! Nichts da von wegen Knutscherei in der Wäschekammer, geilem Gegrapsche beim Essen unterm Tisch, großer Entkleidungsszene mit anschließenden wütenden Versuchen, widerwillige Beine auseinander zu zwingen. Mensch, jetzt stell dich doch nicht so an, Yas!

Sie spürte, wie ihr Gesicht erstarrte. Er beobachtete sie. Sie nahm wahr, wie sein Blick von ihrem Mund zu ihrer Nase wanderte. Sie war gezeichnet von dem, was ein Mann Liebe genannt hatte, und er las diese Zeichen, und sie würde es niemals vergessen können.

Er sagte: »Mrs. Edwards«, und sie fragte sich, wieso sie diesen Namen, dessen Klang ihr so verhasst war, beibehalten hatte. Sie hatte sich einzureden versucht, sie hätte es Daniels wegen getan, damit Mutter und Sohn wenigstens durch den Namen verbunden wären, wenn es schon keine andere Verbindung zwischen ihnen geben konnte. Jetzt aber fragte sie sich, ob sie es getan hatte, um sich selbst zu strafen; nicht als ständige Erinnerung daran, dass sie ihren Mann getötet hatte, sondern gewissermaßen als Buße dafür, dass sie sich überhaupt mit ihm eingelassen hatte.

Sie hatte ihn geliebt, ja. Aber sie hatte sehr bald begriffen, dass es einem nicht gut tat, zu lieben. Nur hatte sie die Lektion nicht wirklich gelernt. Sie hatte von Neuem geliebt, und was war dabei herausgekommen? Dass sie jetzt einem Bullen gegenüber stand, der diesmal dieselbe Mörderin, aber eine ganz andere Art von Leiche erleben würde.

»Sie wollten mir etwas mitteilen.« Constable Winston Nkata griff in die Tasche seines wie angegossen sitzenden Jacketts und zog ein Notizbuch heraus; das, welches sie schon kannte, an dem der Drehbleistift festgeklemmt war.

Yasmin musste an die Lügen denken, die er bereits aufgeschrieben hatte, und wie schlecht sie dastehen würde, wenn sie jetzt plötzlich beschloss, reinen Tisch zu machen. Und bei diesem Bild vom reinen Tisch wurde ihr alles klar: Wie andere einen Menschen betrachten und sich anhand seines Gesichts, seiner Art sich auszudrücken und seiner Körperhaltung ein Bild von ihm machen, an dem sie - allen Indizien für eine Täuschung zum Trotz - eisern festhalten. Und warum? Weil die Menschen unbedingt glauben wollen.

»Sie war nicht zu Hause«, sagte sie. »Wir haben nicht ferngesehen. Sie war nicht da.«

Sie beobachtete, wie der Brustkorb des Polizisten langsam einsank, als hätte er seit dem Moment seiner Ankunft die Luft angehalten, weil er nicht glauben konnte, dass Yasmin Edwards ihn am Morgen eigens angerufen hatte, weil sie ihre Freundin verraten wollte.

»Wo war sie?«, fragte er. »Hat sie es Ihnen gesagt, Mrs. Edwards? Wann ist sie nach Hause gekommen?«

»Neunzehn Minuten vor eins.«

Er nickte. Er bemühte sich, cool zu bleiben, während er schrieb, aber Yasmin wusste genau, was sich in seinem Kopf abspielte. Er rechnete. Er verglich das Ergebnis seiner Berechnungen mit Katjas Lügen. Und er frohlockte, dass sein Einsatz sich gelohnt und er das Spiel gewonnen hatte.

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