»Wir haben Briefe gefunden, Helen.« Lynley stand vor dem Ankleidespiegel in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer und versuchte missmutig, sich zwischen drei Krawatten zu entscheiden, die schiaff in seiner Hand hingen. »Sie waren in einer Kommode, ein ganzes Bündel, jeder in seinem Umschlag, nur das blaue Bändchen fehlte.«
»Vielleicht gibt es eine ganz harmlose Erklärung.«
»Was, zum Teufel, hat der Mann sich dabei gedacht?«, fuhr Lynley fort, als hätte Helen nichts gesagt. »Die Mutter eines ermordeten Kindes. Eine Frau, die Opfer eines Verbrechens geworden war! Solche Menschen sind ungeheuer verletzlich. Da versucht man, Abstand zu halten, aber man verführt sie doch nicht.«
»Vorausgesetzt, es war überhaupt so, Tommy.« Helen beobachtete ihren Mann vom Bett aus.
»Wie soll es sonst gewesen sein? >Warte auf mich, Eugenie. Ich lasse dich nie wieder gehen. < Klingt das vielleicht nach einer Einkaufsliste?«
»Der Vergleich hinkt, Darling.«
»Ach, du weißt genau, was ich meine.«
Helen drehte sich auf die Seite, ergriff sein Kopfkissen und drückte es auf ihren Leib. »O Gott«, stöhnte sie dumpf.
Er konnte es nicht ignorieren. »Schlimm heute?«, fragte er.
»Furchtbar. So elend hab ich mich in meinem ganzen Leben nicht gefühlt. Ich möchte wissen, wann sich endlich die rosige Zufriedenheit der glücklichen Frau einstellt, die ihre Erfüllung gefunden hat. Warum werden schwangere Frauen in Romanen immer als von innen strahlend beschrieben, wo sie doch in Wirklichkeit fast die ganze Zeit mit ihrem Körper kämpfen und ausschauen wie Leichen auf Urlaub.«
»Hm.« Lynley ließ sich ihre Frage durch den Kopf gehen. »Das weiß ich auch nicht. Ist es vielleicht eine Verschwörung, um die Fortpflanzung der Spezies zu sichern? Ich wollte, ich könnte dir das abnehmen, Darling.«
Sie lachte schwach. »Lügen konntest du noch nie gut.«
Da hatte sie nicht Unrecht. Er unterließ weitere Versuche und hielt stattdessen die drei Krawatten hoch. »Welche soll ich nehmen? Die dunkelblaue mit den Enten? Was meinst du?«
»Mit der kannst du die Verdächtigen jedenfalls glauben machen, dass du sanft mit ihnen verfahren wirst.«
»Genau, was ich dachte.« Er schlang die beiden anderen Krawatten um den Bettpfosten und wandte sich dem Spiegel zu.
»Hast du Inspector Leach was von den Briefen gesagt?«, fragte sie.
»Nein.«
»Was hast du mit ihnen gemacht?« Ihre Blicke trafen sich im Spiegel, und sie las die Antwort in seinem Gesicht. »Du hast sie an dich genommen? Tommy…«
»Ich weiß. Aber bedenk doch mal die Alternative: Ich hätte sie zu den Beweismitteln legen oder zurücklassen können und hätte damit riskiert, dass ein anderer sie findet und Webberly in einem ungünstigen Moment aufsucht, um sie zurückzugeben. Zu Hause, zum Beispiel. Vielleicht auch noch im Beisein von Frances, die nur darauf wartet, dass ihr jemand den Todesstoß versetzt. Oder im Yard, wo es seiner Karriere bestimmt nicht gut täte, wenn herauskäme, dass er was mit einer Frau angefangen hat, die in ein Verbrechen involviert war. Oder stell dir vor, die Briefe fallen irgendeinem Revolverblatt in die Hände! Für die Presse wäre das doch ein gefundenes Fressen.«
»Ist das der einzige Grund, weshalb du sie an dich genommen hast? Um Frances und Malcolm zu schützen?«
»Was gibt es denn sonst noch für einen Grund?«
»Vielleicht das Verbrechen selbst. Die Briefe könnten Beweise sein.«
»Du wirst doch nicht im Ernst behaupten wollen, dass Webberly irgendwie mit der Sache zu tun hat? Er war den ganzen Abend in unserer Gesellschaft. Genau wie Frances, die übrigens weit mehr Grund hätte, Eugenie Davies ins Jenseits zu befördern. Außerdem wurde der letzte Brief vor mehr als zehn Jahre geschrieben. Das Kapitel Eugenie Davies war für Webberly seit Jahren abgeschlossen, Helen. Es war Wahnsinn von ihm, sich mit ihr einzulassen, aber wenigstens war Schluss, bevor irgendein Leben zerstört wurde.«
Helen durchschaute ihn wie immer. »Aber ganz sicher bist du nicht, stimmt's, Tommy?«
»Sicher genug. Und darum wüsste ich nicht, inwiefern die Briefe heute relevant sein sollten.«
»Es sei denn, die beiden hatten in letzter Zeit noch Kontakt.«
Wegen dieser Überlegung hatte er Eugenie Davies' Computer mitgenommen. Er verließ sich auf Instinkt und Erfahrung, die ihm beide sagten, dass sein Chef ein anständiger Mensch war, der es im Leben nicht leicht hatte und dem es fern lag, anderen zu schaden, der aber in einem Moment der Schwäche, den er zweifellos noch heute bereute, der Versuchung erlegen war.
»Er ist ein guter Mann«, sagte Lynley in den Spiegel, mehr zu sich selbst als zu seiner Frau.
Die dennoch auf die Bemerkung einging. »Wie du. Und das erklärt vielleicht, warum er Inspector Leach gebeten hat, dich hinzuzuziehen. Du bist von seiner Anständigkeit überzeugt, darum wirst du versuchen, ihn zu schützen, ohne dass er dich ausdrücklich darum bitten muss.«
Und genauso läuft es, dachte Lynley bedrückt. Vielleicht hatte Barbara doch Recht gehabt. Vielleicht hätte er die Briefe ausliefern und Malcolm Webberly seinem Schicksal überlassen sollen.
Helen warf plötzlich die Bettdecke zurück und stürzte ins Badezimmer. Hinter der Tür begann sie zu würgen. Lynley betrachtete sich im Spiegel und versuchte, das Geräusch nicht zu hören.
Wie leicht man sich etwas einreden konnte, wenn man nur bereit war, es zu glauben. Ein Gedanke, und aus Helens Übelkeit konnte ein verdorbener Magen werden, den sie sich gestern beim Mittagessen zugezogen hatte, weil das Hühnchen nicht mehr frisch gewesen war, oder die Grippe, die im Moment ohnehin grassierte, oder vielleicht eine nervöse Reaktion: Sie hatte im Lauf des Tages etwas Schwieriges zu erledigen, und ihr Körper reagierte auf die Angst. Oder, wenn man diese Überlegung bis zum Extrem weiterführen wollte, konnte man auch behaupten, sie hätte einfach generell Angst. So lange waren sie ja noch nicht zusammen, und sie hatte es mit ihm nicht so leicht wie er mit ihr. Es gab Unterschiede zwischen ihnen: in Erfahrung, Bildung und Alter. Und das alles hatte eine Bedeutung, auch wenn sie sich gern das Gegenteil eingeredet hätten.
Helen war immer noch im Bad, und er hörte immer noch die schrecklichen Geräusche. Er zwang sich, wie ein erwachsener Mensch zu reagieren, und wandte sich vom Spiegel ab, um ins Bad zu gehen. Dort knipste er das Licht an, Helen hatte es in ihrer Hast vergessen. Sie hing, krampfhaft nach Luft schnappend, über der Toilette.
»Helen?«, sagte er, brachte es aber nicht über sich, auch nur einen Schritt näher zu gehen.
Er beschimpfte sich. Du egoistisches Schwein! Das ist die Frau, die du liebst. Geh zu ihr. Wisch ihr das Gesicht mit einem feuchten Tuch ab. Tu irgendwas, verdammt noch mal!
Aber er konnte nicht. Er stand wie versteinert da, als hätte er das Haupt der Medusa gesehen, den Blick starr auf seine Frau gerichtet, die wie ein Häufchen Elend vor der Toilette kniete und sich übergab, das nunmehr tägliche Ritual zur Feier ihrer Vereinigung.
»Helen?«, sagte er ein zweites Mal und hoffte, sie werde sagen, sie komme schon zurecht, sie brauche nichts. Er wartete darauf, dass sie ihn fortschicken würde.
Sie drehte sich nach ihm um. Er konnte die Feuchtigkeit auf ihrem Gesicht erkennen. Und er wusste, sie erwartete von ihm, dass er etwas tun würde, was ihr seine Liebe und seine Besorgnis beweisen würde.
Aber zu mehr als einer Frage reichte es nicht. »Soll ich dir irgendetwas bringen, Helen?«
Sie hielt ihn mit ihrem Blick fest. Er nahm die feine Veränderung in Miene und Haltung wahr, als der Erkenntnis, dass er nicht zu ihr kommen würde, Verletztheit folgte.
Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab. »Alles in Ordnung«, murmelte sie, mit den Händen den Rand der Toilette umklammernd.
Und er nahm die Lüge erleichtert hin.
Das Klirren von Porzellan weckte Malcolm Webberly in seinem Haus in Stamford Brook. Er öffnete die Augen und sah seine Frau, die ihm eben eine Tasse Tee auf den wackligen alten Nachttisch stellte.
Die Hitze im Zimmer war erstickend. Das war der schlecht funktionierenden Zentralheizung und Frances' Weigerung zu verdanken, bei offenem Fenster zu schlafen. Sie konnte die Vorstellung kühler Nachtluft auf ihrem Gesicht nicht ertragen. Und sie hätte aus Angst vor Einbrechern die ganze Nacht kein Auge zugetan, wenn nur eines der Fenster im Haus den kleinsten Spalt offen gewesen wäre.
Webberly versuchte, sich aufzurichten, und sank sogleich ächzend wieder auf sein Kopfkissen. Es war eine lange und eine schlimme Nacht gewesen. Alle Glieder taten ihm weh, aber quälender als der körperliche Schmerz war der seelische.
»Ich hab dir einen schönen Earl Grey gebracht«, sagte Frances.
»Mit Milch und Zucker. Aber Vorsicht, er ist sehr heiß.« Sie trat zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Das trübe Licht des Spätherbsts sickerte ins Zimmer. »Ein richtig grauer Tag heute«, fuhr sie fort. »Sieht nach Regen aus. Für später ist aus Westen Sturm angesagt. Na ja, was kann man vom November auch anderes erwarten!«
Sich auf die Ellbogen stützend, schob sich Webberly unter der Bettdecke hervor und stellte fest, dass er auch in dieser Nacht wieder einen Pyjama durchgeschwitzt hatte. Er nahm die Tasse mit dem Tee und starrte in die dampfende Flüssigkeit. An der Farbe sah er, dass Frances den Tee nicht hatte ziehen lassen; er würde wie verwässerte Milch schmecken. Er trank schon seit Jahren morgens keinen Tee mehr; Kaffee war ihm lieber. Aber Frances trank immer Tee, und es war einfacher, nur das Wasser heiß zu machen und über die Teebeutel zu kippen, als die Umstände des Kaffeekochens auf sich zu nehmen.
Na wenn schon, sagte er sich, am Ende läuft's doch auf das Gleiche hinaus. Hauptsache, der Körper bekommt sein Koffein. Also, trink aus und pack's an.
»Ich habe den Einkaufszettel geschrieben«, bemerkte Frances.
»Er liegt neben der Tür.«
Er nahm es mit einem Brummen zur Kenntnis.
Sie schien sein Brummen als eine Art des Protests aufzufassen und sagte nervös: »Es ist wirklich nicht viel, nur ein paar Sachen, die ausgegangen sind - Papiertücher, Küchenrolle und so was. Zu essen ist von der Party noch genug da. Es dauert bestimmt nicht lang.«
»Schon in Ordnung, Fran«, sagte er. »Kein Problem. Ich erledige es auf dem Heimweg.«
»Wenn etwas dazwischenkommen sollte, brauchst du natürlich nicht -«
»Ich erledige es auf dem Heimweg.«
»Aber nur, wenn es nicht zu viel Mühe macht, Schatz.«
Wenn es nicht zu viel Mühe macht?, dachte Webberly ironisch und verabscheute sich sofort für seine Treulosigkeit. Trotzdem konnte er gegen die plötzliche Aufwallung des Zorns auf seine Frau nichts tun. Wenn es nicht zu viel Mühe macht, mich um alles und jedes zu kümmern, was einen Schritt aus dem Haus verlangt, Fran? Wenn es nicht zu viel Mühe macht, die Einkäufe zu erledigen, bei der Apotheke vorbeizugehen, die Sachen von der Reinigung zu holen, den Wagen zum Kundendienst zu bringen, den Garten zu versorgen, den Hund auszuführen, die… Hör auf!, fuhr er sich selbst an. Fran hatte sich ihre Krankheit nicht ausgesucht. Es war, weiß Gott, nicht ihre Absicht, ihm das Leben zur Hölle zu machen; sie tat ihr Bestes, um mit der Situation fertig zu werden, genau wie er, und darum ging es ja im Leben - sich mit dem auseinander zu setzen, was einem aufgetischt wurde.
»Es macht keine Mühe, Fran«, versicherte er und trank das fade Gebräu, das sie ihm gebracht hatte. »Danke für den Tee.«
»Hoffentlich schmeckt er. Es ist doch mal was anderes. Ich wollte dich überraschen.«
»Das ist lieb von dir«, sagte er.
Er wusste, warum sie es getan hatte. Es war der gleiche Grund, der sie veranlassen würde, nach unten zu gehen, sobald er aufstand, und ihm ein Riesenfrühstück zu bereiten. Es war ihre einzige Möglichkeit, ihn dafür um Verzeihung zu bitten, dass sie wieder gescheitert war und es nicht geschafft hatte, zu tun, was sie vierundzwanzig Stunden zuvor angekündigt hatte. Aus ihrem Plan, im Garten zu arbeiten, war nichts geworden. Nicht einmal die Mauern, die das Grundstück umschlossen, vermochten ihr die Sicherheit zu geben, die sie gebraucht hätte, um das Haus zu verlassen. Möglich, dass sie es versucht hatte; dass sie eine Hand um den Türknauf gelegt - es wäre doch gelacht, wenn ich das nicht schaffe -, die Tür vorsichtig aufgezogen -ja, ich kann das! -, die frische Luft auf der Haut ihres Gesichts gespürt - es gibt nichts zu fürchten - und sogar die freie Hand an den Türpfosten gedrückt hatte, bevor sie von Panik überwältigt worden war. Weiter war sie nicht gekommen, das wusste er, weil er - Gott verzeih ihm seinen Irrsinn! - sich ihre Gummistiefel angesehen hatte, den Rechen, die Gartenhandschuhe und sogar die Müllsäcke, um festzustellen, ob sie ihre irrationalen Ängste besiegt hatte und tatsächlich aus dem Haus gegangen war und sie irgendetwas getan, auch nur ein einziges Blatt aufgelesen hatte.
Er schwang die Beine aus dem Bett und trank, auf der Kante sitzend, den restlichen Tee. Bei jeder Bewegung roch er den Schweiß in seinem Pyjama, dessen Stoff klamm an seiner Haut klebte. Er fühlte sich schwach, merkwürdig zittrig, als hätte er ein schweres Fieber durchgemacht, von dem er sich erst zu erholen begann.
Frances sagte: »Ich mache dir jetzt erst einmal ein ordentliches Frühstück, Malcolm, keine labberigen Cornflakes heute.«
»Ich muss duschen«, sagte er statt einer Antwort.
»Wunderbar. Dann habe ich gut Zeit.« Sie war schon auf dem Weg zur Tür.
»Fran«, sagte er, um sie aufzuhalten, und als sie stehen blieb:
»Das alles ist wirklich nicht nötig.«
»Nicht nötig?« Sie neigte den Kopf zur Seite. Das rote Haar - mit dem Mittel gefärbt, das er ihr einmal im Monat bei Boots holen musste, weil sie meinte, die Haarfarbe ihrer Tochter nachahmen zu können, was nie glückte - war sorgsam frisiert, und sie hatte den Gürtel ihres Morgenrocks zu einer tadellosen Schleife gebunden.
»Ich meine, lass es gut sein«, sagte er. »Du brauchst nicht -«
Was denn? Was brauchte sie nicht zu tun? Wenn er es aussprach, würde sie das auf einen Weg führen, den sie beide nicht betreten wollten. Er sagte also nur: »Du brauchst mich nicht zu verwöhnen. Die Cornflakes tun's auch.«
Sie lächelte. »Das weiß ich, Schatz. Aber ein richtiges Frühstück ab und zu ist doch was Schönes. Und du bist doch nicht in Eile, oder?«
»Der Hund muss noch raus.«
Ich gehe mit ihm, Malcolm. Aber genau das würde sie natürlich nicht sagen. Schon gar nicht nach den fehlgeschlagenen Plänen des gestrigen Tages bezüglich des Gartens. Zwei Niederlagen hintereinander wären eine allzu schwere Kränkung, das würde sie nicht riskieren. Webberly verstand es. Das war es ja, er hatte es immer verstanden! Darum war er auch jetzt nicht überrascht, als sie sagte: »Warten wir doch einmal ab, wie wir mit der Zeit hinkommen. Ich denke, sie wird reichen. Und wenn nicht, kannst du ja Alfies Spaziergang ein bisschen abkürzen. Er wird's überleben, wenn du mit ihm ausnahmsweise nur bis zur Ecke und zurück gehst.«
Sie gab ihm einen liebevollen Kuss auf den Scheitel und ging hinaus. Keine Minute später hörte er sie in der Küche rumoren. Sie begann zu singen.
Er stand vom Bett auf und schlurfte müde ins Badezimmer. Es roch muffig wie immer, vom verschimmelten Kitt rund um die Wanne und von den Stockflecken im Duschvorhang, der längst ausgewechselt hätte werden müssen. Webberly schob das Fenster ganz auf und stellte sich davor, um die feuchte Morgenluft einzuatmen, die einen langen, kalten und nassen Winter ankündigte. Er dachte an Spanien, Italien, Griechenland, an all die warmen sonnigen Gegenden der Welt, die er niemals sehen würde.
Ungeduldig schlug er sich die verlockenden Bilder aus dem Kopf, trat vom Fenster weg und zog seinen Pyjama aus. Er drehte das heiße Wasser auf, bis der Dampf in dichten Schwaden aus der Wanne aufstieg, ließ dann kaltes Wasser nachlaufen, um die Temperatur zu regulieren, und stieg ins Bad.
Während er sich einseifte, dachte er über die unbestreitbar vernünftige Frage seiner Tochter nach, warum er nicht darauf bestand, dass Frances sich wieder in psychiatrische Behandlung begab. Was konnte es schaden, Fran das vorzuschlagen? In den vergangenen zwei Jahren war nicht eine Bemerkung über ihre Schwierigkeiten über seine Lippen gekommen. Wäre es denn so verwerflich, wenn er sie jetzt, nach fünfundzwanzigjähriger Ehe und im Angesicht seines baldigen Rückzugs aus dem Berufsleben, darauf hinwiese, dass sie sich auf ein neues Leben würden einstellen müssen, und sie - Fran - sich Hilfe holen müsse, um mit ihrem Problem umgehen zu lernen, wenn sie gemeinsam dieses neue Leben mit allem, was es zu bieten hatte, genießen wollten? Wir wollen doch reisen, Frannie, könnte er sagen. Stell dir vor, ein Wiedersehen mit Spanien, denk an Italien, an Kreta. Ach was, wir könnten sogar alles hier verkaufen und aufs Land ziehen. Davon haben wir doch früher immer geträumt.
Ihr Mund würde sich bei seinen Worten zu einem Lächeln verziehen, doch in den Augen würde sich die beginnende Panik spiegeln. »Aber, Malcolm«, würde sie sagen, die Finger verkrampft - um den Rand ihrer Schürze, den Gürtel ihres Morgenrocks, die Manschette ihrer Bluse. »Aber, Malcolm!«
Vielleicht würde sie bei der Erkenntnis, dass es ihm ernst war, sogar einen Versuch machen, ihre Ängste zu bezwingen. Wie vor zwei Jahren. Und es würde heute so enden wie damals: in Panik und Tränen; mit einem Anruf wildfremder Leute bei der Polizei; mit Rettungswagen, Sanitätern und Polizei, die am Supermarkt angerückt waren, wohin sie sich im Taxi hatte bringen lassen, um zu beweisen, was sie gesagt hatte: »Ich schaffe es, Schatz.« Wie damals würde ein Aufenthalt im Krankenhaus folgen, eine Zeit der Ruhigstellung, eine Intensivierung aller ihrer Ängste. Sie hatte sich gezwungen, aus dem Haus zu gehen, weil sie es ihm recht machen wollte. Es hatte damals nicht geklappt, es würde auch heute nicht klappen.
»Sie muss selbst wünschen, wieder gesund zu werden«, hatte der Psychiater ihm erklärt. »Ohne den eigenen Wunsch entsteht kein Druck. Und der innere Druck, der die Wiederherstellung der Gesundheit fordert, kann nicht künstlich erzeugt werden.«
Die Jahre verstrichen. Das Leben ging weiter, ihre Welt schrumpfte. Und die seine mit. Manchmal glaubte Webberly, er würde in der Enge dieser Welt ersticken.
Er blieb lange im Wasser liegen, er wusch sich das schütter werdende Haar. Als er fertig war und aus der Wanne stieg, umfing ihn die eisige Kälte des Badezimmers, da das Fenster immer noch weit offen stand und Morgenluft hereinließ.
Frances hatte Wort gehalten. Ein großes Frühstück erwartete ihn, als er in die Küche kam. Es duftete verlockend nach gebratenem Schinkenspeck, und Alfie saß neben dem Herd und beäugte hoffnungsvoll die Bratpfanne, aus der Frances die knusprigen Speckscheiben nahm. Doch der Tisch war nur für eine Person gedeckt.
»Isst du nichts?«, fragte Webberly seine Frau.
»Ich lebe, um dir zu dienen.« Sie gestikulierte mit der Bratpfanne. »Du brauchst es nur zu sagen, und du bekommst deine Frühstückseier, wie du sie haben willst. Ich richte mich ganz nach dir. In allem.«
»Ist das dein Ernst, Fran?« Er zog seinen Stuhl heraus.
»Gekocht, gerührt oder gebraten«, erklärte sie. »Ganz wie es dir beliebt.«
»Wie es mir beliebt.«
Er hatte keinen Appetit, aber er aß. Er kaute und schluckte, ohne viel zu schmecken. Nur die Säure des Orangensafts nahm er wahr.
Frances schwatzte. Ob er nicht auch fände, dass Randy ein bisschen zu füllig sei? Sie sage ja nicht gern etwas, aber ob er nicht auch der Meinung sei, das Kind hätte ein bisschen zu viel Babyspeck auf den Knochen für ein junges Mädchen ihres Alters? Und was er zu ihrem neuesten Plan sage, für ein Jahr in die Türkei zu gehen? Ausgerechnet in die Türkei. Aber sie habe ja ständig irgendwelche Rosinen im Kopf, da sei es wahrscheinlich völlig überflüssig, sich aufzuregen. Trotzdem, ein junges Mädchen ihres Alters… ganz allein in der Türkei? Das sei doch unvernünftig, das könne nicht gut gehen. Als sie im vergangenen Jahr davon gesprochen habe, für ein Jahr nach Australien zu gehen, sei das schlimm genug gewesen - so weit weg von der Familie! Aber die Türkei? Nein. Das müssten sie ihr ausreden. Und habe Helen Lynley neulich Abend nicht hinreißend ausgesehen?
»Sie gehört zu den Frauen, die alles tragen können. Natürlich kommt es auch darauf an, wo man kauft. In französischen Modellen sieht man einfach - na ja, man sieht eben aus wie alter Adel, Malcolm. Und sie kann es sich ja leisten, französisch einzukaufen, nicht wahr? Kein Mensch achtet darauf, wo sie einkauft. Da hat sie's besser als unsere spießige alte Queen, die immer aussieht, als hätte ein englischer Polsterer sie ausstaffiert. Tja, es stimmt schon, Kleider machen Leute.«
Ein endloses Gebrabbel. Es ließ kein längeres Schweigen zu, das vielleicht zu einem schmerzhaften Gespräch geführt hätte. Und es vermittelte den Schein von Wärme und Nähe, das Bild vom alten Ehepaar im trauten Heim beim gemeinsamen Frühstück.
Webberly stieß abrupt seinen Stuhl zurück und druckte sich kurz die Papierserviette auf den Mund. »Komm, Alfie!«, sagte er, »gehen wir.« Er nahm die Leine vom Haken neben der Tür, und der Hund folgte ihm durchs Wohnzimmer zur Haustür hinaus.
Kaum im Freien, wurde Alfie quicklebendig. Schwanzwedelnd und mit gespitzten Ohren, lief er an der Seite seines Herrn die Straße hinunter zur Emlyn Road, ständig nach Katzen, seinen Erzfeinden, Ausschau haltend, um sie mit wütendem Gebell in die Flucht zu schlagen, sobald sie sich zeigten. An der Ecke Stamford und Brook Road setzte er sich gehorsam wie immer. Hier war zu manchen Tageszeiten sehr viel Verkehr, und nicht einmal ein Zebrastreifen garantierte, dass man als Fußgänger unbeschadet über die Fahrbahn kam.
Sie überquerten die Straße und betraten den Park.
Alles war nass vom Regen der vergangenen Nacht. Die Gräser bogen sich unter dem Gewicht des Wassers, von den Bäumen tropfte der Regen, die Bänke an den Wegen glänzten feucht. Aber Webberly störte das nicht. Er hatte nicht die Absicht, sich unter die Bäume zu setzen oder durch das Gras zu stapfen, durch das Alfie ausgelassen herumzutollen begann, sobald sein Herr ihn von der Leine gelassen hatte. Webberley schlug den Fußweg ein, der um die Anlage herumführte, und während er auf knirschendem Kies zielstrebig dahinlief, wanderten seine Gedanken fort aus Stamford Brook, wo er seit mehr als zwanzig Jahren lebte, und suchten Henley auf, den kleinen Ort an der Themse.
Bis zu diesem Moment des Tages hatte er es geschafft, nicht an Eugenie zu denken. Es erschien ihm wie ein Wunder. In den vorangegangenen vierundzwanzig Stunden war sie keine Minute aus seinen Gedanken gewichen. Er hatte noch nichts von Eric Leach gehört, und er hatte Tommy Lynley im Yard nicht gesprochen. Lynleys Bitte, ihm Constable Winston Nkata zuzuteilen, sah er als ein Zeichen dafür, dass die Ermittlungen Fortschritte machten, aber er wollte wissen, welcher Art diese Fortschritte waren, denn es war besser zu wissen - was auch immer es war - als mit der Ungewissheit und den Bildern aus der Vergangenheit dazustehen, die man am besten vergaß.
Da ihm aber der Kontakt zu den Kollegen fehlte, kehrten die Bilder zurück. Ohne den Schutz der beengenden Wände seines Hauses, ohne Frances' Geplapper und die, die ihn forderten, wenn er ins Büro kam, wurde er von Bildern bestürmt, inzwischen so fern, dass sie nur noch Fragmente waren, Teile eines Puzzles, das er nicht hatte vollenden können.
Es war Sommer. Irgendwann nach der Regatta. Er und Eugenie trieben in einem Ruderboot auf dem trägen Fluss dahin.
Ihre Ehe war nicht die erste, die der Erschütterung durch einen gewaltsamen Tod in der Familie nicht standgehalten hatte, und würde nicht die Letzte sein, die unter dem Druck der äußeren Umstände - polizeiliche Ermittlungen und Gerichtsverfahren - und der heftigen Schuldgefühle zerbrach, die der Tod eines Kindes, verursacht durch eine Person, der man vertraut hat, mit sich brachte. Aber der Zerfall dieser Ehe hatte Webberly besonders berührt. Es dauerte viele Monate, bevor er sich den Grund dafür eingestand.
Nach dem Prozess war die Sensationspresse mit der gleichen räuberischen Lust über Eugenie Davies hergefallen wie über Katja Wolff. Die Wolff wurde als die Verkörperung des Bösen verdammt, Eugenie wurde als die Rabenmutter abgestempelt, die ihrer Arbeit außer Haus nachgegangen war, anstatt sich um ihr behindertes Kind zu kümmern, und dieses einer ungelernten Person überlassen hatte, die nicht einmal Englisch sprach und keine Ahnung hatte, wie man ein krankes Kind betreute. Katja Wolff hatte man verteufelt, Eugenie Davies an den Pranger gestellt.
Sie hatte die öffentliche Geißelung als gerechten Lohn empfunden. »Es ist meine Schuld«, hatte sie gesagt. »Ich habe es nicht anders verdient.« Sie sprach mit einer ruhigen Würde, ohne alle Hoffnung und ohne alles Verlangen, auf Widerspruch zu stoßen. Nein, sie ließ Widerspruch gar nicht zu. »Ich möchte nur, dass es vorbei ist«, hatte sie gesagt.
Zwei Jahre nach dem Prozess traf er sie zufällig am Paddington-Bahnhof. Er war auf dem Weg zu einer Konferenz in Exeter. Sie war nach London gekommen, wie sie sagte, weil sie hier einen Termin hatte.
»Sie leben nicht mehr in London?«, hatte er gefragt. »Sind Sie aufs Land gezogen? Das wird dem Jungen sicher gut tun.«
Aber nein, die Familie lebte weiterhin in London. Nur sie war weggegangen.
»Oh, das tut mir Leid«, sagte er.
»Danke, Inspector Webberly.«
»Malcolm. Einfach Malcolm«, sagte er.
»Gut, dann einfach Malcolm.« Ihr Lächeln war tieftraurig.
Impulsiv und in Eile, weil in wenigen Minuten sein Zug abfahren würde, sagte er: »Würden Sie mir Ihre Telefonnummer geben, Eugenie? Ich würde gern ab und zu einmal nachfragen, wie es Ihnen geht. Als Freund. Wenn es Ihnen recht ist.«
Sie schrieb die Nummer auf die Zeitung, die sie bei sich hatte, und sagte: »Ich danke Ihnen für Ihre Liebenswürdigkeit, Inspector.«
»Malcolm«, erinnerte er sie.
Der Sommertag am Fluss war zwölf Monate später gewesen und nicht der erste Tag, an dem er einen Vorwand gefunden hatte, um nach Henley zu fahren und nach Eugenie zu sehen. Sie war wunderschön an diesem Tag, still wie immer, aber mit einer Ausstrahlung inneren Friedens, die er vorher noch nie wahrgenommen hatte. Er ruderte das Boot, sie saß ihm gegenüber, zurückgelehnt und halb zur Seite gedreht. Sie zog die Hand nicht durch das Wasser, wie manche Frauen das vielleicht um der hübschen Pose willen getan hätten, sondern blickte auf das Wasser, als wäre in seinen Tiefen etwas verborgen, auf dessen Erscheinen sie wartete. Licht und Schatten huschten über ihr Gesicht, während sie unter Bäumen dahinglitten.
Unversehens hatte ihn die Gewissheit überfallen, dass er sie liebte. Nach zwölf Monaten reiner Freundschaft, mit Spaziergängen in der Stadt, Fahrten aufs Land, Mittagessen in Pubs, einem gelegentlichen gemeinsamen Abendessen und Gesprächen, echten Gesprächen, die sie einander näher gebracht hatten.
»Als ich jung war, glaubte ich an Gott«, erzählte sie ihm. »Aber auf dem Weg zur Erwachsenen habe ich ihn verloren. Ich habe jetzt lange ohne ihn gelebt und würde ihn gern wieder finden.«
»Selbst nach allem, was geschehen ist?«
»Eben deswegen. Aber ich habe Angst, dass er mich nicht mehr haben will, Malcolm. Meine Sünden wiegen zu schwer.«
»Du hast nicht gesündigt. Du könntest gar nicht sündigen.« »Wie kannst gerade du so etwas glauben? Jeder Mensch ist ein Sünder.«
Aber Webberly konnte sie nicht als Sünderin sehen, ganz gleich, was sie über sich selbst sagte. Er sah nur Vollkommenheit und - letztlich - das, was er sich wünschte. Doch von seinen Gefühlen zu sprechen, wäre ihm wie Verrat in jeder Richtung erschienen. Er war verheiratet und hatte eine Tochter. Eugenie war anfällig und verletzlich. Trotz der Länge der Zeit, die seit der Ermordung ihrer Tochter verstrichen war, hätte er das Gefühl gehabt, er nütze ihre Schwäche aus.
Deshalb sagte er nur: »Eugenie, weißt du, dass ich verheiratet bin?«
Sie hob den Blick vom Wasser und sah ihn an. »Ich habe es vermutet.«
»Warum?«
»Deine Güte. Keine Frau wäre so töricht, einen Mann wie dich entwischen zu lassen. Möchtest du mir von deiner Frau und deinen Kindern erzählen?«
»Nein.«
»Oh. Was heißt das?«
»Ehen gehen manchmal zu Ende.«
»Ja.«
»Wie deine.«
»Ja. Meine Ehe ist zu Ende.« Sie richtete den Blick wieder auf das Wasser. Er fuhr fort zu rudern und beobachtete ihr Gesicht. Noch in hundert Jahren, wenn er längst blind wäre, würde er es in allen Einzelheiten aus dem Gedächtnis zeichnen können.
Sie hatten ein Picknick mitgenommen, und als Webberly eine Stelle entdeckte, die ihm gefiel, steuerte er das Boot an die Uferböschung. »Warte hier«, sagte er, »ich mache das Boot erst fest.«
Aber als er die feuchte Uferböschung hinaufstieg, rutschte er aus und schlitterte direkt ins Wasser. Wie ein begossener Pudel stand er da, während das Themsewasser kühl seine Oberschenkel umspülte. Das Bootsseil hing über seiner Hand, und der Schlick auf dem Grund des Flusses drang in seine Schuhe.
»Um Gottes willen, Malcolm!«, rief Eugenie und setzte sich mit einem Ruck gerade hin. »Ist dir was passiert?«
»Ich komme mir vor wie ein Idiot. Im Film läuft es nie so ab.«
»Aber so ist es viel besser«, sagte Eugenie. Und bevor er etwas erwidern konnte, sprang sie aus dem Boot zu ihm ins Wasser.
»Der Schlamm -«, begann er protestierend.
»- fühlt sich herrlich an«, vollendete sie und begann zu lachen.
»Du bist knallrot im Gesicht. Warum denn?«
»Weil ich alles ganz perfekt haben wollte«, bekannte er.
»Aber das ist es doch, Malcolm.«
Er war verwirrt, wollte und wollte nicht, war sicher und unsicher. Sie kletterten die Böschung hinauf. Er zog das Boot ans Ufer und nahm die Tasche mit dem Picknick heraus. Sie suchten sich unter den Weiden einen Platz, der ihnen gefiel, und als sie sich niederließen, sagte sie: »Malcolm, ich bin bereit, wenn du es auch bist.«
So hatte es angefangen.
»Das Kind wurde also zur Adoption freigegeben«, schloss Barbara Havers ihren Vortrag, klappte ihr abgegriffenes Heft zu und kramte aus ihrer unförmigen Umhängetasche ein Päckchen Juicy-Fruit-Kaugummis, das sie in Chief Inspector Leachs Büro in Hampstead großzügig herumreichte. Eric Leach nahm ein Stäbchen, Lynley und Nkata lehnten dankend ab. Barbara schob sich selbst eines in den Mund und kaute energisch. Ersatz für die Zigaretten, dachte Lynley und fragte sich flüchtig, wann sie das Rauchen ganz lassen würde.
Leach spielte mit dem Silberpapier, in das der Kaugummi eingewickelt gewesen war. Er faltete es zu einem winzigen Fächer, den er vor das gerahmte Foto seiner Tochter legte. Er hatte gerade mit ihr telefoniert, als die drei Beamten von Scotland Yard gekommen waren, die wegen eines Verkehrsstaus in Westminster die allgemeine Lagebesprechung verpasst hatten. Sie hatten noch mitbekommen, wie er am Ende des Gesprächs verdrossen gesagt hatte: »Lieber Gott, Esmé, das musst du wirklich mit deiner Mutter besprechen… Aber natürlich wird sie dir zuhören. Sie hat dich doch lieb… Esmé, jetzt hör mal - ja. Gut. Eines Tages wird sie… Ja, ich vielleicht auch, aber das heißt doch nicht, dass wir dich nicht -« An diesem Punkt schien die Tochter aufgelegt zu haben. Leach brach jedenfalls mitten im Satz ab und saß einen Moment mit offenem Mund da, ehe er mit betont gemessener Bewegung und einem tiefen Seufzer den Hörer auflegte.
Jetzt sagte er: »Da haben wir vielleicht das Motiv des Killers oder der Killer: das adoptierte Kind. Die Wolff ist schließlich nicht von allein schwanger geworden. Das sollten wir nicht vergessen.«
»Ja«, meinte Nkata. »Vielleicht will die Wolff ihr Kind wiederhaben, und keiner will ihr helfen, es zu finden. Ist es eigentlich ein Sohn oder eine Tochter, Barb?« Er hatte sich, seiner Gewohnheit entsprechend, nicht gesetzt, sondern stand nicht weit von der Tür lässig an die Wand gelehnt, eine Schulter unter einer gerahmten Ehrenurkunde, die Leach vom Commissioner of Police bekommen hatte.
»Ein Sohn«, antwortete Barbara. »Aber ich glaube nicht, dass Ihre Vermutung zutrifft.«
»Und warum nicht?«
»Schwester Cecilia zufolge hat sie den Jungen gleich nach der Geburt freigegeben. Sie hätte ihn neun Monate bei sich behalten können - sogar länger, wenn sie ihre Strafe woanders als in Holloway abgesessen hätte -, aber das wollte sie nicht. Sie hat es nicht einmal beantragt. Sie hat den Kleinen gleich im Entbindungsraum abgegeben und sich nie mehr um ihn gekümmert.«
»Sie wollte wahrscheinlich nicht, dass sich eine Bindung zwischen ihr und dem Kind entwickelt, Havers«, bemerkte Lynley.
»Das wäre doch nur eine Quälerei gewesen. Auf sie wartete schließlich eine zwanzigjährige Haftstrafe! Es könnte etwas über die Stärke ihrer mütterlichen Gefühle für das Kind aussagen. Hätte sie es nicht adoptieren lassen, dann wäre es im Heim gelandet.«
»Aber wenn sie ihren Sohn sucht, warum ist sie dann nicht als Erstes zu Schwester Cecilia gegangen?«, fragte Barbara. »Die hat doch die Adoption vermittelt.«
»Vielleicht sucht sie ihn gar nicht«, entgegnete Nkata. »Es sind zwanzig Jahre vergangen. Vielleicht ist ihr klar, dass der Junge nicht scharf darauf ist, seine wahre Mutter kennen zu lernen und zu erfahren, dass sie gerade aus dem Knast kommt. Und vielleicht hat sie genau deshalb Mrs. Davies erledigt, weil sie der Meinung ist, dass sie ohne Mrs. Davies nicht im Knast gelandet wäre. Wenn einem so eine Vorstellung zwanzig Jahre lang im Kopf rumgeht, brennt man doch darauf, sich zu rächen, sobald man endlich rauskommt.«
»Ich glaub das nicht«, beharrte Barbara. »Was ist mit diesem alten Kerl, diesem Wiley, der da draußen in Henley in seiner Buchhandlung hockt und wochen- oder monatelang jede Bewegung von Eugenie Davies beobachtet hat. So ein Zufall, dass er sie genau an dem Abend, an dem sie umgelegt wurde, mit einem geheimnisvollen Fremden streiten sah! Woher wissen wir, dass es wirklich ein Streit war und nicht genau das Gegenteil? Und dass unser guter Major Wiley daraufhin nicht blutige Rache übte?«
»Wir müssen diesen Jungen auf jeden Fall ausfindig machen«, erklärte Leach. »Katja Wolffs Sohn. Sie ist vielleicht schon auf der Suche nach ihm, und er muss benachrichtigt werden. Lustig wird das nicht werden, aber es muss sein. Constable, das übernehmen Sie.«
»In Ordnung, Sir«, stimmte Barbara zu, aber sie sah nicht so aus, als wäre sie vom Sinn ihres Auftrags überzeugt.
»Also, wenn Sie mich fragen«, bemerkte Nkata, »ich denke, mit Katja Wolff sind wir auf der richtigen Spur. Irgendwas stimmt bei der ganz eindeutig nicht.«
Er schilderte den anderen das Gespräch, das er am vergangenen Abend in Yasmin Edwards' Wohnung mit der Deutschen geführt hatte. Nach ihren Aktivitäten am Abend des Mordes gefragt, hatte Katja Wolff behauptet, mit Yasmin Edwards und deren Sohn Daniel zu Hause gewesen zu sein. Sie hätten ferngesehen, hatte sie gesagt, aber die Sendung nicht nennen können, die sie sich angeschaut hatten. Sie hätten den ganzen Abend herumgezappt, hatte sie erklärt, und sie habe nicht aufgepasst, was sie alles gesehen hatten. Wozu man denn überhaupt eine Schüssel und eine Fernbedienung habe, wenn man sie nicht benutze, um sich damit zu amüsieren?
Sie hatte sich während des Gesprächs eine Zigarette angezündet und so getan, als kümmerte sie nichts auf der Welt.
»Worum geht's denn eigentlich, Constable?«, hatte sie mit Unschuldsmiene gefragt, aber jedes Mal, bevor sie eine Frage beantwortete, zur Tür geschaut. Nkata hatte gewusst, was diese Blicke zur Tür zu bedeuten hatten: Sie verheimlichte ihm etwas und fragte sich, ob Yasmin Edwards ihm das Gleiche erzählt hatte wie sie.
»Und was hat Yasmin Edwards Ihnen erzählt?«, fragte Lynley.
»Dass die Wolff zu Hause gewesen wäre. Weiter nichts.«
»Knastfreundinnen«, sagte Eric Leach. »Die werden sich doch nicht gegenseitig in die Pfanne hauen, wenn die Bullen antanzen. Jedenfalls nicht gleich. Sie müssen sich die beiden noch mal vorknöpfen, Constable. Was haben Sie sonst noch?«
Nkata berichtete von dem beschädigten Scheinwerfer an Yasmin Edwards' Auto. »Sie hat behauptet, sie wüsste nicht, wann oder wo das passiert ist«, sagte er. »Aber die Wolff benutzt den Wagen auch. Sie hat ihn auf jeden Fall gestern gefahren.«
»Farbe?«, fragte Lynley.
»Rot mit viel Rost.«
»Sehr hilfreich ist das alles nicht«, stellte Barbara Havers fest.
»Hat jemand von den Nachbarn eine der beiden Frauen am fraglichen Abend wegfahren sehen?« Gerade als Leach die Frage stellte, kam eine uniformierte Beamtin mit einem Bündel Papiere herein, das sie ihm übergab. Er warf einen kurzen Blick darauf, bedankte sich brummend und fragte: »Wie weit sind wir mit den Audis?«
»Noch in Arbeit, Sir«, antwortete sie. »In Brighton gibt's fast zweitausend von der Sorte.«
»Wer hätte das gedacht«, meinte Leach, als die Beamtin wieder gegangen war. »Die Parole >Kauft britisch< gilt anscheinend gar nichts mehr.« Er behielt die Unterlagen, die die Beamtin ihm gebracht hatte, bei sich und kehrte zum Gesprächsthema zurück.
»Also, wie war das mit den Nachbarn?«, fragte er Nkata.
»Sie kennen doch die Gegend«, antwortete Nkata achselzuckend. »Da redet keiner. Die haben mich alle abblitzen lassen, bis auf so eine alte Betschwester, die sich tierisch über Frauen aufgeregt hat, die in Sünde zusammenleben. Die Leute in der Siedlung hätten schon versucht, die Babymörderin - das waren ihre Worte! - zu vertreiben, aber leider ohne Erfolg.«
»Dann werden wir da draußen kräftig nachhaken müssen«, stellte Leach fest. »Versuchen Sie's, Constable. Die Edwards ist vielleicht zu knacken, wenn Sie ihr richtig zusetzen. Sie sagten, dass sie einen Sohn hat, richtig? Setzen Sie sie damit unter Druck, wenn's sein muss. Und machen Sie sie darauf aufmerksam, dass Beihilfe zum Mord keine Kleinigkeit ist. Ach, übrigens« - er kramte in irgendwelchen Papieren auf seinem Schreibtisch und zog eine Fotografie heraus - »das hat uns Holloway gestern Abend per Kurier geschickt. Es muss in Henley herumgezeigt werden.«
Er reichte Lynley das Foto, das, wie dieser dem Vermerk am unteren Rand entnahm, Katja Wolff zeigte. Es schmeichelte ihr nicht. Im grellen Licht wirkte sie scharfgesichtig und hohläugig. Genau wie eine verurteilte Mörderin.
»Wenn sie die Davies erledigt hat«, fuhr Leach fort, »muss sie sie zuerst in Henley aufgestöbert haben. Und wenn's so war, muss jemand sie gesehen haben. Überprüfen Sie das.«
Sie hätten, fuhr Leach fort, mittlerweile eine Liste aller Anrufe, die Eugenie Davies in den letzten drei Monaten gemacht oder erhalten hatte, und seien jetzt dabei, die Liste mit den Namen im Adressbuch der Toten zu vergleichen. Anhand der Namen und Telefonnummern im Adressbuch werde man die Identität der Anrufer feststellen, die auf ihren Anrufbeantworter gesprochen hatten. In wenigen Stunden wurden sie wissen, wer zuletzt mit ihr in Kontakt gewesen war.
»Und wir haben einen Namen für die Cellnetnummer«, fügte Leach hinzu. »Ian Staines.«
»Das könnte ihr Bruder sein«, meinte Lynley. »Richard Davies erwähnte, dass sie zwei Brüder hat, von denen einer Ian heißt.«
Leach notierte sich das und schloss die Besprechung mit den Worten: »Also, Sie wissen, was Sie zu tun haben, meine Herrschaften.«
Barbara und Lynley standen auf. Nkata stieß sich von der Wand ab. Leach hielt sie alle drei noch einmal auf, bevor sie gingen.
»Hat übrigens einer von Ihnen mit Webberly gesprochen?«
Es klang wie beiläufig, aber die Beiläufigkeit wirkte gekünstelt.
»Er war heute Morgen, als wir vom Yard losgefahren sind, noch nicht da«, antwortete Lynley.
»Grüßen Sie ihn von mir, wenn Sie ihn sehen«, sagte Leach.
»Richten Sie ihm aus, dass ich mich bald melden werde.«
»Wird gemacht. Wenn wir ihn sehen.«
Als sie draußen auf der Straße standen und Nkata gegangen war, sagte Barbara zu Lynley: »Weswegen will er sich bei ihm melden? Das würde mich interessieren.«
»Sie sind alte Freunde.«
»Hm. Was haben Sie denn mit den Briefen gemacht?«
»Nichts, bis jetzt.«
»Haben Sie immer noch vor…« Barbara sah ihn scharf an. »O ja, ich seh's Ihnen an. Verdammt noch mal,
Inspector, wenn Sie mir mal eine Minute zuhören würden -«
»Ich höre, Barbara.«
»Gut. Also: Ich kenne Sie, und ich weiß, wie Sie denken. >Anständiger Kerl, unser Freund Webberly. Hat eine kleine Dummheit gemacht. Aber man braucht ja nicht unbedingt zulassen, dass aus einer einzigen kleinen Dummheit gleich eine Katastrophe wird.< Nur, die Katastrophe ist bereits eingetreten, Inspector. Die Frau ist tot, und die Briefe sind vielleicht der Grund. Dieser Möglichkeit müssen wir ins Auge sehen und uns mit ihr auseinander setzen.«
»Wollen Sie behaupten, dass ein paar Briefe, die vor mehr als zehn Jahren geschrieben wurden, jemanden zum Mord getrieben haben könnten?«
»Für sich allein vielleicht nicht. Das behaupte ich auch gar nicht. Aber wenn man Wiley glaubt, wollte sie ihm etwas Wichtiges mitteilen, etwas, das, wie er meinte, die Beziehung zwischen ihnen verändert hätte. Wie war's, wenn sie es ihm bereits mitgeteilt hatte? Oder wenn er bereits wusste, worum es ging, weil er die Briefe entdeckt hatte? Wir haben nur sein Wort darauf, dass er nicht weiß,was sie ihm mitteilen wollte.«
»Zugegeben. Aber Sie können nicht im Ernst glauben, dass sie die Absicht hatte, mit Wiley über Webberly zu sprechen. Das ist doch Schnee von gestern.«
»Nicht, wenn die beiden die Beziehung wieder aufgenommen hatten. Oder die Verbindung zwischen ihnen niemals abgerissen war. Wenn sie sich weiterhin heimlich getroffen haben, in - na, sagen wir, in Pubs und Hotels. Das hätte geklärt werden müssen. Und vielleicht wurde es ja geklärt. Nur eben nicht so, wie unsere Protagonisten - Mrs. Davies und Webberly - es sich vorgestellt hatten.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so war. Und für meinen Geschmack ist es ein Zufall zu viel, dass Eugenie Davies so bald nach Katja Wolffs Entlassung aus dem Gefängnis getötet wurde.«
»Ach, auf den Zug springen Sie auf?«, sagte Barbara verächtlich.
»Da kommen Sie nicht weiter. Verlassen Sie sich drauf.«
»Ich springe nirgendwo auf«, entgegnete Lynley. »Um sich irgendwie festzulegen, ist es noch viel zu früh. Und ich würde vorschlagen, dass Sie in Bezug auf Major Wiley die gleiche Vorsicht walten lassen. Wenn wir uns jetzt auf eine Möglichkeit einschließen und alle anderen völlig außer Acht lassen, wird uns das wirklich nicht weiterbringen.«
»Ach, und Sie sind nicht dabei, genau das zu tun, Inspector? Haben Sie nicht soeben beschlossen, dass die Briefe von Webberly ohne Belang sind?«
»Ich habe beschlossen, mir meine Meinung auf der Grundlage von Fakten zu bilden, Barbara. Bis jetzt haben wir nicht allzu viele, und solange sich das nicht ändert, können wir der Sache der Gerechtigkeit nur dienen - ganz zu schweigen davon, dass das der Weg ist, den die Weisheit gebietet -, indem wir die Augen und unser Urteil offen halten. Finden Sie das nicht auch?«
Barbara schäumte. »Mann, Sie sollten sich mal reden hören! Ich hasse dieses Gelaber.«
Lynley lächelte. »Habe ich gelabert? Das tut mir Leid. Ich hoffe, es treibt Sie nicht zu Gewalttätigkeiten.«
»Nur zur Zigarette«, gab Barbara zurück.
»Noch schlimmer.« Lynley seufzte.