Libby Neal beschloss, sich wegen Grippe krank zu melden. Ihr war klar, dass Rock Peters einen Tobsuchtsanfall bekommen und ihr drohen würde, ihren Wochenlohn einzubehalten, aber das war ihr egal; es bedeutete ohnehin nichts, da er mit ihren Lohnzahlungen bereits drei Wochen im Verzug war. Nach der Trennung von Gideon am vergangenen Abend hatte sie gehofft, er würde zu ihr hinunterkommen, sobald der Polizist abgehauen war; aber er hatte sich nicht blicken lassen, und sie hatte daraufhin so schlecht geschlafen, dass sie nun tatsächlich fast krank war. Von einer Grippe zu sprechen war also nicht ganz die Unwahrheit.
Nachdem sie aufgestanden war, lief sie die ersten drei Stunden im Trainingsanzug in ihrer Wohnung herum und horchte angestrengt nach oben, um zu hören, ob sich dort etwas rührte. Schließlich gab sie ihre Lauschversuche auf - obwohl von »Lauschen« ja eigentlich keine Rede sein konnte, wenn es ihr einzig darum ging, von Gideon gewissermaßen ein Lebenszeichen zu vernehmen - und beschloss, sich persönlich zu vergewissern, dass es Gideon gut ging. Er war ja gestern, noch bevor der Bulle aufgekreuzt war, total fertig gewesen. Wer konnte wissen, wie es ihm ging, nachdem der Bulle sich verzogen hatte.
Du hättest gleich nach ihm schauen sollen, sagte sie sich, und gerade ihr Bemühen, nicht darüber nachzudenken, warum sie nicht nach ihm gesehen hatte, zwang sie unerbittlich, sich dieser Frage zu stellen.
Er hatte ihr Angst gemacht. Er war so unglaublich daneben gewesen. Sie hatte im Schuppen und nachher in der Küche mit ihm zu sprechen versucht, und er hatte ihr auch geantwortet - irgendwie jedenfalls -, aber er war trotzdem so abwesend gewesen, dass sie sich gefragt hatte, ob er nicht in die Psychiatrie gehörte. Vorübergehend wenigstens. Und prompt war sie sich daraufhin so unloyal vorgekommen, dass sie ihm nicht mehr ins Gesicht blicken konnte. Jedenfalls redete sie sich das ein, als sie später den ganzen Abend vor der Glotze saß und sich auf Sky TV alte Filme anschaute und dazu zwei große Tüten Cheddar-Popcorn verdrückte, die sie besser nicht angerührt hätte. Am Schluss war sie allein zu Bett gegangen und hatte sich die ganze Nacht herumgewälzt, wenn sie nicht gerade kinoreife Albträume gehabt hatte.
Nachdem sie also stundenlang in ihrer Wohnung herumgelaufen war, den Bund Stangensellerie aus dem Kühlschrank gekramt hatte, der ihr schlechtes Gewissen wegen des Käsepopcorns beruhigen sollte, und sich angeschaut hatte, wie sich Kilroy mit Frauen unterhielt, deren Ehemänner jung genug waren, um ihre Söhne und in zwei Fällen ihre Enkel sein zu können, ging sie nach oben, um nach Gideon zu sehen.
Sie fand ihn im Musikzimmer, wo er, den Rücken an die Wand gelehnt, auf dem Boden unter der Fensterbank hockte. Die Beine waren zur Brust hoch gezogen, und das Kinn ruhte auf den Knien. Er sah aus wie ein kleiner Junge, dem eben ein wütender Vater eine Strafpredigt gehalten hatte. Überall um ihn herum lagen Papiere, Fotokopien von Zeitungsberichten, die, wie sich zeigte, alle dasselbe Thema behandelten. Gideon war noch einmal im Pressearchiv gewesen.
Er beachtete sie nicht, als sie ins Zimmer kam. Er war völlig auf die Zeitungsausschnitte konzentriert, und sie fragte sich, ob er sie überhaupt hörte. Sie sprach ihn an, aber seine einzige Reaktion bestand darin, dass er begann, vor und zurück zu schaukeln.
Nervenzusammenbruch, dachte sie erschrocken. Total durchgedreht. So sah es auf jeden Fall aus. Es war das gleiche wie am vergangenen Tag, und auch er hatte offenbar die Nacht nicht geschlafen.
»Hey«, sagte sie leise. »Was ist, Gideon? Warst du noch mal unten in der Victoria Street? Warum hast du mir nichts davon gesagt? Ich wär mitgekommen.«
Sie musterte die Papiere, die im Halbkreis um ihn verstreut lagen, übergroße Blätter, auf denen kreuz und quer die Artikel abgelichtet waren. Die britischen Zeitungen waren - entsprechend der nationalen Tendenz zum Fremdenhass - gnadenlos über das Kindermädchen hergefallen. Wenn sie nicht verächtlich als »die Deutsche« bezeichnet wurde, dann als »die ehemalige Kommunistin, deren Familie unter dem Regime besonders gut lebte« - um nicht zu sagen, »verdächtig« gut, dachte Libby sarkastisch. Eine Zeitung hatte die sensationelle Neuigkeit ausgegraben, dass ihr Großvater der Nationalsozialistischen Partei angehört hatte, während eine andere eine Fotografie ihres Vaters in der Kleidung des Hitlerjungen aufgestöbert hatte.
Unfassbar war die unermüdliche Bereitschaft der Presse, eine Story bis ins letzte Detail auszuschlachten! Libby hatte den Eindruck, dass jeder, der nur im Entferntesten mit dem Tod der kleinen Sonia Davies, dem nachfolgenden Prozess und der Verurteilung der Mörderin zu tun gehabt hatte, von der Sensationspresse bis aufs kleinste Knöchelchen seziert worden war. Gideons Privatlehrerin hatte man ebenso unters Messer gelegt wie den Untermieter und Rafael Robson sowie Gideons Eltern und Großeltern. Und noch lange, nachdem das Urteil gesprochen war, hatte offenbar jeder Beliebige nur seine eigene Version der Geschichte an die Presse verkaufen müssen, wenn er ein bisschen Kohle machen wollte.
Es hatte Leute genug gegeben, die gemeint hatten, ihre Meinung dazu abgeben zu müssen. Die einen hatten das Leben eines Kindermädchens im Allgemeinen und im Besonderen kommentiert - »Wie ich als Kindermädchen durch die Hölle gegangen bin« -, und die anderen, die nicht über derartige Erfahrung verfügten, präsentierten bemerkenswerte Kenntnisse über die Deutschen, an denen sie die Öffentlichkeit teilhaben lassen wollten - »Eine Rasse für sich, sagt ehemaliger GI«. Vor allem aber fiel Libby die große Zahl jener Artikel auf, die sich darüber ausließen, dass Gideons Familie überhaupt ein Kindermädchen für die kleine Sonia engagiert hatte.
Dabei wurde von mehreren Standpunkten aus argumentiert: Die eine Gruppe ritt darauf herum, was dem deutschen Kindermädchen bezahlt worden war (ein Hungerlohn, kein Wunder also, dass sie die arme Kleine am Ende abgemurkst hatte, wahrscheinlich in einem Anfall von Wut und Frust) und was im Vergleich dazu eine, wie es hieß, »gut ausgebildete schottische Kinderfrau« bekam (ein Vermögen, wie Libby feststellte, die daraufhin sogleich über einen Berufswechsel nachdachte), wobei sie ihre bösartigen Artikel so abfassten, dass der Anschein erweckt wurde, die Familie Davies hätte das junge Mädchen schamlos ausgenützt. Eine andere Gruppe stellte Mutmaßungen darüber an, wem es überhaupt diente, wenn eine Mutter beschloss, »Arbeit außer Haus anzunehmen«. Und wieder andere Leute befassten sich mit der Frage, wie es sich auf die Erwartungen, das Maß der Verantwortung und die Hingabe der Eltern auswirkte, wenn eine Familie mit den Belastungen fertig werden musste, die ein behindertes Kind mit sich brachte. Erbittert wurde darüber gestritten, wie Eltern eines Down-Syndrom-Kindes sich verhalten sollten, und sämtliche Möglichkeiten, mit solchen Kindern umzugehen, wurden eingehend erörtert: man sollte sie zur Adoption frei geben; auf Staatskosten betreuen lassen; ihnen sein Leben weihen; mit der Situation umgehen lernen, indem man sich bei entsprechenden Institutionen Hilfe holte; sich einer Selbsthilfegruppe anschließen; durchhalten und sich nicht unterkriegen lassen; das Kind genauso behandeln wie jedes andere, und so weiter und so fort.
Libby wurde sich bewusst, dass sie sich nicht einmal annähernd vorstellen konnte, wie es gewesen war, als die kleine Sonia Davies gestorben war. Es musste schwer genug gewesen sein, mit der Situation fertig zu werden, als das Kind geboren worden war, aber es zu lieben - denn ganz bestimmt hatten alle die Kleine geliebt! - und dann zu verlieren und aushaken zu müssen, dass jede Einzelheit seines Lebens und des Lebens seiner Familie der Öffentlichkeit zum Zeitvertreib preisgegeben wurde… Wahnsinn, dachte Libby. Wie soll man mit so was umgehen?
Leicht war es bestimmt nicht. Man brauchte ja nur Gideon anzuschauen. Er hatte jetzt seine Haltung geändert. Seine Stirn ruhte auf den Knien, und er wiegte sich weiter vor und zurück.
»Gideon«, sagte sie, »ist alles in Ordnung?«
»Jetzt, wo ich mich erinnere, will ich mich nicht erinnern«, antwortete er nuschelnd. »Ich will nicht denken. Aber ich kann nicht aufhören. Weder mit dem Erinnern noch mit dem Denken. Am liebsten würde ich mir das Gehirn aus dem Schädel reißen.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Libby teilnahmsvoll. »Warum schmeißen wir nicht den ganzen Krempel hier in den Müll? Hast du denn in der Nacht nichts anderes getan, als dieses Zeug zu lesen?« Sie bückte sich und schickte sich an, die Papiere einzusammeln. »Kein Wunder, dass du ganz besessen davon bist, Gid.«
Er hielt sie am Handgelenk fest. »Nein! Nicht!«
»Aber wenn du nicht denken willst -«
»Nein! Ich habe das alles gelesen, und ich kann nicht verstehen, wie man danach noch weiterleben konnte, weiterleben wollte… Sieh es dir doch bloß an, Libby. Sieh es dir an!«
Libby senkte den Blick auf die Papiere und sah sie, wie Gideon sie gesehen haben musste, als er unversehens auf sie gestoßen war, nachdem er zwanzig Jahre lang vor dem Wissen beschützt worden war, was seine Eltern damals durchgemacht hatten. Sie sah die kaum verhüllten Angriffe auf seine Eltern in dem Licht, in dem er sie sehen musste, und zog aus dem, was die Zeitungen gedruckt hatten, die Schlussfolgerung, die er zweifellos bereits gezogen hatte: Seine Mutter hatte wegen dieser Kampagne die Familie verlassen; sie war gegangen und niemals zurückgekehrt, weil sie zu glauben begonnen hatte, sie sei die Rabenmutter, als die die Zeitungen sie hingestellt hatten. Gideon schien endlich seiner eigenen Geschichte nahe zu kommen. Kein Wunder, dass er das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Das alles wollte sie ihm sagen, als er unvermittelt aufstand. Er machte zwei Schritte, dann blieb er schwankend stehen. Sie sprang auf und nahm ihn beim Arm.
»Ich muss zu Cresswell-White«, sagte er.
»Dem Anwalt?«
Er schob eine Hand in die Tasche und zog seine Wagenschlüssel heraus, während er bereits zur Tür eilte. Libby lief ihm nach. Sie konnte ihn in diesem Zustand nicht allein quer durch London fahren lassen. An der Haustür riss sie seine Lederjacke vom Garderobenständer und folgte ihm den Bürgersteig entlang zu seinem Wagen. Als er mit der zitternden Hand eines Greises versuchte, den Schlüssel ins Türschloss zu schieben, warf sie ihm die Jacke um die Schultern und sagte: »Du fährst nicht. Du würdest ja nicht mal bis zum Regent's Park kommen.«
»Ich muss zu Cresswell-White.«
»Ja, gut. Meinetwegen. Aber ich fahre.«
Unterwegs sprach er kein Wort. Er saß nur da und starrte unbewegt geradeaus, während seine Knie wie im Krampf gegeneinander schlugen.
Sobald Libby den Wagen vor den ehrwürdigen alten Gebäuden des Temple anhielt, sprang er hinaus und eilte die Straße hinunter. Sie sperrte das Auto ab und rannte hinter ihm her. Am Ende der Straße, als er die Fahrbahn überquerte, um die heiligen Hallen zu betreten, holte sie ihn ein.
Sie gingen denselben Weg wie schon einmal zu dem Gebäude aus Klinker und hellem Stein, das am Rand eines kleinen Parks stand. Sie betraten das Haus durch denselben schmalen Torweg, wo an der Wand auf schwarzen Holzleisten in Weiß die Namen der Anwälte standen, die hier ihre Kanzlei hatten.
Sie mussten sich gedulden, ehe der Terminkalender Cresswell-White erlaubte, sie zu empfangen. Schweigend saßen sie auf dem schwarzen Ledersofa und starrten abwechselnd den Perserteppich und den Messinglüster an. Durch die Türen rundum hörten sie gedämpft das Klingeln von Telefonen. Dem Wartebereich gegenüber war ein Büro, in dem die Anrufe in Empfang genommen und weitergeleitet wurden.
Nachdem sich Libby vierzig Minuten lang mit der lebenswichtigen Frage herumgeschlagen hatte, ob die imposante alte Eichentruhe im Empfangsraum zur Aufbewahrung von Nachttöpfen diente, hörte sie jemanden »Gideon« sagen und blickte hoch. Bertram Cresswell-White hatte sich persönlich bemüht, sie in sein Zimmer zu bitten. Anders als bei ihrem letzten Besuch - der angemeldet gewesen war - wurde diesmal kein Kaffee serviert. Aber das künstliche Feuer im offenen Kamin brannte und nahm dem Raum etwas von seiner klammen Kühle.
Der Anwalt hatte offenbar gerade intensiv an irgendetwas gearbeitet; der Computer war noch eingeschaltet, der Bildschirm zeigte eine Seite maschinengeschriebenen Texts, und auf dem Schreibtisch lagen mehrere aufgeschlagene Bücher und ein Stapel ziemlich angestaubter Akten. In einem der geöffneten Ordner lag die Schwarzweiß-Fotografie einer Frau - blond, mit kurz gestutztem Haar, unreinem Teint und einem Gesichtsausdruck, als wollte sie sagen: Legt euch bloß nicht mit mir an.
Gideon sah das Bild und fragte: »Haben Sie vor, sie herauszuholen?«
Cresswell-White klappte den Hefter zu und wies sie zu den Klubsesseln am Feuer.
»Wenn es nach mir gegangen wäre«, sagte er, »und wir andere Gesetze hätten, wäre sie gehängt worden. Sie ist ein Ungeheuer. Und ich habe mir das Studium von Ungeheuern zur Aufgabe gemacht.«
»Was hat sie denn getan?«, erkundigte sich Libby.
»Sie hat eine große Zahl von Kindern getötet und die Leichen im Moor verscharrt. Sie und ihr Freund haben die Kinder gefoltert und dabei Tonbandaufnahmen gemacht.«
Libby schluckte.
Cresswell-White sah bedeutungsvoll auf seine Uhr, schwächte diese Unhöflichkeit aber sogleich mit den Worten ab: »Ich habe vom Tod Ihrer Mutter gehört, Mr. Davies. Im Radio. Mein Beileid. Ich nehme an, Ihr Besuch bei mir hat damit zu tun. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich möchte ihre Adresse.« Gideon brachte es in einem Ton hervor, als hätte er seit der Abfahrt vom Chalcot Square an nichts anderes mehr gedacht.
»Wessen Adresse?«
»Sie müssen doch wissen, wo sie sich aufhält. Sie haben dafür gesorgt, dass sie hinter Schloss und Riegel kam. Man wird Sie unterrichtet haben, als sie entlassen wurde. Und ich weiß, dass sie auf freiem Fuß ist. Deswegen bin ich gekommen. Ich brauche ihre Adresse.«
Libby dachte: Moment mal, Gideon!
Cresswell-White reagierte ähnlich. Er zog die Brauen zusammen und sagte: »Sie wollen von mir Katja Wolffs Adresse haben?«
»Sie haben sie doch, oder nicht? Sie müssen sie haben. Man hat sie bestimmt nicht frei gelassen, ohne Ihnen mitzuteilen, was sie vorhatte.«
»Wozu wollen Sie die Adresse? Ich sage übrigens nicht, dass ich sie habe.«
»Sie hat etwas gut.«
Libby dachte: Also, das ist echt der Wahnsinn! Leise, aber, wie sie hoffte, mit Nachdruck, sagte sie: »Gideon! Das ist doch Sache der Polizei.«
»Sie ist jetzt frei«, sagte Gideon zu Cresswell-White, als hätte Libby nicht gesprochen. »Sie ist frei, und sie hat etwas gut. Wo ist sie?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Cresswell-White beugte sich vor, als wollte er nach Gideon greifen. »Ich weiß, wie schwer Sie gelitten haben, und ich kann mir vorstellen, dass Sie sich bis heute nicht von dem erholt haben, was sie Ihnen angetan hat. Die Zeit, die sie im Gefängnis verbracht hat, konnte Ihr Leiden natürlich nicht lindern.«
»Ich muss sie finden«, erklärte Gideon. »Es ist der einzige Weg.«
»Nein. Hören Sie mir zu. Das ist der falsche Weg. Ich weiß, es fühlt sich richtig an, und ich kenne selbst das Gefühl: Wenn Sie könnten, würden Sie mit einem Sprung in die Vergangenheit zurückkehren und sie schon vorher in Stücke reißen, nur um zu verhindern, dass sie Ihrer Familie das antun, was sie ihr angetan hat. Aber Sie würden dadurch so wenig gewinnen wie ich, wenn ich den Spruch der Geschworenen höre und weiß, dass ich gesiegt habe, aber in Wirklichkeit verloren, weil ein totes Kind durch nichts wieder zum Leben erweckt werden kann. Eine Frau, die das Leben eines Kindes nimmt, ist das schlimmste Ungeheuer überhaupt, weil sie Leben schenken könnte, wenn sie nur wollte. Und Leben zu nehmen, wenn man Leben schenken kann, ist ein besonders perverses Verbrechen, für das es niemals eine angemessene Strafe geben wird. Nicht einmal der Tod ist ausreichend.«
»Es muss eine Wiedergutmachung stattfinden«, sagte Gideon. Er schien weniger eigensinnig als verzweifelt. »Meine Mutter ist tot, verstehen Sie denn nicht? Es muss eine Wiedergutmachung geben, das ist der einzige Weg. Ich habe keine Wahl.«
»Doch«, entgegnete Cresswell-White, »Sie haben eine. Sie können sich dafür entscheiden, dieser Frau nicht auf dem Niveau zu begegnen, auf dem sie sich bewegt. Sie können sich dafür entscheiden zu glauben, was ich Ihnen sage, denn es gründet auf jahrzehntelanger Erfahrung. Es gibt keine Vergeltung für ein solches Verbrechen. Nicht einmal die Todesstrafe wäre angemessen, Gideon.«
»Sie verstehen mich nicht.«
Gideon schloss die Augen, und einen Moment lang glaubte Libby, er würde zu weinen anfangen. Sie wollte verhindern, dass er zusammenbrach und sich noch tiefer demütigte vor diesem Mann, der ihn nicht kannte und daher nicht wissen konnte, was er in den letzten zwei Monaten durchgemacht hatte. Aber sie wollte auch die Wogen glätten; denn wenn, so unwahrscheinlich das war, dieser Katja Wolff in den nächsten Tagen etwas zustoßen sollte, würde man nach diesem interessanten kleinen Gespräch mit Cresswell-White sich garantiert Gideon als Ersten vornehmen. Natürlich würde Gideon niemals wirklich etwas tun. Er redete nur, er brauchte einfach irgendetwas, woran er sich festhalten konnte, um nicht das Gefühl aushalten zu müssen, dass sein ganzes Leben in die Brüche ging.
Leise sagte Libby zu dem Anwalt: »Er war die ganze Nacht auf. Und wenn er mal schläft, dann hat er fürchterliche Albträume. Er hat sie nämlich gesehen, wissen Sie, und -«
Cresswell-White fuhr in die Höhe. »Katja Wolff? Hat sie sich bei Ihnen gemeldet, Gideon? Die Bewährungsauflagen verbieten ihr, mit Angehörigen Ihrer Familie Kontakt aufzunehmen. Wenn sie gegen sie verstoßen hat, können wir dafür sorgen -«
»Nein, nein. Seine Mutter«, unterbrach Libby. »Er hat seine Mutter gesehen. Aber er wusste nicht, dass sie es war, weil er sie seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte. Und das macht ihn total fertig, seit er gehört hat, dass sie - na ja, Sie wissen schon, dass sie umgebracht worden ist.« Sie warf einen vorsichtigen Blick auf Gideon. Er hatte die Augen immer noch geschlossen und schüttelte den Kopf, als wollte er alles verneinen, was ihn soweit getrieben hatte, einen Anwalt, den er nicht kannte, aufzufordern und zu bitten, seinetwegen seine Schweigepflicht zu verletzen. Libby wusste, dass es dazu nicht kommen würde. Nie im Leben würde Cresswell- White diese Frau, diese Katja Wolff, an Gideon ausliefern und damit Kopf und Kragen riskieren. Gott sei Dank. Das fehlte gerade noch, dass Gideon die Frau in die Hände bekam, die seine Schwester getötet hatte und vielleicht auch seine Mutter; dann würde er sein Leben endgültig verpfuschen.
Aber Libby wusste, wie ihm zumute war, oder glaubte jedenfalls, es zu wissen. Gideon meinte, er hätte seine Chance auf Wiedergutmachung irgendeines Vergehens vertan, und zur Strafe wäre seine Musik ihm genommen worden. Das war doch im Grunde alles, worauf es hinauslief: auf diese Geige.
Cresswell-White sagte: »Gideon, Katja Wolff ist den Zeitaufwand nicht wert, den es kosten würde, sie ausfindig zu machen. Diese Frau hat nie Reue gezeigt, sie war sich eines Freispruchs so sicher, dass sie niemals auch nur den Versuch unternahm, ihr Verhalten zu verteidigen. Ihr Schweigen sagte klar: >Sollen die mir doch mal was nachweisenc, und erst als die Fakten sich häuften - als am Leichnam Ihrer Schwester die früheren Verletzungen entdeckt wurden, die unbehandelt geblieben waren - und sie das Urteil hörte, hielt sie es für angebracht, etwas zu ihrer Verteidigung vorzubringen. Stellen Sie sich das doch einmal vor. Stellen Sie sich vor, was das für ein Mensch sein muss, der nach dem Tod eines Kindes, das seiner Fürsorge anvertraut war, hartnäckig jede Zusammenarbeit verweigert und nicht einmal zur Beantwortung der simpelsten Fragen bereit ist. Nach ihrer ersten Aussage vor der Polizei hat sie nicht eine Träne vergossen. Und sie wird auch jetzt nicht weinen. Das können Sie nicht von ihr erwarten. Sie ist nicht wie wir. Menschen, die Kinder quälen, sind niemals wie wir.«
Libby beobachtete Gideon mit ängstlicher Aufmerksamkeit, während Cresswell-White sprach. Sie hoffte auf ein Zeichen, dass die Worte des Anwalts irgendeinen Eindruck bei ihm hinterließen. Aber er verursachte bei ihr nur ein Gefühl wachsender Verzweiflung, als er die Augen öffnete, aufstand und zu sprechen begann.
Als hätte er Cresswell-Whites Worte nicht verstanden, sagte er:
»Es ist ganz einfach so: Ich war ahnungslos, aber jetzt habe ich begriffen. Und ich muss sie finden.« Damit ging er zur Tür und griff sich dabei mit den Händen an die Stirn, als wollte er tun, was er vorher zu Libby gesagt hatte: sich das Gehirn aus dem Schädel reißen.
»Es geht ihm nicht gut«, sagte Cresswell-White zu Libby.
Worauf sie erwiderte: »Was Sie nicht sagen«, und Gideon nacheilte.
Raphael Robsons Haus in Gospel Oak lag ein Stück zurückgesetzt von einer stark belebten Straße des Viertels. Es entpuppte sich als ein imposanter, aber heruntergekommener Bau Edwardianischen Stils, der dringend der Renovierung bedurfte. Der mit Kies bedeckte Vorgarten war von einer Eibenhecke umgeben und diente als Parkplatz. Als Lynley und Nkata eintrafen, standen drei Fahrzeuge vor dem Haus: ein schmutziger weißer Lieferwagen, ein schwarzer Vauxhall und ein silbergrauer Renault. Lynley registrierte mit einem Blick, dass der Vauxhall nicht alt genug war, um das von ihnen gesuchte Fahrzeug sein zu können.
Ein Mann kam von hinten um das Haus herum, als sie auf dem Weg zur Haustür waren. Er hielt auf den Renault zu, ohne sie zu bemerken. Als Lynley ihn ansprach, blieb er stehen, in der Hand schon die Schlüssel, um den Wagen aufzusperren.
Ob er Raphael Robson sei?, fragte Lynley und zeigte seinen Dienstausweis.
Der Mann mit dem aschblonden, schütteren Haar, das in langen, lichten Strähnen nach rechts über den kahlen Schädel gekämmt war, hatte wenig Anziehendes. Seine Haut war fleckig von zu vielen Urlaubstagen an den hochsommerlichen Stranden des Mittelmeers, und seine Schultern waren bedeckt mit Schuppen. Er warf einen kurzen Blick auf Lynleys Ausweis und sagte, ja, er sei Raphael Robson.
Lynley stellte Nkata vor und fragte, ob man irgendwo in Ruhe miteinander sprechen könne, ohne vom Lärm der Autos gestört zu werden, die jenseits der Hecke vorbeibrausten. Aber ja, selbstverständlich, versicherte Robson. Wenn sie ihm folgen wollten.
»Die vordere Tür ist völlig verzogen«, erklärte er. »Wir haben noch keine neue angeschafft. Wir müssen hinten herum gehen.«
Robson führte sie auf einem mit Backsteinen gepflasterten Fußweg in einen ziemlich großen, verwilderten Garten mit wucherndem Unkraut, überall ehemalige Blumenrabatten, die schon lange nicht mehr gepflegt wurden, und mit Bäumen, die seit Jahren nicht mehr beschnitten worden waren. Die feuchten Herbstblätter unter ihren Füßen vermischten sich mit dem verrotteten Laub früherer Jahre zu einer dicken Mulchdecke. Mitten in dieser Szenerie des Verfalls stand ein offensichtlich neu errichteter Bau.
Robson, der sah, wie Lynley und Nkata das Gebäude musterten, sagte: »Das war unser erstes Projekt. Wir machen Möbel da drinnen.«
»Sie schreinern?«
»Wir restaurieren. Das Haus kommt auch noch dran. Wir verkaufen die restaurierten Möbel und sorgen so für ein gewisses Grundkapital, mit dem wir arbeiten können. Ein Haus wie dieses hier zu renovieren« - ein Nicken zu dem beeindruckenden alten Gebäude - »kostet ein Vermögen. Immer wenn wir genug zusammengespart haben, nehmen wir einen Raum in Angriff. Es dauert ewig, aber hier hat's keiner eilig. Und wenn man gemeinsam an so einem Projekt arbeitet, entwickelt sich eine gewisse Kameradschaft, die sehr angenehm ist.«
Das Wort Kameradschaft verwunderte Lynley. Er hatte geglaubt, wenn Robson »wir« sagte, bezöge sich das auf seine Familie. Aber wenn der Mann von Kameradschaft sprach, bedeutete das etwas anderes. Er dachte an die Fahrzeuge, die er vor dem Haus gesehen hatte, und sagte: »Dann ist das hier eine Wohngemeinschaft?«
Robson sperrte die Tür auf. Dahinter befand sich ein Flur mit einer langen Holzbank an der einen Wand, unter der sauber aufgereiht Gummistiefel standen. An Haken darüber hingen Jacken und Mäntel.
»Das klingt ein bisschen sehr nach Hippie-Ära«, sagte er. »Aber, ja, ich denke, man könnte von einer Wohngemeinschaft sprechen. Vor allem ist es aber eine Interessengemeinschaft.«
»Und welches sind die gemeinsamen Interessen?«
»Musizieren und die Renovierung dieses Hauses, damit wir alle es nutzen und genießen können.«
»Nicht das Restaurieren von Möbeln?«, fragte Nkata.
»Das ist nur Mittel zum Zweck. Musiker verdienen nicht so viel Geld, dass sie sich ganz ohne Nebeneinkünfte eine Renovierung dieser Größenordnung erlauben könnten.«
Er ließ ihnen den Vortritt ins Haus, zog die Tür hinter ihnen zu und schloss gewissenhaft ab.
»Bitte, kommen Sie.« Er führte sie in einen großen muffigen Raum, früher vielleicht ein Speisezimmer, jetzt eine Kombination aus Zeichensaal, Lagerraum und Büro. Die Tapete oben an den Wänden war voller Stockflecken, die Holztäfelung unten herum zerschrammt. Auch ein Computer gehörte zur Einrichtung, und Lynley stellte sogleich fest, dass er mit einem Telefonanschluss versehen war.
Er sagte: »Wir haben Sie mit Hilfe der Nachricht ausfindig gemacht, die Sie auf dem Anrufbeantworter einer Frau namens Eugenie Davies hinterlassen haben, Mr. Robson. Vor vier Tagen. Abends um zwanzig Uhr fünfzehn.«
Nkata, der neben Lynley stand, zog sein in Leder gebundenes Protokollheft und seinen Drehbleistift heraus. Robson sah zu, wie er einen Millimeter der Mine herausdrehte, dann trat er zu einem Arbeitstisch, auf dem eine Anzahl Blaupausen übereinander ausgebreitet lag. Er strich mit der Hand glättend über den obersten Bogen, als beabsichtigte er, ihn genauer zu betrachten, und sagte nur: »Ja.«
»Wissen Sie, dass Mrs. Davies vor drei Tagen abends ermordet wurde?«
»Ja.« Er sprach leise. Unwillkürlich griff er nach einer Blaupause, die noch zusammengerollt war, und schnippte mit dem Daumen an dem Gummiband. »Richard Davies hat es mir gesagt.« Er hob den Kopf und sah Lynley an. »Er war gerade bei seinem Sohn, um es ihm mitzuteilen, als ich zu unserer täglichen Sitzung kam.«
»Sitzung?«
»Ich bin Geigenlehrer. Gideon Davis ist seit seiner Kindheit mein Schüler. Jetzt braucht er natürlich keinen Unterricht mehr. Aber wir musizieren täglich drei Stunden zusammen, wenn er nicht gerade probt oder Plattenaufnahmen macht. Sie haben doch sicher von ihm gehört.«
»Ich dachte, er hätte schon seit mehreren Monaten nicht mehr gespielt.«
Wieder wollte Robsons Hand zu einem der Entwürfe wandern, aber dann zog er sie plötzlich zurück. Mit einem Seufzer sagte er:
»Nehmen Sie doch Platz, Inspector. Sie auch, Constable«, und kam zu ihnen. »Es ist in einer Situation wie der Gideons nicht nur wichtig, den Schein zu wahren, man muss auch so normal wie möglich weitermachen. Darum suche ich ihn weiterhin regelmäßig zu unseren täglichen Musikstunden auf, und wir hoffen, dass er mit der Zeit zu seinem Spiel zurückfinden wird.«
»Wir?« Nkata sah fragend auf.
»Richard Davies und ich. Gideons Vater.«
Irgendwo im Haus begann jemand ein Scherzo zu spielen. Ein Strom lebhafter Töne perlte von den Saiten eines Cembalos, so klang es zunächst, dann aber sprang das Timbre der Töne plötzlich um auf die dunklere Oboe, und gleich darauf klang es wie Flötentrillern durchs Haus. Zu gleicher Zeit steigerte sich die Klangfülle, und das rhythmische Dröhnen mehrerer Schlaginstrumente setzte ein.
Robson ging zur Tür, machte sie zu und sagte: »Entschuldigen Sie. Janet ist völlig fasziniert von dem elektronischen Keyboard. Es begeistert sie, was man mit einem Computerchip alles machen kann.«
»Und Sie?«, fragte Lynley.
»Ich habe nicht das Geld für ein Keyboard.«
»Ich meine eigentlich die Computerchips, Mr. Robson. Benutzen Sie diesen Computer? Er hat einen Telefonanschluss, wie ich sehe.«
Robsons Blick flog zu dem Gerät. Er ging durch das Zimmer, zog unter der Spanplatte, die von Böcken getragen als Arbeitstisch diente, einen Stuhl hervor und setzte sich. Lynley und Nkata nahmen sich zwei Klappstühle aus Metall, stellten sie so, dass sie mit Robsons Stuhl ein Dreieck vor dem Computer bildeten, und setzten sich ebenfalls.
»Den benutzen wir alle«, sagte Robson.
»Für Mails? Zum Chatten? Zum Surfen im Internet?«
»Ich benutze ihn hauptsächlich zum Mailen. Meine Schwester lebt in Los Angeles, mein Bruder in Birmingham und meine Eltern haben ein Haus an der Costa del Sol. Da ist das die einfachste Art, Kontakt zu halten.«
»Wie lautet die Adresse?«
»Warum?«
»Neugier«, antwortete Lynley.
Robson nannte ihm mit verwunderter Miene die Adresse, und Lynley hörte, was er beim Anblick des Computers vermutet hatte. Jete war Robsons OnlineName, also Teil seiner E-Mail-Adresse.
»Ich habe den Eindruck, es gab Probleme zwischen Ihnen und Mrs. Davies«, sagte er zu Robson. »Ihre Nachricht auf dem Anrufbeantworter klang sehr erregt, und die letzte E-Mail, die sie ihr geschickt haben, wirkte beinahe verzweifelt. Sie schrieben, Sie müssten sie unbedingt sehen. Hatte es zwischen Ihnen ein Zerwürfnis gegeben?«
Robson drehte sich auf seinem Schreibtischstuhl und starrte auf den leeren Bildschirm des Computers, als könnte er dort noch einmal seinen letzten Brief an Eugenie Davies lesen. Wie zu sich selbst sagte er: »Sie überprüfen natürlich jede Einzelheit. Das versteht sich.« Dann fuhr er in normalem Ton fort: »Wir waren ziemlich verstimmt auseinander gegangen. Ich hatte Dinge gesagt…« Er zog ein Taschentuch heraus und drückte es an seine schweißfeuchte Stirn. »Ich wollte mich bei ihr entschuldigen. Schon als ich aus dem Lokal weg ging - und ich war wirklich wütend, das gebe ich gern zu -, hatte ich nicht etwa den Gedanken im Kopf, so, das war's jetzt, mit dieser Frau bin ich fertig, ein für allemal, sie ist ja völlig blind und uneinsichtig, ich will mit ihr nichts mehr zu tun haben. Mir ging etwas ganz Anderes durch den Kopf. Ich dachte, mein Gott, sie sieht so elend aus, sie ist dünner denn je, wieso will sie einfach nicht sehen, was das bedeutet.«
»Was denn?«, fragte Lynley.
»Dass sie die Entscheidung einzig mit dem Verstand getroffen hatte. Sie erschien ihr wahrscheinlich ganz vernünftig, aber ihr Körper rebellierte dagegen. Wahrscheinlich wollte ihre - ach, ich weiß auch nicht - ihre Seele ihr damit sagen, sie solle endlich Schluss machen und die Dinge nicht noch weiter treiben. Man konnte das innere Aufbegehren sehen. Glauben Sie mir, man konnte es wirklich sehen. Sie vernachlässigte sich. Aber das war es nicht allein. So hatte sie damals, vor Jahren, auch schon reagiert. Sie war früher eine schöne Frau, aber wenn man sie später sah, besonders in den letzten Jahren, hätte man nie geglaubt, dass sich früher die Männer auf der Straße nach ihr umdrehten.«
»Was für eine Entscheidung hatte sie denn getroffen, Mr. Robson?«
»Kommen Sie einen Augenblick mit«, sagte Robson, statt eine Antwort zu geben. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Auf dem Weg, den sie gekommen waren, führte er sie in den Garten hinaus. Er ging direkt auf das Häuschen zu, in dem, wie er berichtet hatte, die Hausbewohner ihre Restaurierungsarbeiten machten.
Der Bau bestand aus einem einzigen großen Raum, in dem alte, zum Teil arg mitgenommene Möbelstücke in unterschiedlichen Stadien der Wiederherstellung herumstanden. Es roch durchdringend nach Sägemehl, Terpentin und Holzbeize, und über allem lag wie ein feiner Schleier eine Patina aus Schmirgelstaub. Fußabdrücke zogen sich kreuz und quer über den schmutzigen Boden, von einer Werkbank, über der eine Garnitur frisch gereinigter Werkzeuge blinkte, zu einem dreibeinigen alten Schrank, der, bis auf das blanke Walnussholz abgeschmirgelt und aller Innereien entleert, auf die nächste Phase der Verjüngung wartete.
»Ich will Ihnen sagen, was ich vermute«, begann Robson. »Sagen Sie mir dann, wie nahe ich der Realität bin. Ich habe einen Schrank für sie restauriert. Aus Kirschholz. Ein sehr schönes Stück. Etwas ganz Besonderes, das man nicht alle Tage sieht. Ich habe ihr außerdem eine Kommode hergerichtet, frühes achtzehntes Jahrhundert. Eiche. Und einen Waschtisch. Viktorianisch. Ebenholz mit einer Marmorplatte. Einer der Schubladenknöpfe fehlt, aber man würde ihn gar nicht ersetzen wollen, weil man keinen entsprechenden finden würde. Außerdem verleiht dieser kleine Mangel dem Stück zusätzlich Charakter. Für den Schrank habe ich am längsten gebraucht, denn wenn man so ein altes Stück, das hoffnungslos verwahrlost scheint, restauriert, dann will man es auch perfekt machen. Ich habe sechs Monate gebraucht, ehe ich den Schrank so hatte, wie ich ihn haben wollte, und hier« - er wies mit dem Kopf zum großen Haus - »war keiner besonders erfreut darüber, dass ich mich so lange mit einem Stück beschäftigte, das uns überhaupt nichts einbrachte.«
Lynley hörte sich das alles mit gerunzelter Stirn an und versuchte, während Robson, wie ihm schien, um den heißen Brei herumredete, zwischen den Zeilen zu lesen. »Es kam zwischen Ihnen und Mrs. Davies zu einem Zerwürfnis«, sagte er. »Dabei ging es um eine Entscheidung, die sie getroffen hatte. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ihre Entscheidung etwas mit dem Verkauf von Möbelstücken zu tun hatte, die Sie für sie restauriert hatten. Habe ich Recht?«
Robsons Schultern sanken ein wenig herab. Insgeheim hatte er vielleicht gehofft, Lynley würde nicht bestätigen, was er vermutet hatte. Den Blick auf das Taschentuch gesenkt, das er noch in der Hand hielt, sagte er: »Sie hat sie also nicht behalten? Sie hat keines der Stücke behalten, die ich ihr geschenkt habe, sondern alle verkauft und den Erlös irgendwelchen wohltätigen Einrichtungen gegeben. Vielleicht hat sie auch gleich die Möbelstücke selbst verschenkt. Jedenfalls hat sie, wie ich Ihren Worten entnehme, nicht eines für sich behalten.«
»In dem Haus in Henley waren keinerlei Antiquitäten, falls das Ihre Frage sein sollte«, sagte Lynley. »Das Mobiliar war-«
Er suchte nach dem passenden Wort, um die Einrichtung von Eugenie Davies' Haus zu charakterisieren. »Spartanisch«, sagte er.
»Ja, sie lebte wahrscheinlich wie eine Nonne«, meinte Robson bitter. »Das war die Strafe, die sie sich selbst auferlegt hatte. Aber es hat noch nicht gereicht. Sie wollte noch weiter gehen.«
»Und wie hätte das ausgesehen?« Nkata hatte keine Aufzeichnungen mehr gemacht, als Robson begonnen hatte, die Möbelstücke zu beschreiben, die er Eugenie Davies geschenkt hatte. Jetzt aber versprach es wieder interessant zu werden.
»Ich spreche von Wiley«, erklärte Robson. »Von dem Mann mit der Buchhandlung. Sie war seit mehreren Jahren mit ihm befreundet, und nun meinte sie, es wäre an der Zeit…«
Robson steckte sein Taschentuch ein und richtete seine Aufmerksamkeit auf den schief stehenden Schrank. Lynley konnte sich nicht vorstellen, dass an diesem dreibeinigen Wrack, dessen Rücken ein klaffendes Loch aufwies, so als wäre ihm jemand mit der Axt zu Leibe gerückt, noch etwas zu retten war.
»Sie wollte ihn heiraten, falls er ihr einen Antrag machte. Sie erklärte, sie glaube - sie spüre es, sagte sie, intuitiv, Herrgott noch mal! -, dass das anstehe. Ich sagte, wenn ein Mann nicht ein Mal den Versuch gemacht habe - in drei Jahren nicht ein einziges Mal Anstalten gemacht habe, sich ihr zu nähern… Ich spreche hier nicht von Gewalt oder Aufdringlichkeit, sondern lediglich… Er hatte überhaupt nicht versucht, ihr nahe zu kommen. Er hatte noch nicht einmal mit ihr darüber gesprochen, warum er es nicht versucht hatte. Sie begnügten sich beide mit ihren Ausflügen, ihren kleinen Spaziergängen, ihren armseligen Seniorenbusreisen… Ich wollte ihr nur sagen, dass das nicht normal sei. Ich meine, so etwas ist doch blutleer, wenn sie daraus einen Dauerzustand machen wollte, wenn sie sich tatsächlich mit ihm verheiraten und sich damit gewissermaßen selbst aus dem Rennen nehmen wollte…« Robson ging die Luft aus. Seine Augen röteten sich. »Aber wahrscheinlich wollte sie eben genau das. Mit einem Menschen zusammenleben, der ihr nichts geben konnte, nichts von dem, was ein Mann einer Frau geben kann, die ihm alles bedeutet.«
Lynley betrachtete Robson aufmerksam, während dieser redete, und sah, wie unglücklich er war. »Wann haben Sie Mrs. Davies das letzte Mal gesehen?« fragte er.
»Vor vierzehn Tagen. Am Donnerstag.«
»Wo?«
»In Marlow. Im Swan and Three Roses. Das ist ein Lokal am Stadtrand.«
»Und danach haben Sie sich nicht wieder getroffen? Haben Sie noch einmal mit ihr gesprochen?«
»Zweimal. Am Telefon. Ich wollte mich - ich hatte ziemlich heftig reagiert, als sie mir das mit Wiley gesagt hatte, und das war mir auch klar. Ich wollte mich mit ihr versöhnen. Aber es wurde nur schlimmer, weil ich trotzdem wieder mit ihr darüber sprechen wollte, über ihn und darüber, dass er in den drei Jahren kein Mal - nicht ein einziges Mal in drei Jahren… Doch das wollte sie nicht hören. >Er ist ein guter Mann, Raphaele, sagte sie immer wieder. >Und es ist jetzt an der Zeit.<«
»Was denn?«
Robson fuhr zu sprechen fort, als hätte Nkata nicht gefragt, als wäre er selbst ein stummer Cyrano, der lange auf eine Gelegenheit gewartet hatte, seinem Herzen Luft zu machen. »Ich fand auch, dass es an der Zeit sei«, fuhr er fort. »Sie hatte sich jahrelang bestraft. Sie war nicht im Gefängnis, aber sie lebte wie in einem Gefängnis. Sie lebte beinahe wie in Einzelhaft, in absoluter Selbstverleugnung, umgab sich mit Leuten, mit denen sie nichts gemeinsam hatte, und übernahm freiwillig die unangenehmsten Aufgaben. Und das alles tat sie, um zu bezahlen. Um zu büßen.«
»Aber wofür denn?« Nkata, der die ganze Zeit an der offenen Tür gestanden hatte, als wollte er seinen guten anthrazitgrauen Flanellanzug vor dem Staub schützen, der hier drinnen in der Luft hing, trat jetzt einen Schritt näher an Robson heran und sah Lynley an. Der deutete mit einer kurzen Handbewegung an, dass sie abwarten sollten, bis Robson aus eigenem Antrieb sprach. Ihr Schweigen war als Instrument so nützlich wie seines enthüllend.
Schließlich sagte Robson: »Eugenie konnte Sonia nicht gleich die Liebe geben, die sie dem Kind ihrer Meinung nach hätte geben müssen. Sie war einfach erschöpft von der Entbindung. Es war eine schwere Geburt gewesen, und zunächst wollte sie nur Ruhe, um sich zu erholen. Es ist doch nichts Unnatürliches, wenn eine Frau so lange in den Wehen gelegen hat - dreißig Stunden! - und so ermattet ist, dass sie nicht einmal mehr die Kraft hat, ihr Neugeborenes in die Arme zu schließen. Das ist doch keine Sünde.«
»Sicher nicht«, sagte Lynley.
»Und sie haben ja auch nicht sofort festgestellt, was mit der Kleinen los war. Es gab natürlich gewisse Anzeichen, aber es war, wie gesagt, eine schwere Geburt gewesen. Sie kam nicht glatt und rosig zur Welt wie ein Filmbaby. Darum wurden die Ärzte erst aufmerksam, als sie sie untersuchten, und dann… Mein Gott, jeder wäre erst einmal schockiert gewesen von so einer Nachricht. Jeder hätte sich erst einmal mit der unerwarteten Situation auseinander setzen müssen, um sich auf sie einstellen zu können. So etwas braucht Zeit. Aber Eugenie meinte, bei ihr hätte es anders sein müssen, und das war ihr nicht auszureden. Sie meinte, sie hätte die Kleine sofort ins Herz schließen und augenblicklich wissen müssen, wie sie sich zu verhalten habe, was sie zu erwarten und wie sie zu sein hatte. Da ihr das nicht gelang, hasste sie sich. Und die Familie machte es ihr nicht leichter, das Kind zu akzeptieren, vor allem Richard Davies' Vater nicht - dieser Wahnsinnige -, der ein zweites Wunderkind erwartet hatte und nun, als ihm das Gegenteil beschert wurde… Ach, es war einfach zu viel für Eugenie! Sonias Probleme, Gideons Bedürfnisse - die täglich wuchsen, was kann man bei einem Wunderkind anderes erwarten? - die Tobsuchtsanfälle des verrückten alten Mannes, Richard Davies' zweites Versagen -«
»Sein zweites Versagen?«
»Es war sein zweites behindertes Kind. Er hatte schon eines. Aus einer früheren Ehe. Und als dieses zweite zur Welt kam… Es war für alle entsetzlich, aber Eugenie wollte nicht begreifen, dass es ganz normal war, zunächst entsetzt und zornig zu sein, Gott zu verfluchen und sich so zu verhalten, wie man sich eben verhalten muss, um mit einem Schicksalsschlag fertig zu werden. Stattdessen hörte sie auf ihren fürchterlichen Vater: >Gott spricht direkt zu uns. Es gibt kein Geheimnis in seiner Botschaft. Erforsche deine Seele und dein Gewissen, um in ihnen Gottes Handschrift zu lesen, Eugenie.< Das hat er ihr geschrieben. Ist das nicht Wahnsinn? Das war sein Segen und sein Trost zur Geburt dieses bedauernswerten Kindes. Und kein Mensch konnte ihr die Schuldgefühle und den Selbsthass ausreden. Die Nonne war auch keine Hilfe. Die sprach von Gottes Willen, als wäre die ganze Situation vorbestimmt. Eugenie müsse das Kind annehmen, ohne aufzubegehren. Sie dürfe Schmerz und Trauer in angemessener Weise empfinden, aber dann müsse sie sie hinter sich lassen und sich wieder dem Leben zuwenden. Und als das Kind dann starb - und wie es starb… Ich vermute, es hatte Augenblicke gegeben, in denen Eugenie sich sagte, lieber soll sie sterben, als so leben zu müssen, mit Ärzten und Operationen, Atemnot und Herzversagen, Magenproblemen, Schwerhörigkeit, kaum fähig, zu essen und zu verdauen - da soll sie doch lieber sterben. Und dann starb sie tatsächlich. Es war, als hätte jemand ihren Wunsch erhört, der in Wirklichkeit gar kein Wunsch war, sondern nur Ausdruck einer momentanen Hoffnungslosigkeit. Was hätte Eugenie da anderes empfinden können als Schuldgefühle? Und wie anders hätte sie büßen sollen als durch Selbstbestrafung?«
»Bis Major Wiley auf der Bildfläche erschien«, bemerkte Lynley.
»Vermutlich, ja.« Robsons Stimme klang dumpf. »Wiley bedeutete für sie einen Neuanfang. So jedenfalls hat sie es ihren eigenen Worten zufolge gesehen.«
»Und darüber haben Sie mit ihr gestritten.«
»Ich wollte mich ja entschuldigen«, sagte Robson. »Ich wollte unbedingt mit ihr Frieden schließen. Wir waren jahrelang befreundet gewesen, und ich konnte diese Freundschaft nicht vergessen, nur wegen Wiley. Das wollte ich ihr sagen. Das war alles.«
Lynley dachte an das, was er von Gideon und Richard Davies gehört hatte. »Sie hatte den Kontakt zur Familie vor langer Zeit abgebrochen, aber den zu Ihnen hat sie gehalten. Hatten Sie mal eine Liebesbeziehung mit Mrs. Davies, Mr. Robson?«
Tiefe Röte stieg Robson ins Gesicht, eine hässliche, flammende Röte, die auf seiner von der Sonne geschädigten Haut fleckig wirkte. »Wir haben uns zweimal im Monat getroffen«, sagte er nur.
»Wo?«
»In London oder auf dem Land. Wo immer sie es wünschte. Sie Nachricht von Gideon, und ich lieferte sie ihr. Das war alles, was mich mit Eugenie Davies verband.«
Die Pubs und Hotels in ihrem Terminkalender, dachte Lynley. Zweimal im Monat. Aber das ergab keinen Sinn. Ihre Treffen mit Robson entsprachen nicht dem Muster, nach dem sie ihr Leben gestaltet hatte. Wenn sie sich für die Sünde der menschlichen Verzweiflung hatte bestrafen wollen, für den heimlichen Wunsch - der ihr auf so entsetzliche Weise erfüllt worden war -, von den Mühen und Sorgen um ein behindertes Kind erlöst zu werden, warum hatte sie sich dann gestattet, Informationen über ihren Sohn einzuholen, durch die sie vielleicht getröstet und nicht allen Kontakts beraubt werden würde? Hätte sie sich das nicht auch verweigern müssen?
Irgendwo fehlte da ein Glied in der Kette. Und sein Instinkt sagte Lynley, dass Raphael Robson genau wusste, was es war.
»Zum Teil kann ich Mrs. Davies' Verhalten verstehen, Mr. Robson«, erklärte er, »aber manches finde ich verwirrend. Warum, zum Beispiel, hat sie den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen, jedoch mit Ihnen Verbindung gehalten?«
»Wie ich schon sagte: Das war ihre Art, sich zu bestrafen.«
»Für etwas, das sie gedacht hatte, ohne je im Sinne dieser Gedanken gehandelt zu haben?«
Es hätte Raphael Robson eigentlich ein Leichtes sein müssen, diese einfache Frage zu beantworten. Ja oder nein. Er hatte Eugenie Davies immerhin Jahre gekannt und hatte sich regelmäßig mit ihr getroffen. Aber er antwortete nicht, sondern nahm einen Hobel, der mit anderen Werkzeugen auf dem Arbeitstisch lag, und prüfte mit seinen langen, schlanken Musikerfingern die Klinge.
»Mr. Robson?«, sagte Lynley.
Robson trat zu einem Fenster, dessen Scheiben, von Staub überzogen, beinahe undurchsichtig waren. Er sagte: »Sie hatte ihr gekündigt. Es war Eugenies Entscheidung, und damit fing alles an. Darum gab sie sich die Schuld.«
Nkata sah auf. »Katja Wolff, meinen Sie?«
»Eugenie hat Katja damals entlassen«, erklärte Robson. »Wenn sie nicht so entschieden hätte… wenn es nicht zum Streit gekommen wäre . « Er machte eine vage Handbewegung. »Wir können keinen Moment unseres Lebens noch einmal leben. Wir können nichts ungesagt oder ungeschehen machen. Wir können nur die Scherben auflesen und versuchen, zu kitten, was zu kitten ist.«
Sicher wahr, dachte Lynley, aber dies waren Banalitäten, die sie der Wahrheit nicht einen Schritt näher brachten. »Beschreiben Sie die Zeit vor der Ermordung des Kindes, Mr. Robson«, sagte er.
»So, wie Sie sie in Erinnerung haben.«
»Warum? Was hat das -«
»Tun Sie mir einfach den Gefallen.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Es ist eine ziemlich armselige Geschichte. Katja Wolff ließ sich schwängern und war gesundheitlich nicht mehr sehr stabil. Sie litt morgens an starker Übelkeit und häufig auch mittags und abends. Sonia verlangte volle Aufmerksamkeit von jedem, der sich um sie kümmerte, aber die konnte Katja ihr nicht geben. Sie konnte nicht mehr essen, ohne alles gleich wieder zu erbrechen. Sie war jede Nacht wegen Sonia wach und versuchte, den verlorenen Schlaf nachzuholen, wann immer sich Gelegenheit bot. Aber sie schlief einmal zu oft, als sie eigentlich etwas anderes hätte tun sollen, und da hat Eugenie ihr gekündigt. Katja verlor die Nerven. Eines Abends war ihr die Kleine - Sonia - zu schwierig. Und da war es aus.«
»Haben Sie beim Prozess ausgesagt?«, fragte Nkata.
»Ja.«
»Gegen sie?«
»Ich habe nur berichtet, was ich gesehen hatte, wo ich gewesen war, und was ich wusste.«
»Für die Anklage?«
»Letztendlich ja, denke ich.« Robson trat von einem Fuß auf den anderen, während er auf die nächste Frage wartete. Nkata schrieb, Lynley sagte nichts. Als das Schweigen sich in die Länge zog, ergriff Robson noch einmal das Wort. »Gesehen hatte ich praktisch nichts«, erklärte er. »Ich hatte Gideon eine Aufgabe gestellt und wurde erst darauf aufmerksam, dass etwas nicht in Ordnung war, als Katja im Badezimmer zu schreien begann. Sofort lief das ganze Haus zusammen, Eugenie rief den Rettungsdienst an und Richard versuchte, die Kleine zu beatmen.«
»Und die Schuld bekam Katja Wolff«, bemerkte Nkata.
»Am Anfang war ein solches Chaos, dass keiner daran dachte, nach dem Schuldigen zu suchen«, antwortete Robson. »Katja schrie unablässig, sie habe die Kleine nicht allein gelassen. Also glaubten alle zunächst, Sonia hätte einen Herzanfall gehabt und wäre binnen eines Augenblicks gestorben, während Katja ihr den Rücken zugewandt hatte, um ein Handtuch zu holen. Das ungefähr dachten wir. Dann sagte sie aber, sie sei nur ein, zwei Minuten am Telefon gewesen. Das entpuppte sich als Lüge, als Katie Waddington aussagte, nichts von dem Telefonat zu wissen. Später folgte die Obduktion. Es wurde klar, woran Sonia gestorben war und dass es frühere Zwischenfälle gegeben hatte, von denen niemand etwas wußte…« Er breitete die gespreizten Hände aus, als wollte er sagen, der Rest ist bekannt.
»Katja Wolff ist aus dem Gefängnis entlassen worden, Mr. Robson«, sagte Lynley. »Haben Sie von ihr gehört?«
Robson schüttelte den Kopf. »Ich kann mir auch nicht vorstellen, warum sie wünschen sollte, mich zu sprechen.«
»Ums Reden geht's ihr vielleicht gar nicht«, warf Nkata ein. Robson sah Lynley an. »Sie glauben, Katja könnte Eugenie getötet haben.«
Lynley sagte: »Der Beamte, der damals die Ermittlungen geleitet hat, ist gestern Nacht ebenfalls von einem Auto angefahren worden.«
»Um Gottes willen.«
»Wir halten es für ratsam, dass alle möglichst vorsichtig sind, bis wir wissen, was Mrs. Davies wirklich zugestoßen ist«, sagte Lynley. »Sie wollte Major Wiley übrigens etwas mitteilen. Das hat er uns gesagt. Haben Sie eine Ahnung, was das gewesen sein könnte?«
»Nein«, antwortete Robson, für Lynleys Geschmack viel zu prompt. Und als wäre ihm sogleich klar geworden, dass diese schnelle Antwort aufschlussreicher war als die Antwort selbst, fügte er hinzu: »Wenn Sie Major Wiley etwas mitteilen wollte, so hat sie mir nichts davon gesagt. Verstehen Sie, Inspector.«
Lynley verstand nur, dass der Mann etwas zu verheimlichen versuchte. Er sagte: »Sie waren doch ein enger Freund von Mrs. Davies, Mr. Robson. Mir scheint, Sie haben da etwas nicht bedacht. Wenn Sie sich Ihre letzten Zusammentreffen mit ihr ins Gedächtnis rufen, besonders das letzte, als es zwischen Ihnen beiden zum Streit kam, fällt Ihnen vielleicht doch noch irgendein Detail ein, eine rein beiläufige Bemerkung vielleicht, das uns einen Hinweis darauf geben könnte, was sie mit Major Wiley besprechen wollte.«
»Es gibt nichts. Wirklich. Ich wüsste nicht…«
Lynley ließ nicht locker. »Wenn das, was sie mit Major Wiley besprechen wollte, der Grund für ihre Ermordung ist - und wir können diese Möglichkeit nicht ausschließen, Mr. Robson -, dann ist jede Kleinigkeit, an die Sie sich erinnern können, von größter Bedeutung.«
»Vielleicht wollte sie mit ihm über Sonias Tod sprechen und wie es dazu kam. Vielleicht glaubte sie, ihm erklären zu müssen, warum sie ihren Mann und ihren Sohn verlassen hatte. Vielleicht glaubte sie, seine Vergebung zu brauchen, ehe sie mit ihm ein neues Leben anfangen könnte.«
»Hätte ihr das ähnlich gesehen?«, fragte Lynley. »Die Beichte vor der Intensivierung einer Beziehung?«
»Ja«, antwortete Robson, und es klang ehrlich. »Das wäre genau Eugenies Art gewesen. Vorher die Beichte abzulegen.«
Lynley nickte und ließ sich das durch den Kopf gehen. Teilweise war es durchaus stimmig, aber eine einfache Tatsache, die sich mit Robsons hilfsbereiter Erklärung gezeigt hatte, war nicht zu übersehen. Sie hatten Robson nichts davon gesagt, dass Major Wiley sich vor zwanzig Jahren in Afrika aufgehalten und daher die Umstände von Sonia Davies' Tod nicht gekannt hatte.
Wenn Robson das wüsste, dann wüsste er wahrscheinlich noch mehr, und Lynley war überzeugt, dass dieses verheimlichte Wissen den Weg zu dem Mord in Hampstead wies.