15

Das Klingeln holte Lynley aus den Tiefen des nächtlichen Schlafs. Mühsam öffnete er die Augen und tastete in der Dunkelheit blind nach dem Wecker, fluchte unterdrückt, als er ihn zu Boden warf, ohne ihn abgestellt zu haben. Helen, die neben ihm lag, rührte sich nicht. Auch als er Licht machte, schlief sie weiter. Diese besondere Begabung, sich durch nichts in ihrem Schlaf stören zu lassen, hatte sie sich sogar in der Schwangerschaft erhalten.

Zwinkernd und gähnend wurde er langsam wach und hörte erst jetzt, dass nicht der Wecker klingelte, sondern das Telefon. Er sah, wieviel Uhr es war - zwanzig vor vier -, und wusste, dass die Nachricht keine gute sein konnte.

Assistant Commissioner Sir David Hillier war am Apparat.

»Charing Cross Hospital«, blaffte er. »Malcolm ist von einem Auto angefahren worden.«

»Was?«, fragte Lynley. »Malcolm? Wieso?«

»Wachen Sie auf, Inspector«, fuhr Hillier ihn an. »Halten Sie den Kopf unter den kalten Wasserhahn, wenn es sein muss. Malcolm ist schon im OP. Kommen Sie auf dem schnellsten Weg hierher. Ich will, dass Sie die Sache übernehmen. Also, beeilen Sie sich!«

»Wann war das denn? Was ist passiert?«

»Das verdammte Schwein hat nicht mal angehalten«, sagte Hillier, dessen Stimme - ungewohnt rau und ganz ohne den distanziert jovialen Ton, den der Assistant Commissioner in Scotland Yard anzuschlagen pflegte - verriet, wie besorgt er war.

Von einem Auto angefahren. Das Schwein hat nicht angehalten. Lynley war augenblicklich hellwach. »Wo ist es passiert?«, fragte er.

»Wann?«

»Er ist jetzt im Charing Cross Hospital. Kommen Sie her, Lynley.« Damit legte Hillier auf.

Lynley sprang aus dem Bett und fuhr in seine Kleider. Anstatt Helen zu wecken, schrieb er ihr ein paar Zeilen, die die nackten Fakten enthielten. Er vermerkte noch die Zeit auf dem Brief und legte ihn auf sein Kopfkissen. Dann packte er seinen Mantel und lief in die Nacht hinaus.

Der Wind hatte sich gelegt, aber es war unvermindert kalt, und es hatte zu regnen begonnen. Lynley klappte seinen Mantelkragen hoch und rannte im Laufschritt um die Ecke zu der Privatgarage, in der sein Bentley stand.

Er versuchte, nicht über Hilliers Worte und den gehetzten Ton in seiner Stimme nachzudenken. Er wollte keine Mutmaßungen anstellen, solange er keine Fakten hatte, aber er konnte seine Gedanken nicht zügeln. Erst der eine Unfall mit Fahrerflucht, jetzt der Nächste.

In der Annahme, dass es in der King's Road um diese Zeit ruhig sein würde, fuhr er direkt in Richtung Sloane Square, umrundete den von welkem Laub verstopften Brunnen und brauste an schicken Boutiquen und eleganten Stadthäusern vorbei durch Chelsea. Er sah einen Streifenpolizisten, der vor dem Rathaus mit einer in Wolldecken gehüllten Gestalt sprach, die dort in der Toreinfahrt hockte, aber das war das einzige Zeugnis nächtlichen Lebens, dem er, abgesehen von einigen Autos, auf seiner Fahrt nach Hammersmith begegnete.

Kurz vor dem King's College bog er nach rechts ab, um die Abkürzung zur Lillie Road zu nehmen, die ihn am schnellsten an das Charing Cross Hospital heranführen würde. Erst als er den Wagen auf dem Parkplatz abgestellt hatte und zur Notaufnahme sprintete, sah er auf die Uhr. Seit Hilliers Anruf waren keine zwanzig Minuten vergangen.

Hillier - unrasiert und hastig angekleidet wie Lynley - war im Warteraum der Notaufnahme, wo er sichtlich angespannt mit einem Constable sprach, während drei andere Beamte in Uniform nervös dabei standen. Als er Lynley bemerkte, entließ er seinen Gesprächspartner mit einem Fingerschnippen und ging Lynley zur Mitte des Raums entgegen.

Trotz der nächtlichen Stunde war in der Notaufnahme, vermutlich wegen des Regens, der die Sicht schlecht und die Straßen glitschig machte, einiges los. Als jemand mit lauter Stimme eine »Fuhre aus Earl's Court« ankündigte, was hieß, dass hier binnen Minuten die Hölle los sein würde, nahm Hillier Lynley beim Arm und führte ihn durch Korridore und über Treppen zu den Operationssälen hinauf.

Erst dort, im privaten Warteraum für Angehörige, der leer war, fragte Lynley: »Wo ist Frances? Ist sie nicht -«

»Randie hat uns angerufen«, unterbrach Hillier. »Gegen Viertel nach eins.«

»Miranda? Wieso denn das?«

»Frances hat sie in Cambridge angerufen. Malcolm war nicht zu Hause. Frances war zu Bett gegangen und wachte auf, als draußen der Hund bellte wie ein Verrückter. Er war vorn im Garten, mit der Leine am Halsband. Aber Malcolm war nicht bei ihm. Frances bekam Angst und rief Randie an. Die rief dann uns an. Als wir bei Frances ankamen, hatte das Krankenhaus sich schon bei ihr gemeldet und ihr mitgeteilt, dass Malcolm eingeliefert worden war. Frances glaubte, er hätte einen Herzinfarkt erlitten, während er mit dem Hund spazieren war. Sie weiß immer noch nicht, was wirklich passiert ist.« Hillier seufzte. »Es war unmöglich, sie aus dem Haus herauszulotsen. Bis zur Tür ist sie mitgekommen, wir hatten die Tür sogar schon offen. Laura hatte sie auf der einen Seite untergehakt, ich auf der anderen. Aber kaum spürte sie die Nachtluft, da war's aus. Sie wurde völlig hysterisch. Und der verdammte Hund gebärdete sich wie ein Wahnsinniger.«

Hillier wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab.

Zum ersten Mal zeigte Hillier, dieser knallharte Vorgesetzte, Gefühle.

»Wie schlimm ist es?«, fragte Lynley.

»Er hat einen Schädelbruch, und sie mussten den Kopf aufmachen, um ein Blutgerinnsel zu entfernen. Außerdem ist eine Schwellung aufgetreten, um die sie sich ebenfalls kümmern. Sie tun irgendetwas mit einem Monitor - ich weiß nicht mehr, was. Es hat mit Druck zu tun. Sie setzen einen Monitor ein, um den Druck zu überwachen. Kann sein, dass sie ihm das Ding ins Gehirn einführen. Ich weiß es nicht.« Er steckte sein Taschentuch wieder ein und räusperte sich rau. »Mein Gott«, sagte er und starrte ins Leere.

»Soll ich Ihnen einen Kaffee holen, Sir?«, fragte Lynley und war sich dabei der Situation in ihrer ganzen Unbehaglichkeit bewusst. Zwischen ihm und Hillier herrschte von jeher Krieg. Hillier hatte nie ein Hehl aus seiner Abneigung gegen Lynley gemacht, und Lynley hatte wiederum nicht mit seiner Verachtung für Hilliers penetrante Postenhascherei hinter dem Berg gehalten. Jetzt aber zeigte sich der Assistant Commissioner, vom schweren Unfall seines Schwagers und langjährigen Freundes erschüttert, in einem anderen Licht. Er war plötzlich verletzlich geworden, und Lynley wusste nicht recht, wie er mit diesen neuen Seiten des Mannes umgehen sollte.

»Sie sagten, sie müssten wahrscheinlich den größten Teil seiner Milz entfernen«, fuhr Hillier fort. »Die Leber hoffen sie, retten zu können, wenigstens zur Hälfte. Aber mit Gewissheit lässt sich auch das noch nicht sagen.«

»Ist er noch -«

»Onkel David!« Miranda Webberly, im ausgebeulten Jogginganzug, das krause Haar im Nacken mit einem Schal gebunden, kam in den Warteraum gerannt. Ihre Füße waren nackt, und ihr Gesicht war bleich. In der Hand hielt sie einen Autoschlüssel. Sie lief direkt auf Hillier zu.

»Hat dich jemand hergefahren?«, fragte er.

»Ich habe mir das Auto einer Freundin geliehen. Ich bin selbst gefahren.«

»Randie, ich habe dir doch gesagt -«

»Onkel David!« Und zu Lynley: »Haben Sie ihn gesehen, Inspector?« Und dann ein Schwall von Fragen an ihren Onkel. »Wie geht es ihm? Wo ist Mama? Sie ist nicht…? O Gott. Sie hat sich geweigert mitzukommen, richtig?« Mirandas Augen glänzten feucht, als sie voll Bitterkeit mit brüchiger Stimme hinzufügte:

»Ja, klar, war ja nicht anders zu erwarten.«

»Tante Laura ist bei ihr«, sagte Hillier. »Komm hier herüber, Randie. Setz dich. Wo sind deine Schuhe?«

Miranda sah erstaunt zu ihren Füßen hinunter. »Ach, du meine Güte, ich hab vergessen, welche anzuziehen, Onkel David. Sag doch, wie geht es ihm?«

Hillier berichtete ihr, was er auch Lynley berichtet hatte, ohne jedoch zu erwähnen, dass der Fahrer des Unfallfahrzeugs geflüchtet war. Als er davon sprach, dass man versuchen wollte, Webberlys Leber zu retten, erschien ein Arzt, sagte nur »Webberly?« und musterte die drei mit blutunterlaufenen Augen und einer Miene, die nichts Gutes verhieß.

Hillier stellte erst sich selbst vor, dann Miranda und Lynley, legte seiner Nichte den Arm um die Schultern und sagte: »Wie sieht es aus?«

Der Chirurg erklärte, Webberly befinde sich jetzt auf der Wachstation und werde von dort direkt auf die Intensivstation gebracht; man habe ihn in ein künstliches Koma versetzt, um dem Gehirn Ruhe zu gönnen; die Schwellung werde man mit Steroiden behandeln; um ihn bewusstlos zu halten, werde man ihm Barbiturate verabreichen und außerdem die Muskeln lahm legen, um ihn ruhig zu stellen, bis das Gehirn sich erholt hatte.

Randie griff das letzte Wort sofort begierig auf. »Dann wird er also wieder gesund? Dann wird mein Vater wieder gesund?«

Das könnten sie noch nicht sagen, antwortete der Chirurg. Webberlys Zustand sei kritisch. Bei Gehirnödemen sei das immer so eine Sache. Man müsse die Schwellung beobachten und verhindern, dass das Gehirn auf den Stamm zu drücken begann.

»Und sonst?«, fragte Hillier. »Was ist mit seiner Milz und der Leber?«

»Wir haben gerettet, was zu retten war. Wir haben noch mehrere Frakturen festgestellt, aber die sind belanglos im Vergleich zu den übrigen Verletzungen.«

»Darf ich ihn sehen?«, fragte Randie.

»Sie sind -?«

»Die Tochter. Er ist mein Vater. Darf ich zu ihm?«

»Keine anderen Angehörigen?«, wandte sich der Arzt an Hillier.

»Seine Frau ist krank«, antwortete Hillier.

»Oh«, sagte der Arzt, »das ist bitter.« Er nickte Randie zu. »Wir geben Ihnen Bescheid, wenn er aus der Wachstation heraus ist. Aber das wird noch einige Stunden dauern. Sie sollten sich inzwischen etwas Ruhe gönnen.«

Nachdem er gegangen war, sagte Randie voll ängstlicher Sorge zu ihrem Onkel und Lynley: »Er muss nicht sterben. Das heißt doch, dass er nicht sterben muss, nicht wahr?«

»Im Moment ist er am Leben, und das ist erst mal das Wichtigste«, erwiderte Hillier. Die Befürchtungen, die er Lynleys Vermuten nach hatte, sprach er nicht aus: Webberly würde vielleicht nicht sterben, aber möglicherweise nie wieder gesund werden und für den Rest seines Lebens behindert bleiben.

Unwillkürlich musste Lynley an eine ähnliche Situation aus früherer Zeit denken. Auch da hatte ein Mensch eine schwere Kopfverletzung erlitten, auch da hatte erhöhter Druck die Funktionen des Gehirns bedroht. Sein Freund Simon St. James war etwa in jenem Zustand aus dem Koma erwacht, in dem er sich noch heute befand. Die Jahre, die seit seiner Genesung vergangen waren, hatten ihm nicht wiedergegeben, was Lynleys Leichtsinn ihm geraubt hatte.

Hillier drückte Randie auf ein Kunststoffsofa nieder, wo noch eine, von einem anderen angstvoll wartenden Angehörigen zurückgelassene, Wolldecke lag. »Ich hole dir erst einmal eine Tasse Tee«, sagte er und bedeutete Lynley, mit ihm zu kommen. Draußen im Korridor blieb er stehen. »Sie sind bis auf weiteres stellvertretender Superintendent. Stellen Sie ein Team zusammen und kämmen Sie die Stadt nach diesem Schweinehund durch, der ihn niedergefahren hat.«

»Ich bearbeite gerade einen Fall, der -«

»Hören Sie schlecht?«, unterbrach Hillier. »Geben Sie Ihren Fall weiter. Ich möchte, dass Sie sich um diese Sache hier kümmern. Setzen Sie alle Mittel ein, die nötig sind. Berichten Sie mir jeden Morgen. Ist das klar? Die Männer von der Streife, die noch unten sind, können Ihnen sagen, was wir bisher haben - leider so gut wie nichts. Ein Autofahrer, der in der entgegengesetzten Richtung unterwegs war, hat den Wagen flüchten sehen, konnte aber nicht mehr über ihn sagen, als dass es ein großer Wagen war, wie eine Limousine oder ein Taxi. Er meint, das Verdeck könnte grau gewesen sein, aber das kann man außer Acht lassen. Es wird durch die Reflexion der Straßenbeleuchtung heller gewirkt haben. Und wann haben Sie das letzte Mal einen zweifarbigen Wagen gesehen?«

»Limousine oder Taxi. Ein schwarzes Fahrzeug also«, sagte Lynley.

»Es freut mich, festzustellen, dass Ihnen Ihre bemerkenswerte Kombinationsgabe nicht abhanden gekommen ist.«

Die Spitze war Lynley der Beweis dafür, mit welchem Widerwillen Hillier ihm den Fall anvertraute. Der alte Zorn schlug in ihm empor, und unwillkürlich ballte er die Hand zur Faust. Aber als er sagte: »Warum gerade ich?«, war sein Ton höflich und korrekt.

»Weil Malcolm Sie wählen würde, wenn er sich äußern könnte«, antwortete Hillier. »Und ich respektiere seine Wünsche.«

»Dann glauben Sie, er wird es nicht schaffen.«

»Ich glaube gar nichts.« Aber die Unsicherheit in seiner Stimme widersprach seinen Worten. »Also, packen Sie es einfach an. Lassen Sie stehen und liegen, was Sie gerade tun, und legen Sie los. Finden Sie diesen Dreckskerl. Nehmen Sie ihn in Gewahrsam. An der Straße, wo Webberly angefahren wurde, sind Häuser. Irgendjemand dort muss etwas gesehen haben.«

»Die Sache könnte mit dem Fall zu tun haben, an dem ich im Moment arbeite«, bemerkte Lynley.

»Wie, zum Teufel -«

»Hören Sie mir einen Moment zu, bitte.«

Hillier lauschte schweigend, während Lynley ihm die Einzelheiten des Fahrerfluchtunfalls skizzierte, der sich erst vor zwei Tagen ereignet hatte. Auch hier war es ein schwarzes Fahrzeug gewesen, erklärte er und fügte hinzu, dass es zwischen dem Opfer und Webberly eine Verbindung gab. Welcher Art diese Verbindung war, erläuterte er nicht. Er ließ es dabei bewenden, zu sagen, dass hinter den beiden vermeintlichen Unfällen mit Fahrerflucht möglicherweise ein alter Fall steckte, der mehr als zwanzig Jahre zurücklag.

Aber Hillier wäre bei New Scotland Yard nicht so hoch aufgestiegen, wenn er nicht auch ein kluger Kopf gewesen wäre. Er sagte ungläubig: »Die Mutter des Kindes und der Beamte, der die Ermittlungen leitete? Wenn da wirklich ein Zusammenhang besteht, wer, zum Teufel, würde zwanzig Jahre warten, um den beiden etwas anzutun?«

»Jemand, der bis vor kurzem nicht wusste, wo sie zu finden sind, würde ich sagen.«

»Und gibt es so jemanden unter den Leuten, die Sie befragen?«

»Ja«, antwortete Lynley nach kurzem Überlegen. »Ja, ich glaube, da haben wir jemanden.« Yasmin Edwards saß bei ihrem Sohn auf der Bettkante und legte ihre Hand auf seine kleine, magere Schulter. »Komm, Danny. Aufstehen! Es ist Zeit!« Sie schüttelte ihn. »Dan, hast du den Wecker nicht gehört?«

Daniel zog ein Gesicht und verkroch sich tiefer unter die Decke. Sein Po bildete einen runden Hügel im Bett, bei dessen Anblick sich Yasmins Herz zusammenzog. »Nur noch ein bisschen, Mam«, sagte er. »Bitte. Nur noch eine Minute.«

»Keine Minute. Wenn du jetzt nicht aufstehst, kommst du zu spät zur Schule. Oder du musst ohne Frühstück aus dem Haus.«

»Das macht mir nichts aus.«

»Aber mir«, entgegnete sie, gab ihm einen Klaps auf den Po und blies ihm ins Ohr. »Wenn du nicht aufstehst, holen dich die Bussikäfer!«

Er lachte, ohne die Augen zu öffnen. »Können sie gar nicht«, sagte er. »Ich hab mich mit Insektenschutz eingeschmiert.«

»Insektenschutz? Das hilft nichts. Vor den Bussikäfern kann man sich nicht schützen. Pass mal auf, gleich wirst du's sehen.«

Sie neigte sich über ihn und küsste Wangen, Ohren und Hals ihres Sohnes, kitzelte ihn, bis er ganz wach wurde.

Lachend und strampelnd versuchte er halbherzig, sie abzuwehren. »Igitt!«, kreischte er immer wieder quiekend. »Nein, nein! Jag die Käfer weg, Mam!«

»Das kann ich nicht«, erklärte sie außer Atem. »Ogottogott, da sind ja noch viel mehr, Dan. Überall kriechen sie rum. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.« Sie riss die Bettdecke zurück und beugte sich über den kleinen Bauch. »Bussi, Bussi, Bussi«, rief sie und genoss das ausgelassene helle Lachen ihres Sohnes, das ihr jeden Tag wie neu erschien, obwohl sie nun schon seit Jahren wieder bei ihm war. Sie hatte das Bussikäferspiel erst wieder einführen müssen, als sie aus dem Gefängnis entlassen worden war, und sie hatten beide Unmengen von Küssen nachzuholen gehabt.

Sie zog Daniel hoch, bis er saß, und drückte ihn gegen sein Star Tre^-Kopfkissen. Er schnappte ein paarmal nach Luft, hörte auf zu kreischen und blinzelte sie mit seinen braunen Augen voll kindlicher Zufriedenheit an. Ihr wurde innerlich ganz warm, wie immer, wenn er sie so ansah.

»Was möchtest du eigentlich in den Weihnachtsferien tun, Dan?«, sagte sie. »Hast du darüber mal nachgedacht?«

»Disney World!«, juchzte er. »Orlando, in Florida. Zuerst gehen wir ins Magic Kingdom, und danach fahren wir nach Miami Beach, Mam, und da kannst du am Strand liegen und dich sonnen, und ich kann im Meer surfen.«

Sie lächelte. »Nach Disney World willst du? Wo sollen wir denn das Geld dafür hernehmen? Hast du vor, eine Bank auszurauben?«

»Ich hab Geld gespart.«

»Wie viel denn?«

»Ich hab fünfundzwanzig Pfund.«

»Kein schlechter Start, aber das reicht bei weitem nicht.«

»Mam…« Seine ganze Enttäuschung lag in dem einen Wort.

Es tat ihr immer weh, ihm nach allem, was er in den frühen Jahren seiner Kindheit durchgemacht hatte, einen Wunsch abschlagen zu müssen. Am liebsten hätte sie ihm jeden erfüllt. Aber sie wusste, dass es in diesem Fall keinen Sinn hatte, ihm - oder auch sich selbst - Hoffnungen zu machen; wie sie Daniels Weihnachtsferien verbringen würden, hing nicht allein von seinem und ihrem Willen ab.

»Und was ist mit Katja? Sie könnte nicht mitkommen, Dan. Sie würde hier bleiben und arbeiten müssen.«

»Na und? Warum können wir nicht allein fahren, Mam? Nur du und ich? So wie früher.«

»Weil Katja jetzt zu unserer Familie gehört. Das weißt du doch.«

Er machte ein finsteres Gesicht und wandte sich ab.

»Sie macht jetzt gerade draußen in der Küche dein Frühstück«, sagte Yasmin. »Sie bäckt extra die kleinen Pfannkuchen, die du so gern isst.«

»Ach, soll sie doch tun, was sie will«, brummte Daniel.

»Hey, Danny.« Yasmin beugte sich über ihn. Es war ihr wichtig, dass er verstand. »Katja gehört zu uns. Sie ist meine Partnerin. Du weißt, was das heißt.«

»Das heißt, dass sie immer überall dabei sein muss, die blöde Kuh.«

»Hey!« Sie gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange. »Ich mag es nicht, wenn du so redest. Wir könnten auch nicht nach Disney World fahren, wenn's nur um uns beide ginge, Dan. Lass also deine Enttäuschung nicht an Katja aus, Schatz. Ich bin diejenige, die kein Geld hat.«

»Warum hast du mich dann überhaupt gefragt?«, sagte er anklagend. »Wenn du von Anfang an gewusst hast, dass wir doch nicht fahren, warum hast du mich dann gefragt, wohin ich will?«

»Ich habe dich gefragt, was du tun willst, Dan. Du hast daraus gemacht, wohin du fahren willst.«

Damit war ihm der Wind aus den Segeln genommen, und er wusste es, und das Wunderbare war, dass ihr Sohn irgendwie davor bewahrt geblieben war, die Unart der Quengelei und ewiger Widerrede aufzuschnappen, mit der so viele Kinder seines Alters ihren Eltern das Leben schwer machten. Aber er war natürlich dennoch nur ein kleiner Junge, der noch nicht gelernt hatte, mit Enttäuschung umzugehen. Sein Gesicht verfinsterte sich, er verschränkte die Arme und trotzte.

Sie schob ihm die Hand unter das Kinn, um seinen Kopf anzuheben. Er leistete Widerstand. Sie seufzte und sagte: »Eines Tages haben wir bestimmt mehr Geld als heute. Aber du musst Geduld haben, Dan. Ich hab dich lieb. Und Katja hat dich auch lieb.« Sie stand von seinem Bett auf und ging zur Tür. »Komm jetzt, Dan. In spätestens zwanzig Sekunden will ich dich im Bad hören.«

»Aber ich will nach Disney World«, erklärte er eigensinnig.

»Bestimmt nicht halb so sehr, wie ich wünsche, ich könnte mit dir hinfahren.«

Sie schlug mit der Hand leicht an den Türpfosten und ging hinüber ins andere Zimmer, das sie mit Katja teilte. Dort ließ sie sich auf dem Bett nieder und lauschte den morgendlichen Geräuschen in der Wohnung: Sie hörte Daniel aus dem Bett hüpfen und ins Badezimmer hinüberlaufen; sie hörte Katja, die in der Küche die kleinen Pfannkuchen backte; hörte das Zischen, wenn Katja den Teig in die gebutterte Pfanne gab, hörte das Geschirrklappern, als sie Teller aus dem Küchenschrank holte, das Klicken des elektrischen Wasserkochers, der sich ausschaltete, und dann Katjas Stimme: »Daniel? Heute gibt's Pfannkuchen. Ich hab dir dein Lieblingsfrühstück gemacht.«

Warum?, überlegte Yasmin und hätte gern gefragt, aber sie hätte damit weit mehr hinterfragt als das morgendliche Ritual des Pfannkuchenbackens.

Sie strich mit einer Hand über das ungemachte Bett, das noch die Abdrücke ihrer beiden Körper trug. In den Kissen waren noch die Mulden, in denen ihre Köpfe gelegen hatten, und der Wirrwarr der Decken erinnerte sie daran, wie sie beieinander gelegen hatten: Sie in Katjas Armen, während Katjas warme Hände ihre Brüste umfassten.

Sie hatte sich schlafend gestellt, als Katja zu Bett gekommen war. Das Zimmer war dunkel - nie wieder würde Licht aus einem Gefängniskorridor in die Schwärze eines nächtlichen Zimmers fallen, in dem Yasmin Edwards lag -, daher war sie sicher, dass Katja nicht erkennen konnte, ob ihre Augen offen oder geschlossen waren. »Yas?«, hauchte Katja, aber Yasmin antwortete nicht. Und als Katja die Decke hob und ins Bett glitt wie ein Schiff in den vertrauten Hafen, empfing Yasmin sie mit dem schläfrigen Murmeln einer Frau, die in ihren Träumen gestört worden ist, und bemerkte, dass Katja einen Moment lang erstarrte, als wollte sie abwarten, ob Yasmin ganz wach werden würde.

Dieser Moment der Reglosigkeit verriet Yasmin etwas, auch wenn sie nicht genau wusste, was es zu bedeuten hatte. Sie drehte sich deshalb zu Katja herum, als diese die Decke zu ihrer Schulter hinaufzog, und nuschelte schläfrig, während sie ihr Bein über Katjas Hüfte schob: »Hey, Baby, wo warst du?«

»Morgen«, antwortete Katja flüsternd. »Das würde jetzt zu lang dauern.«

»Zu lang? Wieso?«

»Schschsch, schlaf jetzt.«

»Ich hab Sehnsucht nach dir gehabt«, murmelte Yasmin und prüfte Katja, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollte, prüfte sie, obwohl sie nicht wusste, was sie dann mit dem Ergebnis der Prüfung anfangen würde. Sie hob der Geliebten den Mund zum KUSS entgegen. Sie schob ihre Hand zu dem weichen Schoß. Katja erwiderte den KUSS wie immer und rollte Yasmin nach einem Augenblick behutsam auf den Rücken. »Du Verrückte«, flüsterte sie leise mit rauer Stimme.

»Verrückt nach dir«, antwortete Yasmin und hörte Katjas kehliges Lachen.

Was verriet schon eine Umarmung in der Dunkelheit? Was verrieten Liebkosungen von Lippen und Fingern, zärtlicher Kontakt mit weichem Fleisch? Was konnte man erfahren, wenn man sich der Strömung überließ, bis diese so reißend wurde, dass es egal war, wer das Schiff in den Hafen lenkte, Hauptsache, es gelangte ans Ziel? Was, zum Teufel, brachte einem das?

Ich hätte Licht machen sollen, dachte Yasmin. Ich hätte erkannt, was los ist, wenn ich ihr Gesicht hätte sehen können.

Sie habe keine Zweifel, und Zweifel seien ganz natürlich, versicherte sie sich selbst gewissermaßen in einem Atemzug. Sie hielt sich vor, dass es im Leben keine Sicherheit gab. Trotzdem spürte sie, wie die Ungewissheit ihr die Luft raubte, ganz so, als zöge eine unsichtbare Hand eine Schlinge fester und fester. Sie wollte die Zweifel ignorieren, aber das konnte sie ebenso wenig, wie sie einen lebensbedrohenden Tumor in ihrem Körper hätte ignorieren können.

Ungeduldig schüttelte sie diese Gedanken ab. Der kommende Tag verlangte sein Recht. Sie stand vom Bett auf und begann, Kissen und Decken zu richten. Wenn das Schlimmste wahr sein sollte, würden sich andere Gelegenheiten bieten, Gewissheit zu erlangen.

Danach ging sie zu Katja in die Küche, wo es nach den kleinen Pfannkuchen duftete, die Daniel so gern aß. Katja hatte genug für alle gebacken und sie im Rohr warm gestellt. In einer Pfanne brutzelten, eine Konzession an englische Gepflogenheiten, mehrere Scheiben Schinkenspeck.

»Ah, da bist du ja«, sagte Katja lächelnd. »Der Kaffee ist fertig. Für Daniel hab ich Tee gemacht. Wo ist denn unser Kleiner? Duscht er etwa? Das ist was Neues, nicht? Gibt es vielleicht eine Frau in seinem Leben?«

»Keine Ahnung«, antwortete Yasmin. »Wenn ja, hat er mir nichts davon gesagt.«

»Die Mädchen werden auf jeden Fall nicht mehr lang auf sich warten lassen. Heutzutage werden die Kinder ja so furchtbar schnell erwachsen. Hast du schon mal mit ihm geredet? Du weißt schon.«

Yasmin goss sich einen Becher Kaffee ein. »Du meinst, ob ich ihn aufgeklärt habe?«, fragte sie. »Ob ich ihm erklärt habe, wie die Kinder gemacht werden?«

»Naja, das könnte doch nicht schaden. Oder hat schon jemand mit ihm geredet? Früher, meine ich.«

Sie sagte nicht: »Als er in Pflege war.« Yasmin wusste, dass Katja diese Worte stets sorgfältig vermied, um bei ihr nicht die Erinnerungen zu wecken, die damit verbunden waren. Es war immer Katjas Art gewesen, in die Zukunft zu schauen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen. »Was glaubst du denn, wie ich es hier, hinter diesen Mauern, aushalte?«, hatte sie einmal zu Yasmin gesagt. »Indem ich Pläne mache. Ich denke über die Zukunft nach, nicht über die Vergangenheit.« Und Yasmin, hatte sie hinzugefügt, täte gut daran, sich an ihr ein Beispiel zu nehmen.

»Du musst dir darüber im Klaren sein, was du tun wirst, wenn du hier raus kommst«, hatte sie gesagt. »Du musst dir darüber im Klaren sein, was du sein willst. Und dann musst du es verwirklichen. Das geht. Aber du musst jetzt schon damit anfangen, diesen neuen Menschen aus dir zu machen, solange du hier drinnen bist und die Möglichkeit hast, dich ganz darauf zu konzentrieren.«

Und du?, dachte Yasmin jetzt, während sie die Freundin beobachtete, die die Pfannkuchen auf die Teller verteilte. Was ist mit dir, Katja? Was hast du für Pläne gemacht, als du im Gefängnis warst, und was ist das für ein Mensch, der du sein möchtest?

Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass Katja ihr das nie genau gesagt hatte. Sie hatte immer nur gemeint: »Dafür ist Zeit, wenn ich wieder frei bin.«

Wofür?, dachte Yasmin.

Sie hatte nie zuvor darüber nachgedacht, welches Maß an Sicherheit die Gefangenschaft bot. Die Fragen waren einfach, wenn man im Gefängnis saß, genau wie die Antworten. In der Freiheit war alles viel komplizierter.

Mit einem Teller in der Hand, wandte Katja sich vom Herd ab.

»Wo bleibt der Junge? Wenn er sich nicht beeilt, werden die Pfannkuchen zäh wie Gummi.«

»Er möchte in den Weihnachtsferien nach Disney World«, bemerkte Yasmin.

»Wirklich?« Katja lächelte. »Na ja, vielleicht können wir ihm den Wunsch erfüllen.«

»Wie denn?«

»Ach, es gibt immer Mittel und Wege«, meinte Katja. »Er ist so ein gutes Kind, unser Daniel. Er soll haben, was er will. Und du auch.«

Ein gutes Stichwort. Yasmin griff es sogleich auf. »Und wenn ich dich will«, sagte sie. »Wenn das alles ist, was ich will?«

Katja lachte, stellte Daniels Teller auf den Tisch und trat zu Yasmin. »Siehst du, wie einfach es ist?«, fragte sie. »Du brauchst deinen Wunsch nur zu äußern, und sofort wird er erfüllt.« Sie küsste Yasmin und ging wieder an den Herd. »Daniel!«, rief sie laut. »Deine Pfannkuchen sind fertig. Du musst jetzt kommen. Komm!«

Draußen klingelte es. Yasmin sah auf die kleine Uhr, die auf dem Herd stand. Halb acht. Wer, zum Teufel .? Sie runzelte die Stirn.

»Wer will uns denn so früh schon besuchen?«, sagte Katja, während Yasmin den Obi um den scharlachroten Kimono, den sie statt eines Morgenmantels trug, lockerte und neu band. »Es gibt hoffentlich keinen Ärger, Yas. Oder hat Daniel vielleicht die Schule geschwänzt?«

»Das möchte ich ihm nicht geraten haben.« Yasmin ging zur Tür und drückte ihr Auge an den Spion. Sie schnappte kurz nach Luft, als sie sah, wer draußen im Flur stand und geduldig darauf wartete, dass jemand ihm öffnete. Oder vielleicht doch nicht so geduldig, denn jetzt hob er die Hand und klingelte ein zweites Mal.

»Es ist dieser verdammte Bulle«, sagte sie leise zu Katja, die mit der Pfanne in der einen Hand und dem Wender in der anderen an die Küchentür gekommen war.

»Der Schwarze von gestern? Dann lass ihn doch rein, Yas.«

»Ich will nicht -«

Er klingelte zum dritten Mal, und Daniel streckte den Kopf aus dem Badezimmer. »Mam! Es hat geklingelt. Willst du nicht mal aufmachen?«, rief er laut, ohne zu bemerken, dass sie vor der Tür stand wie ein ungehorsames Kind, das die Strafe fürchtete.

»Yas«, sagte Katja. »Mach die Tür auf.« Und zu Daniel: »Komm, deine Pfannkuchen warten. Zwanzig Stück hab ich gemacht, genau so, wie du sie magst. Deine Mama hat mir erzählt, dass du in den Weihnachtsferien nach Disney World willst. Zieh dich an, dann reden wir darüber.«

»Wir fahren ja sowieso nicht«, sagte er mürrisch, während es draußen erneut klingelte.

»Ach, du kannst wohl hellsehen? Komm, zieh dich endlich an. Wir müssen darüber reden.«

»Wozu denn?«

»Weil alle Träume der Wirklichkeit näher kommen, wenn man über sie spricht. Und wenn sie der Wirklichkeit näher sind, ist die Chance größer, dass sie in Erfüllung gehen. Yasmin, mein Gott, mach endlich auf! Der Mann hat uns doch sowieso schon gehört. Er hat offensichtlich vor, so lange zu bleiben, bis du aufmachst.«

Yasmin riss die Tür so heftig auf, dass sie ihr beinahe aus der Hand flog. Daniel verschwand wieder im Bad, und Katja kehrte an den Herd zurück.

Ohne ein Wort des Grußes sagte sie zu Nkata: »Wie sind Sie hier heraufgekommen? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich auf den Türöffner gedrückt hab.«

»Die Tür war offen«, sagte Nkata.

»Was wollen Sie noch von uns, Mann?«

»Nur eine kleine Auskunft. Ist Ihre…« Er zögerte, und sein Blick flog an ihr vorbei in die Wohnung, wo das Licht aus der Küche in einem gelben Rechteck auf die Teppichfliesen im Wohnzimmer fiel, in dem keine Lampe brannte. »Ist Katja Wolff hier?«

»Es ist halb acht Uhr morgens. Wo sollte sie sonst sein?«, versetzte Yasmin schnippisch, aber der Ausdruck seines Gesichts war ihr nicht geheuer, darum sprach sie hastig weiter. »Wir haben Ihnen alles gesagt, was es zu sagen gibt. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn Sie das alles noch mal durchkauen.«

»Es geht um was anderes«, erklärte er ruhig. »Um was Neues.«

»Mam«, rief Dan aus seinem Zimmer, »wo ist mein Schulpulli? Liegt er noch draußen? Ich kann ihn hier nirgends finden.« Er kam in Unterhose, weißem Hemd und Socken aus seinem Zimmer. Sein Haar war noch feucht von der Dusche.

»Guten Morgen, Daniel«, sagte Nkata und nickte ihm lächelnd zu. »Du machst dich wohl für die Schule fertig?«

»Lassen Sie ihn in Frieden«, fuhr Yasmin ihn an, ehe Daniel etwas antworten konnte. Dann riss sie den gesuchten Pulli von einem der Haken neben der Tür und sagte zu ihrem Sohn: »Geh jetzt endlich frühstücken, Dan. Die Pfannkuchen machen einen Haufen Arbeit. Sieh zu, dass du sie aufisst.«

»Hallo«, sagte Daniel scheu zu dem Polizisten und strahlte den Mann so bewundernd an, dass Yasmin innerlich zitterte vor ohnmächtigem Zorn. »Sie wissen noch, wie ich heiße.«

»Aber natürlich«, sagte Nkata lächelnd. »Ich heiße übrigens Winston. Gehst du gern zur Schule, Daniel?«

»Dan!«, sagte Yasmin so scharf, dass der Junge zusammenfuhr. Sie warf ihm seinen Pullover zu. »Hast du mich gehört? Zieh dich jetzt an und geh frühstücken.«

Daniel nickte. Aber er wandte den Blick nicht von dem schwarzen Polizisten. Vielmehr musterte er ihn mit so viel freimütigem Interesse und solcher Wissbegier, dass Yasmin am liebsten dazwischen getreten wäre und ihren Sohn in die eine und den Bullen in die andere Richtung gestoßen hätte.

Den Blick weiterhin auf den Polizisten gerichtet, ging Dan rückwärts zu seinem Zimmer und sagte: »Mögen Sie Pfannkuchen? Die, die's heute bei uns gibt, sind echt was Besonderes. Sie sind ganz klein. Wir haben bestimmt genug -«

»Daniel!«

»Entschuldige, Mam.« Er lächelte - ein unglaublich strahlendes Lächeln - und verschwand in seinem Zimmer.

Yasmin wandte sich Nkata zu. Sie merkte plötzlich, wie kalt die Luft war, die durch die offene Tür hereinwehte, heimtückisch um ihre nackten Beine und bloßen Füße strich, kitzelnd ihre Knie und ihre Schenkel liebkoste. Fröstelnd stand sie da, unschlüssig, ob sie dem Polizisten einfach die Tür vor der Nase zuschlagen oder ob sie ihn hereinbitten sollte.

Katja nahm ihr die Entscheidung ab. »Lass ihn rein, Yas«, sagte sie leise von der Küchentür her.

Sie trat zurück, der Polizist nickte Katja dankend zu. Yasmin schlug die Tür hinter ihm zu und nahm ihren Straßenmantel vom Garderobenhaken, gürtete ihn so eng wie einst die viktorianischeri Damen ihre Korsetts schnürten, um sich mit Wespentaille präsentieren zu können. Nkata seinerseits knöpfte seinen Wintermantel auf und lockerte den Schal, ein Gast, der zum Essen gekommen war.

»Wir frühstücken gerade«, sagte Katja zu ihm. »Und Daniel muss pünktlich weg, damit er nicht zu spät zur Schule kommt.«

»Also, was wollen Sie?«, fragte Yasmin.

»Ich wollte nur mal nachfragen, ob Sie an der Geschichte, die Sie mir neulich Abend erzählt haben, was ändern wollen.« Er richtete das Wort an Katja.

»Nein«, antwortete Katja. »Da gibt es nichts zu ändern.«

»Vielleicht sollten Sie doch mal darüber nachdenken«, riet er ihr.

Yasmin brauste auf, Zorn und Furcht triumphierten über besseres Wissen. »Das ist Schikane!«, rief sie erregt. »Das ist doch reine Schikane!«

»Yas!«, sagte Katja und stellte die Pfanne, die sie in der Hand hatte, auf den Herd. Sie selbst blieb, wo sie war, an der offenen Tür, das Licht im Rücken, so dass ihr Gesicht in Schatten getaucht war. »Lass ihn doch erst mal erklären.«

»Wir haben doch alles schon mal gehört.«

»Aber wahrscheinlich war es eben nicht alles.«

»Ich sehe nicht ein -«

»Yas!«

»Nein! Fällt mir nicht ein, mich von einem verdammten Nigger mit einem Polizeiausweis -«

»Mama!« Daniel, jetzt vollständig gekleidet, schoss aus seinem Zimmer. Er schaute so entsetzt, dass Yasmin die Beschimpfung, die zwischen ihnen in der Luft hing und sie selbst viel härter traf als den Bullen, gern zurückgenommen hätte.

»Geh frühstücken«, sagte sie kurz zu ihrem Sohn und fügte zu Nkata gewandt hinzu: »Los, sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und dann verschwinden Sie.«

Einen Moment lang rührte Daniel sich nicht. Es war, als wartete er auf Anweisungen des Polizisten, auf die Erlaubnis des Schwarzen, dem Befehl seiner Mutter Folge zu leisten. Yasmin hätte am liebsten blindwütig auf irgendjemanden eingeschlagen, als sie das sah, aber sie bemühte sich, ruhig zu bleiben und tief zu atmen. »Dan«, sagte sie nur, und an Katja vorbei, die zur Seite trat und »Im Kühlschrank ist Saft, Daniel« sagte, drängte sich der Junge in die Küche.

Keiner von ihnen sprach, während gedämpfte Geräusche aus der Küche verrieten, dass Daniel, trotz der Vorgänge um ihn herum, immerhin den Versuch machte, zu frühstücken. Alle drei verharrten auf den Positionen, die sie eingenommen hatten, als Nkata in die Wohnung gekommen war, und bildeten so ein Dreieck, das durch Eckpunkte an der Wohnungstür, der Küchentür und dem Fernsehgerät definiert wurde. Yasmin wollte ihre Position aufgeben und zu ihrer Freundin treten, aber gerade als sie im Begriff war, den ersten Schritt zu tun, begann Nkata zu sprechen, und was er sagte, hielt sie an ihrem Platz.

»Es macht sich nicht gut, wenn eine Aussage berichtigt werden muss, Miss Wolff. Haben Sie neulich Abend wirklich vor dem Fernseher gesessen? Sind Sie sicher, dass der Junge das bestätigen wird, wenn ich ihn frage?«

»Lassen Sie Daniel aus dem Spiel«, schrie Yasmin ihn an. »Ich erlaube Ihnen nicht, mit meinem Sohn zu reden.«

»Aber Yas!« Katjas Ton war ruhig, aber nachdrücklich. »Jetzt frühstücke du doch erst mal, okay? Der Constable will ja offenbar mit mir sprechen.«

»Ich lass dich nicht mit diesem Typen allein. Du kennst die Bullen. Du weißt, wie sie sind. Denen kann man nichts anvertrauen -«

»Außer Fakten«, unterbrach Nkata. »Fakten können Sie uns immer anvertrauen. Um also noch mal auf neulich Abend zu kommen…«

»Ich habe nichts weiter zu sagen.«

»Gut. Und was ist mit gestern Abend, Miss Wolff?«

Yasmin sah, wie Katjas Gesicht sich veränderte, ihre Augen sich kaum wahrnehmbar zusammenzogen. »Was soll damit sein?«

»Haben Sie da auch vor dem Fernseher gesessen?«

»Wozu wollen Sie das wissen?«, fragte Yasmin. »Katja, du sagst gar nichts, solange er dir nicht erklärt, warum er diese Fragen stellt. Wir lassen uns nicht von ihm reinlegen. Entweder er sagt uns auf der Stelle, warum er fragt, oder er fliegt hochkant raus. Ist das klar, Mister?«

»Wir haben einen zweiten Autounfall mit Fahrerflucht«, sagte Nkata zu Katja. »Also, möchten Sie mir jetzt sagen, was Sie gestern Abend getrieben haben?«

In Yasmins Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken, sodass sie es beinahe nicht hörte, als Katja »Ich war hier« sagte.

»Gegen halb zwölf?«

»Ja, da war ich hier.«

»Verstanden«, sagte er und fügte hinzu, was ihm, so vermutete Yasmin, schon auf der Zunge lag, seit sie ihm die Tür geöffnet hatte. »Sie haben also nicht die ganze Nacht mit ihr verbracht. Es war nur eine schnelle Nummer. Ist das richtig?«

Seinen Worten folgte eine schreckliche Stille, in der Yasmin nichts hörte als die gellende Stimme in ihrem Kopf, die »Nein!« schrie. Bitte sag was, dachte sie. Zieh dich jetzt nicht in Schweigen zurück.

Katjas Blick suchte Yasmins, als sie zu dem Polizisten sagte: »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Ich rede von einer Busfahrt nach Süd-London gestern Abend nach der Arbeit«, erklärte Nkata. »Ich rede von einem Stelldichein in Frère Jacques ' Bar in Putney und einem Spaziergang nach Wandsworth in die Galveston Road Nummer fünfundfünfzig. Ich rede davon, was sich in dem Haus abgespielt hat und mit wem. Rührt sich da was bei Ihnen? Oder bleiben Sie weiterhin dabei, dass Sie gestern Abend vor dem Fernseher gesessen haben? Das sollte mich doch sehr wundern.«

»Sie sind mir gefolgt«, sagte Katja langsam und bedächtig.

»Ihnen und der Lady in Schwarz. Ganz recht. Eine weiße Lady in Schwarz«, fügte er hinzu und warf dabei einen schnellen Blick auf Yasmin. »Machen Sie das nächste Mal vorher das Licht aus, wenn Sie die Absicht haben, sich vor dem Fenster zu vergnügen, Miss Wolff.«

Yasmin hatte ein Gefühl, als flatterten wilde Vögel vor ihrem Gesicht herum. Sie wollte mit den Armen wedeln, um sie zu verjagen, aber sie konnte ihre Arme nicht bewegen. Eine weiße Lady in Schwarz war alles, was sie hörte. Machen Sie das nächste Mal vorher das Licht aus.

Katja sagte: »Ah ja, Sie haben gute Arbeit geleistet. Sie sind mir gefolgt - tüchtig. Und dann sind Sie uns beiden gefolgt - noch tüchtiger. Aber wären Sie geblieben, was Sie offensichtlich nicht getan haben, dann hätten Sie bemerkt, dass wir innerhalb einer Viertelstunde wieder gegangen sind. Und wenn auch Ihnen eine solche Zeitspanne vielleicht reicht, um sich zu vergnügen, wie Sie es formulieren, Constable, so brauche ich, das wird Mrs. Edwards Ihnen gern bestätigen, etwas mehr Zeit für solche Dinge.«

Nkata stand da wie ein begossener Pudel. Yasmin genoss den Anblick so sehr wie die Worte Katjas, die den Vorteil, den sie sich soeben verschafft hatte, nutzte, indem sie sagte: »Hätten Sie Ihre Hausaufgaben gründlicher gemacht, Constable, dann hätten Sie festgestellt, dass die Frau, die ich im Frère Jacques getroffen habe, meine Anwältin ist. Sie heißt Harriet Lewis, und wenn Sie ihre Telefonnummer brauchen, um sich meine Aussage bestätigen zu lassen, gebe ich sie Ihnen gern.«

»Und die Galveston Road fünfundfünfzig?«, sagte er.

»Was soll damit sein?«

»Wen haben Sie und« - sein kurzes Zögern und der Nachdruck, den er auf das Wort legte, sagten ihnen, dass er Ratjas Geschichte auf jeden Fall nachprüfen würde - »Ihre Anwältin dort gestern Abend besucht, Miss Wolff?«

»Ihre Partnerin. Und wenn Sie jetzt fragen wollen, was ich mit den beiden Anwältinnen zu besprechen hatte, muss ich Sie leider darauf hinweisen, dass das eine vertrauliche Angelegenheit ist, die nur Anwältin und Mandantin angeht, und Harriet Lewis wird Ihnen das Gleiche sagen, falls Sie sie anrufen, um sich meine Aussage bestätigen zu lassen.«

Katja ging durch das kleine Wohnzimmer zum Sofa, auf dem ihre Umhängetasche lag. Nachdem sie Licht gemacht hatte, holte sie ihre Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an. Rauchend kramte sie weiter und zog schließlich eine Visitenkarte hervor, die sie Nkata überreichte. Sie schien die Ruhe selbst zu sein. Gelassen zog sie an ihrer Zigarette und blies eine Rauchwolke zur Zimmerdecke hinauf, bevor sie sagte: »Rufen Sie sie an. Und wenn Sie jetzt keine weiteren Fragen an uns haben, würden wir gern frühstücken.«

Nkata nahm die Karte und steckte sie ein. Er hielt den Blick so unverwandt auf Katja gerichtet, als wollte er sie auf der Stelle festnageln. »Hoffen Sie, dass die Dame Ihre Aussage bestätigt. Wenn das nämlich nicht der Fall sein sollte -«

»Ist das jetzt alles?«, fiel Yasmin ihm ins Wort. »Wenn ja, wird's Zeit, dass Sie endlich verschwinden.«

Nkata sah sie an. »Sie wissen, wo ich zu erreichen bin«, sagte er.

»Als würde mich das interessieren.« Yasmin lachte. Sie riss die Tür auf und gönnte ihm keinen Blick, als er an ihr vorbei hinausging.

»Mama?«, rief Daniel aus der Küche, als sie die Tür zuschlug.

»Gleich, Schatz«, rief sie zurück. »Iss deine Pfannkuchen.«

»Und vergiss den Schinken nicht«, fügte Katja hinzu.

Sie sahen einander an, während sie mit Daniel sprachen, mit langem, festem Blick, und jede von ihnen wartete darauf, dass die andere sagen würde, was gesagt werden musste.

»Du hast mir gar nicht gesagt, dass du dich mit Harriet Lewis treffen wolltest«, sagte Yasmin.

Katja hob ihre Zigarette zum Mund und ließ sich viel Zeit, um an ihr zu ziehen. Schließlich erwiderte sie: »Es gibt viel zu erledigen. In zwanzig Jahren sammelt sich einiges an. Es braucht Zeit, das alles abzuarbeiten.«

»Wie meinst du das? Was hat sich angesammelt? Katja, hast du irgendwelche Probleme?«

»Ja, es gibt Probleme, aber es sind nicht meine. Sie müssen einfach nur geklärt werden.«

»Was denn? Was muss -«

»Yas, es ist spät.« Katja stand auf und drückte ihre Zigarette in dem Aschenbecher auf dem Couchtisch aus. »Die Arbeit ruft. Ich kann jetzt nicht alles erklären. Die Situation ist zu kompliziert.«

Yasmin hätte gern gesagt: Und deshalb hat es gestern Abend so lange gedauert, sie zu besprechen, Katja? Weil die Situation - was auch immer für eine Situation das ist - zu kompliziert ist? Aber sie sagte es nicht. Sie schob die Frage vorläufig weg, zu all den anderen Fragen, die sie Katja noch nicht gestellt hatte - zum Beispiel die nach den Gründen für ihr Fernbleiben, wenn sie nicht zur Arbeit ging oder nicht nach Hause kam; zum Beispiel die, wohin sie mit dem Auto fuhr, wenn sie es auslieh, und wozu sie es überhaupt ausleihen musste. Wenn sie und Katja etwas Dauerhaftes miteinander aufbauen wollten - eine Beziehung außerhalb der Gefängnismauern, die nicht allein auf der Angst vor Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und Depression gründete -, würde sie als Erstes alle Zweifel ausräumen müssen. Alle ihre Fragen entsprangen dem Zweifel, und Zweifel war Gift für eine Beziehung.

Um darüber nicht weiter nachdenken zu müssen, dachte Yasmin an die erste Zeit im Gefängnis, an die Untersuchungshaft, die Tage auf der Krankenstation, wo man sie aus Sorge, ihre Verzweiflung könnte sie in die geistige Verwirrung treiben, unter ständiger Beobachtung gehalten hatte, an die Demütigung der ersten Leibesvisitation - »Na, dann wollen wir doch auch mal ins Loch schauen, Kleine« - und aller Leibesvisitationen, die folgten, an die endlosen Stunden geisttötender mechanischer Arbeiten wie das Kleben von Briefumschlägen, an Zorn und Wut, die so gewaltig waren, dass sie meinte, sie würden sie auffressen. Und sie dachte an Katja, wie diese sich in den ersten Tagen und während des Prozesses ihr gegenüber verhalten hatte, sie aus der Ferne beobachtet, aber nie ein Wort zu ihr gesagt hatte, bis Yasmin sie eines Tages beim Tee im Speisesaal, wo sie allein saß - wie immer, die Kindsmörderin, das Ungeheuer, eine, die nicht bereute -, gefragt hatte, was sie von ihr wolle.

»Leg dich bloß nicht mit diesem deutschen Luder an«, hatte man ihr gesagt. »Die wartet nur darauf, jemanden richtig fertig zu machen.«

Aber Yasmin hatte sie trotzdem angesprochen. Sie hatte sich an Katjas Tisch gesetzt, ihr Tablett hingeknallt und gesagt: »Was willst du von mir, du Schlampe? Was glotzt du mich dauernd an, als wär ich vom anderen Stern? Das nervt, sag ich dir. Ich hab die Nase voll davon. Ist das klar?« Sie hatte die Taffe gespielt. Sie wusste, ohne dass es ihr jemand gesagt hatte, dass man hinter Gefängnismauern nur überleben konnte, wenn man niemals Schwäche zeigte.

»Man kann so oder so mit der Situation umgehen«, hatte Katja ihr zur Antwort gegeben. »Aber du wirst es hier bestimmt nicht schaffen, wenn du dich nicht unterwirfst.«

»Mich diesen Schweinen unterwerfen?« Yasmin hatte ihre Tasse so hart aufgesetzt, dass der Tee überschwappte und die Papierserviette mit milchbrauner Brühe durchweichte. »Ich gehör überhaupt nicht hierher. Ich hab nur um mein Leben gekämpft.«

»Und genau das tust du, wenn du dich unterwirfst. Du kämpfst um dein Leben. Nicht um das Leben hinter Gittern, sondern um das Leben, das draußen auf dich wartet.«

»Was für ein Leben soll das schon werden? Wenn ich hier rauskomme, kennt mein Kind mich nicht mehr. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie das ist?«

Katja hatte sehr wohl eine Ahnung, auch wenn sie nie von dem Kind sprach, das sie am Tag seiner Geburt aufgegeben hatte. Das war das Wunderbare an Katja, als Yasmin sie mit der Zeit kennen lernte, dass ihr nichts fremd war - nicht der Verlust der Freiheit oder der Verlust eines Kindes, nicht die Erfahrung, den falschen Menschen vertraut zu haben, oder die Erkenntnis, dass man sich nur auf sich selbst verlassen konnte. Auf der Basis dieses umfassenden Verständnisses Katjas hatten sie die ersten vorsichtigen Schritte aufeinander zu gemacht. Und in der Zeit, die sie zusammen verbrachten, entwickelten Katja Wolff- die schon zehn Jahre im Gefängnis war, als Yasmin ihr begegnete - und Yasmin einen Plan, wie sie ihr Leben einrichten würden, wenn sie wieder frei wären.

Rache hatte nicht zu ihrem Plan gehört. Das Wort Vergeltung war nie über ihre Lippen gekommen. Aber jetzt fragte sich Yasmin, was Katja damals, vor Jahren, gemeint hatte, als sie gesagt hatte: »Die sind mir was schuldig«, ohne zu erklären, welcher Art die Schuld war und wer sie zu zahlen hatte.

Sie brachte es nicht fertig, die Freundin zu fragen, wohin sie gestern Abend gegangen war, nachdem sie das Haus in der Galveston Road in Begleitung ihrer Anwältin, Harriet Lewis, verlassen hatte. Tiefe Dankbarkeit der Frau gegenüber, die ihr im Gefängnis mit Rat und Tat beigestanden, ihr zugehört und sie geliebt hatte, drängte alle ihre Zweifel zurück.

Trotzdem konnte sie die Erinnerung an den Moment nicht abschütteln, als Katja, im Begriff zu Bett zu kommen, plötzlich erstarrt war. Sie konnte diese Reaktion nicht einfach als bedeutungslos abtun. Sie sagte: »Ich wusste gar nicht, dass Harriet Lewis eine Partnerin hat.«

Katja sah von ihr weg zum Fenster, wo das erste graue Licht durch die geschlossenen Vorhänge sickerte. »Du wirst lachen, Yas, ich auch nicht.«

»Und du meinst, sie kann dir helfen? Ich meine, mit den Dingen, die du regeln willst.«

»Ja. Ja, ich hoffe es jedenfalls. Das wäre doch gut, wenn man nicht mehr zu kämpfen brauchte.«

Sie stand da und wartete, wartete auf die vielen Fragen, die Yasmin Edwards nicht über die Lippen brachte.

Als Yasmin stumm blieb, nickte sie schließlich wie zu sich selbst. »Es wird alles geregelt«, sagte sie. »Ich komme heute Abend direkt nach der Arbeit nach Hause.«

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