18

»Lynn Davies?« Barbara Havers zeigte der Frau, die ihr auf ihr Klingeln geöffnet hatte, ihren Ausweis.

Das gelbe Haus stand am Ende einer Zeile von Reihenhäusern in der Therapia Road, eine umgebaute viktorianische Villa in einem Teil von East Dulwich, der sich, wie Barbara entdeckt hatte, durch das Vorhandensein zweier Friedhöfe, eines öffentlichen Parks und eines Golfplatzes auszeichnete.

»Ja«, antwortete die Frau, aber es klang wie eine Frage, und sie neigte verwundert den Kopf, als sie sich Barbaras Ausweis ansah. Sie hatte etwa die gleiche Körpergröße wie Barbara - war also klein -, trug Bluejeans, Pulli und Turnschuhe und wirkte sehr fit. Sie musste, sagte sich Barbara, Eugenie Davies' Schwägerin sein. Sie war etwa im gleichen Alter, wenn auch das krause, volle Haar, das ihr über die Schultern fiel, gerade erst grau zu werden begann.

»Kann ich Sie einen Moment sprechen?«, fragte Barbara.

»Ja, natürlich.« Lynn Davies zog die Tür weiter auf, so dass Barbara in das Vestibül treten konnte, auf dessen Boden ein kleiner bestickter Teppich lag. In der Ecke stand ein Schirmständer, daneben war eine RattanGarderobe, an der zwei gleiche Ölmäntel hingen, beide leuchtend gelb und mit Schwarz abgesetzt.

Lynn Davies führte Barbara in ein Wohnzimmer mit einem Erker zur Straße. Dort lehnte auf einer Staffelei ein großes Blatt Zeichenpapier, ein halb fertiges Fingerfarbengemälde nach der Art zu urteilen, wie die Farben aufgetragen waren. Weitere Blätter - vollendete Werke - hingen, kreuz und quer mit Reißzwecken befestigt, an den Erkerwänden. Das unvollendete Gemälde auf der Staffelei war trocken. Es sah aus, als wäre der Künstler mitten aus dem Akt der Schöpfung herausgerissen worden; auf der einen Seite wanden sich drei schlingernde Linien zur Ecke hinunter, der Rest des Bildes hingegen schwelgte ihn fröhlichen, eigenwilligen Wirbeln und Spiralen.

Lynn Davies wartete schweigend, während Barbara den Blick im Erker umherwandern ließ.

Barbara sagte: »Ich nehme an, Sie sind durch Heirat mit Eugenie Davies verwandt.«

»Nein, das stimmt nicht ganz«, antwortete Lynn Davies und fragte sichtlich beunruhigt: »Worum geht es denn, Constable? Ist Mrs. Davies etwas zugestoßen?«

»Sie sind nicht Richard Davies' Schwester?«

»Ich war einmal mit Richard Davies verheiratet. Ich war seine erste Frau. Bitte, sagen Sie schon, was los ist. Ich bekomme langsam Angst. Ist Mrs. Davies etwas zugestoßen?« Sie verschränkte ihre Finger. »Es muss etwas passiert sein, sonst wären Sie nicht hier.«

Barbara stellte sich in Gedanken erst einmal um - von Richard Davies' Schwester auf Richard Davies' erste Frau und alles, was das möglicherweise bedeutete. Dann erklärte sie Lynn Davies den Grund ihres Besuchs und beobachtete die Frau aufmerksam.

Lynn Davies hatte einen olivfarbenen Teint mit dunkler schattierten Halbmonden unter den braunen Augen. Sie wurde blass, als sie Einzelheiten über den Unfall mit Fahrerflucht in West Hampstead hörte. »Mein Gott«, sagte sie leise und ging zu einer zerschlissenen alten Couchgarnitur, wo sie sich auf das Sofa sinken ließ. Vor sich hinstarrend, sagte sie zu Barbara: »Bitte, ich…«

Dann wies sie mit einer Kopfbewegung zu einem Sessel, neben dem mehrere Kinderbücher aufgestapelt waren.

»Es tut mir Leid«, sagte Barbara. »Es ist ein Schock für Sie, das sehe ich.«

»Ich hatte keine Ahnung«, sagte Lynn Davies. »Dabei hat es sicher in den Zeitungen gestanden. Schon Gideons wegen. Und natürlich auch wegen - wegen der Art und Weise, wie sie ums Leben gekommen ist. Aber ich habe keine Zeitung gelesen - ich komme doch nicht so gut zurecht, wie ich dachte, und… O Gott, die arme Eugenie. Dass es so enden musste!«

Mit der Reaktion einer verbitterten Exehefrau, die der Nachfolgerin hatte weichen müssen, hatte das wenig zu tun.

»Sie haben sie also gut gekannt?«, fragte Barbara.

»Seit Jahren.«

»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«

»Vergangene Woche. Sie kam zum Gottesdienst für meine Tochter. Darum habe ich keine Zeitung - darum wusste ich nicht…« Lynn Davies rieb sich mit der flachen Hand über den Oberschenkel, als könnte sie sich auf diese Weise beruhigen.

»Letzte Woche ist ganz plötzlich meine Tochter Virginia gestorben, Constable. Ich wusste, dass es jederzeit geschehen könnte. Das wusste ich seit Jahren. Und trotzdem ist man nie so gut vorbereitet, wie man es sich wünschen würde.«

»Es tut mir Leid, das zu hören«, sagte Barbara.

»Sie war beim Malen, wie jeden Nachmittag. Ich war in der Küche und machte Tee. Ich hörte den Sturz und bin sofort zu ihr gelaufen. Aber da war es schon vorbei. Und im Moment der endgültigen Trennung, mit der ich immer hatte rechnen müssen, war ich nicht bei ihr. Ich war nicht zur Stelle, um von ihr Abschied zu nehmen.«

Wie bei Tony, dachte Barbara unwillkürlich, und es erschütterte sie, dass plötzlich ihr Bruder sie aufsuchte und sie sich überhaupt nicht darauf vorbereitet hatte, ihn zu empfangen. Es war typisch für Tony, der ganz allein gestorben war. Keiner von der Familie war bei ihm gewesen. Es deprimierte sie, an Tony zu denken, an sein Dahinsiechen, an die Hölle, die mit seinem Tod über die Familie hereingebrochen war.

Sie sagte nur: »Kinder sollten nicht vor ihren Eltern sterben müssen«, und spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte.

»Der Arzt sagte, sie sei auf der Stelle tot gewesen«, berichtete Lynn Davies. »Ich weiß, das sollte mir ein Trost sein. Aber wenn man fast ein Leben lang für ein Kind wie Virginia gesorgt hat - für immer klein, ganz gleich, wie groß sie wurde -, bricht erst einmal die Welt zusammen, wenn es einem so plötzlich genommen wird. Ich war danach nicht fähig, die Tageszeitung zu lesen, geschweige denn eine Zeitschrift oder ein Buch, und habe weder den Fernseher noch das Radio eingeschaltet, obwohl ich mich gern ablenken würde. Aber ich weiß, wenn ich das tue, werde ich vielleicht aufhören zu fühlen, und das möchte ich nicht. Durch das, was ich im Moment fühle - in jedem einzelnen Moment, verstehen Sie -, bleibe ich mit ihr verbunden. Wenn Sie das nachempfinden können.« Lynn Davies' Augen waren feucht geworden.

Barbara ließ ihr ein wenig Zeit. Sie musste selbst erst einmal verarbeiten, was sie soeben erfahren hatte. Zu den Erkenntnissen, die sie einzuordnen versuchte, gehörte die kaum vorstellbare Tatsache, dass Richard Davies offenbar nicht nur ein behindertes Kind gezeugt hatte, sondern deren zwei. Denn was sonst konnte Lynn Davies gemeint haben, als sie ihre Tochter als »für immer klein« bezeichnet hatte?

»Virginia war nicht…« Es musste doch irgendeinen Euphemismus geben, sagte sich Barbara frustriert, und wenn sie aus Amerika gewesen wäre, diesem Mekka der »political correctness«, hätte sie wahrscheinlich ein Wort gewusst. So aber sagte sie schließlich verlegen: »Sie war nicht gesund?«

»Meine Tochter war von Geburt an geistig behindert, Constable. Sie hatte den Körper einer Frau und den Geist eines dreijährigen Kindes.«

»Oh! Das tut mir Leid.«

»Sie hatte außerdem einen schweren Herzfehler. Wir mussten von Anfang an damit rechnen, dass sie eines Tages viel zu früh daran sterben würde. Aber ihr Wille war stark. Zur Überraschung aller lebte sie zweiunddreißig Jahre.«

»Hier bei Ihnen?«

»Es war für uns beide kein leichtes Leben. Aber wenn ich bedenke, was hätte sein können, bedaure ich nichts. Ich habe damals, als meine Ehe zu Ende war, mehr gewonnen als verloren. Und letztlich konnte ich es Richard ja nicht übel nehmen, dass er mich um die Scheidung bat.«

»Und er hat sich dann wieder verheiratet und bekam ein zweites -« Wieder fehlte ihr ein freundlicher Ausdruck.

Lynn Davies formulierte es nach ihrem Empfinden. »Ein zweites Kind, das nach unseren gängigen Maßstäben nicht vollkommen war. Ja, Richard bekam noch so ein Kind, und diejenigen, die an die Rache der Götter glauben, werden vielleicht behaupten, das sei seine Strafe dafür gewesen, dass er Virginia und mich im Stich gelassen hat. Aber ich glaube nicht, dass das dem Wirken Gottes entspricht. Richard hätte im Übrigen niemals verlangt, dass wir gehen, wenn ich bereit gewesen wäre, weitere Kinder in die Welt zu setzen.«

»Er hat verlangt, dass Sie gehen?« Was für ein Prachtmensch, dachte Barbara. Darauf konnte man als Mann doch echt stolz sein - es fertig gebracht zu haben, eine Frau und ein geistig behindertes Kind vor die Tür zu setzen.

Lynn Davies erklärte hastig: »Wir lebten damals mit seinen Eltern zusammen in dem Haus, in dem er selbst aufgewachsen war. Es wäre absurd gewesen, wenn Richard gegangen wäre und Virginia und ich nach der Trennung geblieben wären und weiterhin mit Richards Eltern zusammengelebt hätten. Das war im Übrigen ein Teil des Problems: das Zusammenleben mit Richards Eltern. Sein Vater war unerbittlich, was Virginia anging. Er wollte sie weggeben. Unbedingt. Er ließ nicht locker. Und Richard war . ihm war die Anerkennung seines Vaters ungeheuer wichtig. Nur darum ließ er sich auf die Seite seines Vaters ziehen und sprach sich ebenfalls dafür aus, Virginia in einem Heim unterzubringen. Aber das machte ich nicht mit. Es war schließlich…«

Ihre Augen spiegelten ihren Schmerz, und sie hielt einen Moment inne, bevor sie mit ruhiger Würde sagte: »Sie war unser Kind. Sie konnte nichts dafür, dass sie behindert zur Welt gekommen war. Wie hätten wir uns anmaßen können, sie einfach wegzuwerfen? Anfangs dachte Richard wie ich, bis sein Vater ihn umgestimmt hat.«

Sie blickte zum Erker hinüber, zu den farbenfrohen Bildern an den Wänden, und sagte: »Jack Davies war ein schrecklicher Mann. Ich weiß, dass er im Krieg unerhört gelitten hat. Ich weiß, dass sein Geist zerstört war und man ihm seine Gemeinheiten nicht zum Vorwurf machen konnte. Aber dass er ein unschuldiges Kind so sehr hasste, dass es nicht mit ihm in einem Raum sein durfte… Das war unrecht, Constable. Das war ein furchtbares Unrecht.«

»Es muss die Hölle gewesen sein«, sagte Barbara.

»Eine Form davon, ja. >Gott sei Dank ist sie nicht von meinem Blute, sagte er immer. Und Richards Mutter murmelte dann jedes Mal: >Jack, Jack, das ist doch nicht dein Ernste, dabei merkte man genau, dass er Virginia am liebsten vom Erdboden hätte verschwinden lassen, wenn es ein einfaches Mittel gegeben hätte, das zu bewerkstelligen.« Lynn Davies' Lippen bebten. »Und jetzt ist sie tot. Wie würde Jack sich freuen.«

Sie schob eine Hand in die Hosentasche und zog ein zerknittertes Papiertaschentuch heraus, mit dem sie sich die Augen abtupfte. »Entschuldigen Sie. Es tut mir wirklich Leid, dass ich Sie so mit meinen Problemen überfallen habe. Ich hätte das nicht - ach, mein Gott, sie fehlt mir so sehr.«

»Natürlich«, sagte Barbara. »Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken.«

»Und jetzt Eugenie«, sagte Lynn Davies. »Wie kann ich da weiterhelfen? Denn ich nehme doch an, deswegen sind Sie hier. Nicht nur, um mich zu informieren, sondern um mich um meine Hilfe zu bitten.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass zwischen Ihnen und Mrs. Davies eine Bindung bestand. Durch Ihre Kinder.«

»Nein, zu Anfang nicht. Wir lernten uns erst nach Sonias Tod kennen. Da stand Eugenie eines Tages vor meiner Tür. Sie wollte reden. Ich habe ihr zugehört.«

»Danach sahen Sie sich regelmäßig?«

»Ja. Sie besuchte mich häufig. Sie brauchte jemanden, mit dem sie reden konnte - wem in ihrer Situation wäre das anders gegangen? -, und ich war froh, für sie dasein zu können. Denn mit Richard konnte sie nicht sprechen. Es gab zwar noch eine katholische Nonne, der sie vertraute, aber die Frau war eben keine Mutter. Und genau das brauchte Eugenie damals, eine Freundin, die auch Mutter war, am besten Mutter eines Kindes, das >anders< war. Sie kam beinahe um vor Schmerz und Trauer, und in dieser Familie konnte keiner ihre Gefühle verstehen. Aber sie wusste von mir und Virginia, weil Richard ihr kurz nach der Heirat von uns erzählt hatte.«

»Nicht vorher? Das ist aber ungewöhnlich.«

Lynn Davies lächelte resigniert. »Das ist typisch Richard Davies, Constable. Er zahlte Unterhalt für Virginia, bis sie volljährig war, aber er hat sie nach der Trennung nicht ein einziges Mal gesehen. Ich dachte, er würde vielleicht zur Beerdigung kommen. Ich hatte ihn von ihrem Tod benachrichtigt. Aber er hat nur Blumen geschickt. Das war alles.«

»Großartig«, sagte Barbara.

»So ist er eben. Kein schlechter Mensch, aber nicht gerüstet, mit einem behinderten Kind umzugehen. Das ist nun mal nicht jedem gegeben. Ich hatte immerhin eine praktische Ausbildung als Krankenpflegerin, Richard hingegen - was hatte er schon außer seiner kurzen Karriere beim Militär? Außerdem wollte er unbedingt den Namen der Familie erhalten, und das hieß natürlich, dass er sich eine zweite Frau suchen musste. Was sich ja auch als glückliche Entscheidung erwies, nicht wahr? Eugenie hat ihm Gideon geboren.«

»Das große Los!«

»In gewisser Weise, ja. Aber ich denke, ein Wunderkind in der Familie bringt für die Eltern auch eine ungeheure Verantwortung mit sich. Eine Verantwortung anderer Art,

natürlich, aber sicherlich ebenso schwierig.«

»Eugenie Davies hat sich nicht dazu geäußert?«

»Sie hat kaum über Gideon gesprochen. Und nach ihrer Scheidung von Richard überhaupt nicht mehr. Auch nicht über Richard oder die anderen. Wenn sie uns besuchte, half sie mir meistens bei Virginias Betreuung. Sie ging leidenschaftlich gern in den Park, Virginia, meine ich, und auf Friedhöfe. Das Schönste für sie war ein Streifzug über den Camberwell-Friedhof. Aber ich unternahm solche Ausflüge nur ungern, wenn nicht jemand dabei war, der mir bei der Beaufsichtigung Virginias helfen konnte. Wenn ich mit ihr allein unterwegs war, musste ich mich ständig auf sie konzentrieren und hatte selbst kaum etwas vom Nachmittag. Mit Eugenie zusammen war es einfacher und angenehmer. Wir teilten uns die Betreuung von Virginia und hatten trotzdem die Möglichkeit, uns zu unterhalten, in die Sonne zu setzen, die Inschriften auf den Grabsteinen zu lesen. Eugenie war ein wahres Glück für Virginia und mich.«

»Haben Sie am Tag von Virginias Beerdigung mit ihr gesprochen?«

»Ja, natürlich. Aber ich fürchte, wir haben nicht über Dinge gesprochen, die Ihnen bei Ihren Ermittlungen weiterhelfen würden. Es ging eigentlich nur um Virginia. Wie ich mit dem Verlust fertig werden würde. Eugenie war mir ein großer Trost. Sie hatte mir schon seit Jahren Kraft gegeben. Und Virginia . Sie wurde so vertraut mit Eugenie, dass sie sie wirklich kannte. Und erkannte. Und -«

Lynn Davies brach ab. Sie stand auf und ging in den Erker hinüber. Vor der Staffelei, auf der das letzte Bild ihrer Tochter an deren schnellen Tod erinnerte, blieb sie stehen und sagte sinnend: »Gestern habe ich selbst mehrere solcher Bilder gemalt. Ich wollte spüren, was ihr eine solch große Freude bereitet hat. Aber es gelang mir nicht. Ich malte ein Bild nach dem anderen, bis meine Hände ganz braun waren von dem Gemisch der vielen Farben, die ich verwendet hatte, aber ich spürte es trotzdem nicht. Erst da wurde mir klar, wie sehr sie im Grund vom Glück gesegnet war: ewig ein kleines Kind, das so wenig vom Leben verlangte.«

»Daraus kann man etwas lernen«, meinte Barbara.

»Ja, nicht wahr?« Tief in Gedanken versunken, stand sie vor dem letzten Bild.

Barbara beugte sich in ihrem Sessel vor. Sie wollte Lynn Davies in die Gegenwart zurückholen. »Eugenie Davies hatte in Henley einen engen Freund, Mrs. Davies. Einen ehemaligen Major namens Ted Wiley. Er betreibt eine Buchhandlung gegenüber von ihrem Haus. Hat sie mal von ihm erzählt?«

Lynn Davies wandte sich vom Bild ihrer Tochter ab. »Ted Wiley? Nein. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals von einem Ted Wiley gesprochen hat.«

»Hat sie vielleicht sonstjemanden erwähnt, zu dem sie eine engere Beziehung hatte?«

Lynn Davies dachte nach. »Sie war sehr zurückhaltend, was persönliche Dinge betraf. Von Anfang an. Aber ich glaube - ich weiß nicht, ob das eine Hilfe ist, aber als wir das letzte Mal miteinander sprachen, also bevor ich sie anrief, um sie von Virginias Tod in Kenntnis zu setzen, da erwähnte sie… Also, ich weiß wirklich nicht, ob es etwas zu bedeuten hatte. Ich meine, ich weiß nicht, ob es bedeutete, dass sie eine engere Beziehung, wie Sie es nennen, aufgenommen hatte.«

»Was hat sie denn gesagt?«, fragte Barbara.

»Es war weniger das, was sie sagte, als wie sie es sagte. Es lag so eine Unbeschwertheit in ihrem Ton, die ich vorher nie bei ihr gehört hatte. Sie wollte wissen, ob ich glaubte, man könne dort Liebe finden, wo man sie nie erwartet hätte. Sie fragte mich, ob es meiner Meinung nach möglich sei, nach Jahren einen Menschen plötzlich in einem ganz anderen Licht zu sehen, und dass aus diesem neuen Blick auf den anderen Liebe entstehen könnte. Kann es sein, dass sie da von diesem Ted Wiley sprach? Könnte er der Mann sein, den sie seit Jahren gekannt, aber bis zu diesem Moment nie als Geliebten gesehen hatte?«

Barbara ließ sich das durch den Kopf gehen. Möglich war es, sicher. Aber so einfach hinzunehmen war es nicht: Der Ort, an dem Eugenie Davies sich zum Zeitpunkt ihres Todes aufgehalten, die Adresse, die sie bei sich gehabt hatte, ließen etwas anderes vermuten.

Sie sagte: »Hat sie je einen James Pitchford erwähnt?«

Lynn Davies schüttelte den Kopf.

»Und Pitchley? Oder vielleicht Pytches?«

»Nein, diese Namen sind nie gefallen. Aber so war sie: eine sehr verschlossene Frau.«

Eine sehr verschlossene Frau, die das Opfer eines Mörders geworden ist, dachte Barbara. Und sie fragte sich, ob nicht diese Neigung zur Verschlossenheit der Grund für ihre Ermordung gewesen war.


Chief Inspector Leach hörte schweigend zu, als ihm die Oberschwester der Intensivstation im Charing Cross Hospital das Schlimmste eröffnete. Keine Veränderung, das sagten die Ärzte immer, wenn sie die Verantwortung für einen Patienten an Gott, das Schicksal, die Natur oder die Zeit abgaben. Sie sagten es nicht, wenn ein Patient dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatte, auch nur die kleinsten Fortschritte zum Besseren zeigte oder auf wundersame Weise genas.

Leach legte den Telefonhörer auf und wandte sich grübelnd von seinem Schreibtisch ab. Er dachte nicht nur über das Schicksal Malcolm Webberlys nach, er zerbrach sich auch den Kopf über seine eigenen Unzulänglichkeiten und darüber, wie sie seine Fähigkeit beeinflussten, mit den Irrungen und Wirrungen dieser Untersuchung umzugehen.

Er musste auf jeden Fall das Problem Esmé anpacken. Wie, das würde ihm schon noch einfallen, aber dass er es anpacken musste, lag auf der Hand. Denn wäre er nicht durch Esmés Befürchtungen bezüglich des neuen Freundes ihrer Mutter - ganz zu schweigen von seiner eigenen Reaktion darauf, dass Bridget Ersatz für ihn gefunden hatte - abgelenkt gewesen, so hätte er sich ganz bestimmt erinnert, dass J.W. Pitchley alias James Pitchford früher einmal Jimmy Pytches gewesen war, dessen Verwicklung in den Tod eines Säuglings in Tower Hamlets vor langer Zeit für alle Boulevardblätter Londons ein gefundenes Fressen gewesen war.

Nicht zum Zeitpunkt des Todes besagten Säuglings natürlich, der Fall hatte sich nach der Obduktion rasch geklärt; nein, Jahre später, als in Kensington wieder ein Kind gestorben war.

Als die Frau vom Yard dieses pikante Detail zum Besten gegeben hatte, war Leach schlagartig alles wieder eingefallen. Er versuchte sich einzureden, dass er die Information aus dem Speicher seines Gedächtnisses gelöscht hätte, weil sie nichts weiter gebracht hatte als einen Haufen Ärger für Pitchford während der Ermittlungen wegen des Tods der kleinen Davies. Tatsächlich jedoch hätte er sich daran erinnern müssen, und es war nur Bridget und ihrem neuen Freund und insbesondere der Sorge seiner Tochter wegen Bridgets Freund zuzuschreiben, dass ihm die Sache vorübergehend entfallen war. Aber er konnte sich nicht erlauben, irgendetwas zu diesem lang zurückliegenden Fall zu vergessen, weil es immer wahrscheinlicher wurde, dass es zwischen dem Fall von damals und dem von heute eine Verbindung gab, die so leicht nicht aus der Welt zu schaffen sein würde.

Ein Constable schaute kurz bei ihm herein und sagte: »Wir haben jetzt den Typen aus West Hampstead hier, mit dem Sie sprechen wollten, Sir. Sollen wir ihn in einen Vernehmungsraum bringen?«

»Ist er mit seinem Anwalt hier?«

»Was sonst? Der geht wahrscheinlich morgens nicht mal mehr auf die Toilette, ohne dass er vorher seinen Anwalt fragt, auf wie viel Blatt Klopapier er ein Anrecht hat.«

»Dann bringen Sie ihn in einen Vernehmungsraum«, sagte Leach. Er wollte Anwälten keinen Anlass geben, zu glauben, sie hätten es geschafft, ihn einzuschüchtern, aber genau das würde Pitchford-Pitchleys Anwalt sich vermutlich einbilden, wenn er ihn mit seinem Mandanten in sein Büro bat.

Er nahm sich ein paar Minuten Zeit, um mit einem Anruf Pitchleys Wagen freizugeben. Den Porsche noch länger unter Verschluss zu halten würde nichts bringen, und Leach war überzeugt, dass sie dank ihren Kenntnissen über Details aus James Pitchfords Vergangenheit stärkeren Druck auf den Mann ausüben konnte als mit der Beschlagnahmung des Wagens.

Nach dem Telefonat holte er sich einen Becher Kaffee und ging in das Vernehmungszimmer, wo Pitchley- Pitchford-Pytches - Leach begann ihn der Einfachheit halber im Stillen Mr. P zu nennen - und sein Anwalt, die bereits am Tisch Platz genommen hatten, ihn erwarteten. Azoff rauchte trotz des unübersehbaren Rauchverbotsschilds, seine Art, kundzutun, dass sie alle miteinander ihn mal könnten, und Mr. P fuhr sich unablässig mit beiden Händen durch die Haare, als wollte er seinem Hirn eine gründliche Massage verpassen.

»Ich habe meinem Mandanten geraten, keine Aussage zu machen«, begann Azoff ohne ein Wort der Begrüßung. »Obwohl er sich bisher in jeder Hinsicht kooperativ gezeigt hat, ist das von Ihnen in keiner Weise gewürdigt worden.«

»Gewürdigt?«, wiederholte Leach ungläubig. »Was glauben Sie eigentlich, wo wir hier sind, Mann? Wir ermitteln in einem Mordfall, und wenn wir die Hilfe Ihres Mandanten brauchen, dann bekommen wir sie auch, darauf können Sie sich verlassen.«

»Ich sehe keinen Anlass zu weiteren derartigen Treffen, wenn Sie keine konkreten Vorwürfe gegen ihn erheben«, konterte Azoff.

Woraufhin Mr. P den Kopf hob und ihn so wütend anstarrte, als wollte er sagen, was laberst du da für einen Mist, du Vollidiot? Leach gefiel das; ein Unschuldiger hätte seinen Anwalt sicher nicht mit diesem mörderischen Blick durchbohrt, nur weil der von »Vorwürfen« gesprochen hatte. Ein Unschuldiger hätte bestätigend genickt und den Bullen herausfordernd angesehen: Genau, schreiben Sie sich das gefälligst hinter die Ohren. Aber so reagierte Mr. P nicht, und das überzeugte Leach noch mehr, dass man den Mann zum Reden bringen musste. Er war sich nicht sicher, was sie dadurch gewinnen würden, aber einen Versuch, fand er, war es auf jeden Fall wert.

»Tja, Mr. Pytches«, sagte er beinahe jovial.

Woraufhin Azoff hörbar gereizt und mit einem übel riechenden Ausstoß von Tabaksqualm, der seine Ungehaltenheit noch unterstreichen sollte, »Pitchley!« sagte.

»Ah«, meinte Leach, zu Mr. P gewandt. »Sie haben Geheimnisse vor ihm, hm?« Und er wies mit einer Kopfbewegung zu Azoff. »Skelette im Schrank, die Sie ihm noch nicht gezeigt haben?«

Mr. P ließ den Kopf in die Hände sinken, deutliches Zeichen seiner Niedergeschlagenheit bei der plötzlichen Erkenntnis, dass er soeben noch ein Stück tiefer in den Schlamassel gerutscht war den er aus seinem Leben gemacht hatte. »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß«, erklärte er, ohne auf das Thema Jimmy Pytches einzugehen. »Ich habe diese Frau das letzte Mal sechs Monate nach dem Prozess gesehen. Und alle anderen, die mit der Sache zu tun hatten, auch. Ich bin umgezogen. Was hätte ich denn tun sollen? Neues Haus, neues Leben…«

»Neuer Name«, sagte Leach. »Wie gehabt. Aber Mr. Azoff hier weiß anscheinend nicht, dass ein Typ wie Sie mit einer Vergangenheit wie der Ihren ein Talent dafür hat, immer wieder in irgendwelche zwielichtigen Geschichten verwickelt zu werden. Auch wenn er meint, er hätte seine Vergangenheit mit Betonklötzen beschwert in der Themse versenkt.«

»Was, zum Teufel, wollen Sie damit sagen, Leach?« fuhr Azoff ihn an.

»Nehmen Sie erst mal das Ding aus dem Mund, mit dem Sie uns hier die Bude verpesten, dann bin ich gern bereit, Sie aufzuklären«, entgegnete Leach. »Hier ist Rauchen verboten, und ich nehme doch an, Sie sind der Kunst des Lesens mächtig, Mr. Azoff.«

Azoff nahm betont gemächlich die Zigarette aus dem Mund, drückte sie noch gemächlicher an seiner Schuhsohle aus, sehr behutsam, um sich den Rest für später aufzuheben. Während dieser Vorstellung weihte Mr. P seinen Anwalt unaufgefordert in die diesem bisher unbekannten Details seiner Biografie ein.

Am Ende des Vortrags, den er so kurz und positiv wie möglich gehalten hatte, sagte er: »Ich habe diese Geschichte von dem plötzlichen Kindstod nie erwähnt, Lou, weil es keinen Anlass dazu gab. Und es gibt immer noch keinen. Zumindest gäbe es keinen, wenn er hier« - Mr. P wies mit einer ruckartigen Kopfbewegung auf Leach, nicht bereit, ihn mit der Nennung seines Namens zu würdigen - »sich nicht was zusammenfantasiert hätte, das mit der Wahrheit überhaupt nichts zu tun hat.«

»Pytches«, sagte Azoff nachdenklich, aber die zusammengekniffenen Augen ließen darauf schließen, dass er weniger über diese neue Information nachdachte als über eventuelle Strafmaßnahmen für einen Mandanten, der ihm beharrlich wichtige Fakten vorenthielt, so dass er vor der Polizei jedesmal ausgesprochen dumm dastand. »Es ist noch ein Kind ums Leben gekommen, Jay?«

»Zwei Kinder und eine Frau«, warf Leach ein. »Und das ist übrigens noch nicht das Ende. Gestern Abend hat es wieder einen erwischt. Wo waren Sie da, Pytches?«

»Das ist nicht fair«, rief Mr. P. »Ich habe nicht einen einzigen von diesen Leuten gesehen… Ich habe mit keinem gesprochen… Ich weiß nicht, warum sie meine Adresse bei sich hatte… Und ich glaube nie im Leben -«

»Gestern Abend«, wiederholte Leach.

»Nichts. Nirgendwo. Ich war zu Hause. Wo soll ich denn sonst sein, wenn Sie auf meinem Wagen sitzen?«

»Vielleicht haben Sie sich von jemandem abholen lassen.«

»Von wem denn? Von einem Kumpel vielleicht, der mit mir auf einen schnellen Unfall mit Fahrerflucht durch London gezischt ist?«

»Ich glaube nicht, dass ich etwas von einem Unfall mit Fahrerflucht gesagt habe.«

»Ach, hören Sie doch auf. Es reicht doch, wenn Sie sagen, dass es wieder einen erwischt hat. Oder halten Sie mich für total bescheuert? Warum wäre ich denn sonst hier, hm?«

Mr. P begann nervös zu werden, und das gefiel Leach ausgezeichnet. Genauso gut gefiel ihm die Tatsache, dass der Anwalt sauer genug war, seinen geschätzten Mandanten eine Weile hängen zu lassen. Das könnte sich als höchst nützlich erweisen.

»Gute Frage, Mr. Pytches«, sagte Leach.

»Pitchley«, korrigierte Mr. P.

»Haben Sie in letzter Zeit Katja Wolff gesehen oder von ihr gehört?«

»Kat -« Mr. P schluckte. »Was ist mit Katja Wolff?«, fragte er leise und vorsichtig.

»Ich hab mir heute Morgen die alten Akten mal gründlich angeschaut und festgestellt, dass Sie beim Prozess nicht ausgesagt haben.«

»Ich bin nicht vorgeladen worden. Ich war im Haus, aber ich habe nichts gesehen, und es bestand kein Grund -«

»Aber die Beckett hat doch auch ausgesagt. Die Privatlehrerin des Jungen. Sarah-Jane hieß sie. Aus meinen Unterlagen geht hervor - habe ich übrigens erwähnt, dass ich mir stets alle meine Aufzeichnungen aufhebe? -, dass Sie und Sarah-Jane zusammen waren, als das Kind umgebracht wurde. Sie waren zusammen, und das heißt doch wohl, dass Sie beide alles gesehen haben oder überhaupt nichts, aber ganz gleich, die -«

»Ich habe nichts gesehen!«

»- die Beckett hat ausgesagt«, fuhr Leach energisch fort, »während Sie den Mund gehalten haben. Warum?«

»Sie war die Lehrerein des Jungen. Gideons. Des Bruders. Sie war viel mehr mit der Familie zusammen. Und mit dem kleinen Mädchen. Sie hat miterlebt, wie Katja die Kleine versorgt hat. Sie wird geglaubt haben, sie hätte was beizutragen. Ich sag's noch mal, ich bin nicht als Zeuge geladen worden. Die Polizei hat mich vernommen, ich hab meine Aussage gemacht, ich hab darauf gewartet, dass ich vorgeladen werde, aber das ist nicht passiert.«

»Sehr bequem.«

»Wieso? Wollen Sie vielleicht behaupten -«

»Schluss«, sagte Azoff endlich. Und zu Leach: »Kommen Sie zur Sache, oder wir verschwinden.«

»Nicht ohne meinen Wagen«, sagte Mr. P.

Leach kramte den Freigabeschein für den Porsche aus seiner Jackentasche und legte ihn zwischen sich und den beiden Männern auf den Tisch. »Sie waren der Einzige aus dem ganzen Haus, der nicht ausgesagt hat, Mr. Pytches«, bemerkte er. »Man sollte doch meinen, sie wäre mal kurz bei Ihnen vorbei gekommen, um sich zu bedanken, nachdem sie jetzt raus ist.«

»Was wollen Sie damit sagen?«, schrie Mr. P erregt.

»Beckett hat zur Persönlichkeit ausgesagt. Sie hat uns und allen anderen erzählt, welche Drähte bei der Wolff durchgebrannt sind. Ein bisschen Ungeduld hier, ein kleiner Wutanfall dort. Anderes im Kopf, als sich ordentlich um die Kleine zu kümmern. Nicht ständig auf Zack, wie das bei einer ausgebildeten Kinderfrau der Fall gewesen wäre. Nachlässig eben. Und dann lässt sie sich auch noch schwängern…«

»Ja und?«, sagte Mr. P. »Sarah-Jane hat viel mehr mitgekriegt als ich. Und das hat sie erzählt. Bin ich vielleicht ihr Gewissen oder was? Mehr als zwanzig Jahre danach?«

Azoff mischte sich ein. »Wir würden gern wissen, worum es bei diesem Gespräch eigentlich geht, Chief Inspector. Wenn Sie uns das nicht sagen können, nehmen wir jetzt unser Papierchen für das Auto und empfehlen uns hochachtungsvoll.« Er griff nach dem Schein.

Leach hielt das Papier fest. »Es geht um Katja Wolff«, sagte er.

»Und um die Verbindung Ihres Mandanten zu dieser Frau.«

»Ich habe keinerlei Verbindung zu ihr«, protestierte Mr. P.

»Da bin ich mir nicht so sicher. Irgendjemand hat sie geschwängert, und dass es der Heilige Geist war, glaube ich wirklich nicht.«

»Versuchen Sie nicht, das mir in die Schuhe zu schieben. Wir haben im selben Haus gewohnt. Das ist alles. Wir haben uns auf der Treppe gegrüßt, wenn wir einander begegnet sind. Ich habe ihr hin und wieder mal eine Englischstunde gegeben, und, ich gebe es zu, ich habe sie bewundert. Sie war attraktiv. Sie war selbstsicher und stolz, ganz anders, als man das von einer Ausländerin erwarten würde, die nicht einmal die Sprache perfekt beherrscht. Mir gefällt so was an einer Frau, das wird ja wohl noch erlaubt sein.«

»Aha, ich kann mir schon vorstellen, wie das war. Nachts schleicht man sich durchs Haus ins andere Zimmer. Trifft sich ein, zwei Mal im Gartenhäuschen und, hoppla, was ist denn da passiert!«

Azoff schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ein Mal, zwei Mal, fünfundachtzig Mal«, sagte er. »Wenn Sie nicht vorhaben, über den aktuellen Fall zu sprechen, verabschieden wir uns jetzt. Ist das klar?«

»Das ist der aktuelle Fall, Mr. Azoff, wenn wir mal davon ausgehen, dass unser Freund hier die letzten zwanzig Jahre mit Gewissensbissen darüber zugebracht hat, dass er die Frau, mit der er ein Verhältnis hatte, einfach im Stich gelassen hat, als sie a) von ihm schwanger wurde und b) unter Mordanklage gestellt wurde. Vielleicht wollte er Wiedergutmachung leisten. Und gibt's da was Besseres, als bei einem kleinen Rachefeldzug zu helfen? Den sie, nebenbei gesagt, vielleicht für absolut gerechtfertigt hält. Die Zeit vergeht langsam im Knast. Und Sie würden sich wundern, wie in dieser langsam verstreichenden Zeit so mancher Killer zu der Überzeugung gelangt, dass er derjenige ist, dem Unrecht getan wurde.«

»Das ist ja - total - das ist - absurd«, stammelte Mr. P.

»Wirklich?«

»Das wissen Sie doch ganz genau. Wie soll denn das abgelaufen sein?«

»Jay -« warnte Azoff.

»Glauben Sie vielleicht, sie hat mich ausfindig gemacht, hat eines Abends bei mir geklingelt und gesagt: >Hallo, Jim, ich weiß, wir haben uns seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, aber hast du nicht Lust, mir zu helfen, ein paar Leute kalt zu machen? Nur zum Spaß. Du hast doch hoffentlich nicht zu viel zu tun.< Soll es so gewesen sein, Inspector?«

»Halten Sie die Klappe, Jay«, fuhr Azoff seinen Mandanten an.

»Nein! Ich hab mein halbes Leben lang die Wände gewischt, obwohl ich sie gar nicht angepisst hatte. Ich habe die Nase voll. Restlos. Wenn es nicht die Polizei ist, dann ist es die Presse. Und wenn es nicht die Presse ist, dann ist es -« Er brach ab.

»Ja?« Leach beugte sich vor. »Wer ist es dann? Was für ein Skelett gibt's denn da noch im Schrank? Außer der Sache mit dem plötzlichen Kindstod, meine ich? Sie haben es ja faustdick hinter den Ohren. Und eines kann ich Ihnen gleich sagen: Ich bin noch nicht fertig mit Ihnen.«

Mr. P sank auf seinem Stuhl zusammen und schluckte krampfhaft.

Azoff sagte: »Sehr seltsam. Ich höre gar keine Belehrung, Chief Inspector. Verzeihen Sie, wenn ich während dieses Gesprächs vorübergehend weggetreten bin, aber ich habe keine Belehrung gehört. Und wenn ich nicht in den nächsten fünfzehn Sekunden eine höre, dann schlage ich vor, wir sagen einander Lebewohl, auch wenn der Abschied noch so herzzerreißend wird.«

Leach schob ihnen den Freigabeschein für den Porsche über den Tisch. »Planen Sie fürs Erste keinen Urlaub, Mr. Pitchley«, sagte er, und zu Azoff: »Zünden Sie den Giftstängel nicht wieder an, bevor Sie draußen auf der Straße sind, sonst krieg ich Sie wegen irgendwas dran.«

»Halleluja! Wenn ich mir da nicht gleich in die Hosen mache, Meister«, gab Azoff zurück.

Leach wollte etwas entgegnen, ließ es aber sein und sagte nur: »Verschwinden Sie!«

Als J. W. Pitchley alias Die Zunge alias James Pitchford alias Jimmy Pytches sich vor der Polizeidienststelle Hampstead von seinem Anwalt verabschiedete, wusste er, dass sie von nun an getrennte Wege gehen würden. Azoff war wütend wegen der Jimmy-Pytches-Geschichte, noch wütender als damals wegen der James-Pitchford- Geschichte; dass seine Unschuld am Tod beider Kinder erwiesen war, half gar nichts, darum gehe es nicht, erklärte Azoff. Es falle ihm nicht ein, sich noch einmal von einem Mandanten, der ihm gegenüber nicht ehrlich sei, als Volltrottel hinstellen zu lassen. Ob Jay überhaupt eine Ahnung habe, was für ein Gefühl das sei, wenn man da drinnen einem Bullen gegenübersitze, der wahrscheinlich nicht mal eine höhere Schulbildung hatte, und einem dann ohne Vorwarnung der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. So eine Scheiße lasse er sich in Zukunft nicht mehr gefallen. Verstanden, Jay? Oder James? Oder Jimmy? Oder war er vielleicht noch irgendein anderer?

Es gab keinen anderen. Er war nicht noch ein anderer. Und auch wenn Azoff nicht gesagt hätte: »Meine Abschlussliquidation kommt morgen per Kurier«, hätte Pitchley selbst den Schlussstrich unter ihrer geschäftlichen Verbindung gezogen. Ohne Rücksicht darauf, dass er Azoffs komplizierte Finanzen verwaltete. In der City ließ sich bestimmt jemand finden, der ebenso talentiert darin war, Azoffs Geld schneller herumzuschieben, als das Finanzamt folgen konnte.

Er sagte deshalb ganz gelassen: »In Ordnung, Lou«, und versuchte gar nicht, dem Anwalt seinen Entschluss auszureden. Im Grunde konnte er dem armen Kerl keinen Vorwurf machen. War ja wirklich kein Honiglecken, wenn einem der eigene Mandant immer wieder in den Rücken fiel.

Azoff schlang sich seinen langen Schal um den Hals und schwang das lose Ende mit großer Geste über seine Schulter. Dann zog er ab, und Pitchley seufzte. Er hätte Azoff sagen können, dass er bereits seit einiger Zeit mit dem Gedanken gespielt hatte, sich von ihm zu trennen, und dieser Gedanke während des Gesprächs mit Leach feste Form angenommen hatte, aber er beschloss, dem Mann seinen großen Auftritt nicht zu verderben. Der sollte ihm gegönnt sein als Entschädigung für die Schande, der er wegen Pitchleys Unterschlagung wesentlicher Fakten in letzter Zeit ausgesetzt gewesen war. Mehr hatte Pitchley im Moment nicht zu bieten, und so stand er mit gesenktem Kopf da während Azoff wütete.

»Ich setze mich mit einem Bekannten in Verbindung, der Ihre Finanzen zu Ihrer Zufriedenheit managen kann«, sagte er.

»Tun Sie das«, versetzte Azoff, ohne sich zu einem Gegenangebot herabzulassen und etwa einen Kollegen aus der Anwaltschaft zu empfehlen, der bereit wäre, einen Mandanten zu betreuen, der ihn im Dunkeln tappen ließ. Aber Pitchley hatte so etwas auch nicht von ihm erwartet. Er erwartete schon lange nichts mehr.

So war das nicht immer gewesen. Zwar konnte man nicht behaupten, dass er früher große Erwartungen gehabt hatte, aber Träume, ja, die hatte er gehabt. Katja hatte ihm die ihren anvertraut, atemlos flüsternd, wenn das Haus abends still war, bei den Englischstunden und ihren Gesprächen oben in der Mansarde. Immer hatte sie mit einem Ohr auf das Babyfon gelauscht, um sofort zur Stelle zu sein, wenn die Kleine unruhig wurde oder schrie - wenn sie ihre Katja brauchte.

»Es gibt doch diese Schulen, wo man lernt, Mode zu entwerfen«, sagte sie. »Du weißt schon, elegante Kleider und so. Du hast die Zeichnungen gesehen, die ich mache, nicht? Auf so eine Schule will ich gehen, wenn ich das Geld gespart habe. Weißt du, James, die Mode bei uns… Ach, ich kann es nicht beschreiben, aber ihr habt Farben, oh, eure Farben… Und schau doch mal, der Schal, den ich mir gekauft habe. Er ist von Oxfam, James. Irgendjemand hat ihn verschenkt!« Und dann holte sie den Schal heraus und wirbelte ihn herum wie eine orientalische Tänzerin, ein langes Stück zerschlissener Seide, an dem sich der Fransenbesatz gelockert hatte, aber für sie ein Schleier, eine Schärpe, eine Stola. Zwei solcher Schals, und es wurde eine Bluse daraus. Fünf, und sie zauberte einen vielfarbigen Rock. »Das ist das, was ich einmal machen will«, pflegte sie zu sagen. Ihre Augen blitzten dabei, und ihre Wangen waren gerötet, und der Rest ihrer Haut war milchweißer Samt. Ganz London kleidete sich schwarz. Katja nie. Katja war ein Regenbogen, eine Huldigung an das Leben.

Und von ihr inspiriert, hatte er seine eigenen Träume gehabt. Keine Pläne wie sie, nichts Konkretes, etwas Zartes, das gehegt werden wollte wie eine Feder, die verschmutzt und zum Fliegen nicht mehr taugt, wenn sie zu lange fest gehalten wird.

Er würde sich Zeit lassen, sagte er sich. Sie waren beide jung. Sie hatte ihre Ausbildung vor sich, und er wollte sich in der City etablieren, bevor er sich an ein so verantwortungsvolles Unternehmen wie die Ehe heranwagte. Aber wenn der rechte Zeitpunkt gekommen war… ja, Katja war die Richtige. So ganz anders und unglaublich fähig, etwas aus sich zu machen, so voller Eifer zu lernen, bereit - nein, verzweifelt bemüht -, diejenige hinter sich zu lassen, die sie gewesen war, um diejenige zu werden, die sie werden wollte und werden zu können glaubte. Sie war tatsächlich sein weibliches Pendant. Sie wusste es noch nicht und würde es auch nie erfahren, wenn es nach ihm ginge, aber falls sie es doch entdecken sollte, so unwahrscheinlich das auch war, würde sie verstehen. Wir haben alle unsere Wolkenkuckucksheime, würde er zu ihr sagen.

Hatte er sie geliebt? Oder hatte er in ihr nur seine beste Chance auf ein Leben gesehen, in dem er sich im Schatten ihrer ausländischen Herkunft würde verbergen können? Er wusste es nicht. Er hatte nie die Möglichkeit erhalten, es zu erfahren, und konnte auch aus einer Distanz von zwanzig Jahren nicht sagen, wie es zwischen ihnen beiden geworden wäre. Eines aber wusste er mit Sicherheit - dass er endlich genug hatte.

Nachdem er den Porsche abgeholt hatte, fuhr er los, um eine Reise anzutreten, von der er wusste, das sie schon lange fällig war. Sie führte ihn quer durch London, zuerst in südlicher Richtung aus Hampstead hinaus und hinunter zum Regent' s Park, dann ostwärts, immer weiter ostwärts bis in den Hades, in dem seine Albträume ihre Wurzeln hatten.

Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Gegenden Londons war Tower Hamlets nie von den Reichen und Schönen entdeckt worden. Filme, die hier gedreht wurden, zeigten keine witzigen jungen Leute, die sich leidenschaftlich verliebten, ein Boheme-Leben führten und dem Viertel den morbiden Charme verarmten Adels verliehen, der die Yuppies in ihren Range Rovers und mit ihrem ehrgeizigen Bemühen, immer im Trend zu liegen, in Scharen anlockte und so eine Renaissance des Viertels einleitete. Das Wort Renaissance implizierte, dass ein Ort einst bessere Zeiten gesehen hatte, die mit einer kräftigen Finanzspritze aufs Neue belebt werden konnten. Tower Hamlets jedoch war in Pitchleys Augen immer schon der Arsch der Welt gewesen, bereits von dem Moment an, als der Grundstein zum ersten seiner hässlichen Häuser gelegt worden war.

Beinahe so lange er lebte, versuchte er, den Gestank von Tower Hamlets loszuwerden. Von seinem neunten Lebensjahr an hatte er gearbeitet wie ein Tier und von seinem Lohn so viel wie irgend möglich für eine Zukunft auf die Seite gelegt, die er erstrebte, aber nicht recht definieren konnte. Er hatte sich hänseln und schikanieren lassen in der Schule, wo das Lernen zweitrangig war, weil es wichtiger war, die Lehrer zur Weißglut zu treiben, uraltes und nahezu unbrauchbares Lehrmaterial zu demolieren, jede frei Fläche zu beschmieren, die Mädchen im Treppenhaus zu bumsen, in den Papierkörben Feuer zu legen und zu klauen, was es zu klauen gab, vom Taschengeld der Drittklässler bis zu dem Geld, das jedes Jahr zu Weihnachten für die obdachlosen Wermutbrüder des Viertels gesammelt wurde. In dieser Umgebung eingesperrt, hatte er sich gezwungen zu lernen und gierig alles aufgesogen, von dem er hoffte, es könne ihm helfen, aus dem Inferno zu fliehen, in das er sich zur Strafe für eine Sünde, die er in einem früheren Leben begangen hatte, verbannt sah.

In seiner Familie verstand niemand seinen Wunsch zu entkommen. Seine Mutter - nie verheiratet - hockte den ganzen Tag am Fenster ihrer Sozialwohnung und qualmte eine Zigarette nach der anderen, kassierte die Sozialhilfe, als wäre der Staat sie ihr schuldig dafür, dass sie ihm und seinen Bürgern den Gefallen tat, zu atmen, zog die sechs Kinder groß, die sie mit vier Männern gezeugt hatte, und fragte sich laut, wie sie es fertig gebracht hatte, so einen Duckmäuser wie Jimmy in die Welt zu setzen, immer sauber und adrett, als glaubte er, was Besseres zu sein.

»Schaut ihn euch an!«, pflegte sie zu seinen Geschwistern zu sagen. »Immer wie aus dem Ei gepellt, unser Jimmy. Was haben wir denn heute vor, junger Herr?« Und dabei musterte sie ihn von oben bis unten. »Auf, auf zum fröhlichen Jagen, hoch zu ROSS und mit der Meute?«

»Ach Mensch, Mama« pflegte er dann zu sagen, verlegen und unglücklich.

»Is' ja okay, Kleiner. Brauchst uns nur einen von den niedlichen Kötern mitbringen, der kann dann unsern Palazzo hier bewachen. Wär doch gut, Kinder, was meint ihr? Was würdet ihr dazu sagen, wenn unser Jimmy uns einen Hund organisiert?«

»Mama, ich geh doch überhaupt nicht auf die Fuchsjagd«, sagte er.

Und dann schütteten sie sich alle aus vor Lachen, und er hätte die ganze Bande am liebsten mit Fäusten geprügelt.

Seine Mutter war am schlimmsten, sie gab den Ton an. Sie war vielleicht einmal ganz gescheit gewesen. Sie war vielleicht einmal unternehmungslustig gewesen. Sie hätte vielleicht etwas aus ihrem Leben machen können. Aber sie ließ sich mit fünfzehn Jahren ein Kind anhängen - Jimmy -, und dann fand sie heraus, dass man für Kinder kassieren konnte, wenn man nur eines nach dem anderen produzierte. Kindergeld nannte man das. Fesseln, so nannte es Jimmy Pytches.

Und darum machte er die Vernichtung seiner Vergangenheit zu seinem Lebensziel und nahm, sobald er alt genug war, jede Arbeit an, die er bekommen konnte. Was für eine Arbeit das war, interessierte ihn überhaupt nicht - Fenster putzen, Böden schrubben, Teppiche saugen, Hunde spazieren führen, Autos waschen, Babysitten, er machte alles. Es war ihm völlig egal. Hauptsache, er wurde dafür bezahlt. Natürlich konnte er sich mit dem Geld keine andere Familie kaufen, aber es war ein Mittel, der Familie zu entrinnen, die ihn zu ersticken drohte.

Dann ereignete sich dieser plötzliche Kindstod. Er ging ins Kinderzimmer, weil sie viel länger schlief als sonst. Und da lag sie wie eine Plastikpuppe, ein gekrümmtes Händchen am geöffneten Mund, als hätte sie sich selbst beim Atmen helfen wollen. Die winzigen kleinen Fingernägel waren blau unterlaufen, so blau, dass er sofort wusste, dass sie tot war. Und dabei hatte er doch die ganze Zeit im Wohnzimmer gesessen, gleich nebenan. Er hatte sich das Arsenal-Spiel angeschaut. Klasse, hatte er gedacht, das Gör pennt, und ich kann mir in Ruhe das Spiel anschauen. So hatte er die Kleine insgeheim genannt - das Gör -, aber so hatte er es in Wirklichkeit nicht gemeint, hätte es nie gesagt. Er lachte sie immer an, wenn er sie mit ihrer Mutter im Supermarkt traf. Nie dachte er da »das Gör«, immer nur: Ach, da ist ja Sherry mit ihrer Mama. »Hallo, Schnuppel.« Er hatte nämlich seinen eigenen albernen kleinen Spitznamen für sie: Schnuppel.

Nun war sie plötzlich tot, und die Bullen rückten an. Fragen und Antworten und Tränen. Und was für ein Monster musste er sein, dass er sich Arsenal angeschaut hatte, während ein kleines Kind gestorben war, und das Ergebnis des Spiels bis auf den heutigen Tag im Kopf hatte.

Natürlich gab es Klatsch, natürlich gab es Gerüchte. Beides spornte ihn nur umso mehr an in seinem Bestreben, seinem Zuhause und seiner Familie für immer den Rücken zu kehren. Und dieses für immer hatte er geglaubt, erreicht zu haben, eine Art ewigen Paradieses in Gestalt eines herrschaftlichen Hauses in Kensington mit einer Fassade, wie man sie bei den alten holländischen Kaufmannshäusern sah, und einem Medaillon mit der Jahreszahl 1876 unter dem Giebel. Die Leute, die in diesem Haus lebten, waren zu seiner Genugtuung von ebensolcher Klasse wie das Viertel. Ein Kriegsheld, ein musikalisches Wunderkind, eine, wer sagt's denn, waschechte Gouvernante für dieses Kind, eine ausländische Kinderfrau . Welch ein Unterschied zu dem Leben, das er bisher gekannt und das ihn von Tower Hamlets über ein Ein-Zimmer-Apartment in Hammersmith sowie durch endlose teure Schulen geführt hatte, wo er von den Tischmanieren - dass man beispielsweise das Essen nicht mit den Fingern auf die Gabel schob, sondern das Messer dazu benutzte - bis zur kultivierten Ausdrucksweise - etwa wie man »haricots verts« aussprach - so ziemlich alles lernte, was dem gesellschaftlichen Fortkommen diente. Und so kam es, dass am Kensington Square, als er schließlich dort landete, niemand wusste, woher er kam. Am wenigsten Katja, der die englischen Klassenkriterien überhaupt nichts sagten.

Aber dann war sie schwanger geworden, und im Gegensatz zu seiner Mutter, für die ihre Schwangerschaften nichts weiter gewesen waren als kleine Unannehmlichkeiten, die sie zwangen, ein paar Monate lang unförmige Kleider zu tragen, hatte Katja gelitten, so dass es ihr unmöglich gewesen war, ihren Zustand zu verheimlichen. Und durch diese Schwangerschaft war das ganze spätere Unglück heraufbeschworen worden, einschließlich der Enthüllung seiner eigenen Vergangenheit, die wie die Kloake, die sie war, sein Leben am Kensington Square zu vergiften drohte.

Trotzdem hatte er geglaubt, aufs Neue entfliehen zu können. James Pitchford, dessen Vergangenheit wie ein Damoklesschwert über ihm hing, hatte nur darauf gewartet, von sämtlichen Sensationsblättern als »Der Untermieter, gegen den einst im Zusammenhang mit einem plötzlichen Kindstod ermittelt wurde« angeprangert und als Jimmy Pytches entlarvt zu werden, den armseligen Narren aus den Slums, der unbedingt etwas Besseres sein wollte. Also hatte er sich von neuem verwandelt und war in die Haut J. W. Pitchleys geschlüpft, Finanzgenie und Börsenspezialist. Aber immer auf der Flucht, immer bereit zu fliehen.

Darum war er nun hier in Tower Hamlets gelandet: ein Mann, der endlich begriffen hatte, dass er drei Möglichkeiten hatte, dem zu entrinnen, was er nicht ertragen konnte: Er könnte sich das Leben nehmen; er könnte aufs Neue seine Identität wechseln; oder er könnte bis in alle Ewigkeit fliehen, nicht nur aus seiner Heimatstadt London, sondern vor allem, wofür London - und England - stand.

Er stellte den Porsche in der Nähe des Hochhauses ab, in dem er als Kind gelebt hatte. Hier hatte sich kaum etwas verändert. Auch die herumlungernden Skinheads gab es noch, drei waren es, die in der Türnische eines Ladens lümmelten und rauchten, während sie ihn und sein Auto mit demonstrativer Aufmerksamkeit beobachteten.

»Hey«, rief er sie an, »wollt ihr euch zehn Pfund verdienen?«

Einer von ihnen spie einen Klumpen gelben Schleims auf die Straße. »Jeder?«, fragte er.

»In Ordnung. Jeder.«

»Und - was sollen wir dafür tun?«

»Auf meinen Wagen aufpassen. Darauf achten, dass keiner ihn anrührt. Okay?«

Sie zuckten die Achseln. Pitchley nahm es als Zusage. Er nickte ihnen zu. »Zehn jetzt, zwanzig später.«

»Her damit«, sagte der Anführer der drei und kam schlurfend auf ihn zu, um sich das Geld zu holen.

Als Pitchley dem aggressiv wirkenden Burschen den Schein gab, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass der Typ leicht sein jüngster Halbbruder Paul sein könnte. Er hatte den kleinen Paulie seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Wäre das nicht ein Witz, wenn er dieses Erpressergeld seinem eigenen Bruder übergäbe, ohne dass einer den anderen erkannte? Aber mittlerweile hätte er vermutlich keines seiner Geschwister mehr erkannt. Es war gut möglich, dass es inzwischen mehr geworden waren als die fünf, die er gehabt hatte, als er damals abgehauen war.

Er ging zwischen den Wohnsilos hindurch: eine verdorrte Rasenfläche, mit Kreide aufgemalte Himmel- und-Hölle-Quadrate auf unebenem Asphalt, ein Fußball ohne Luft mit einem Messerschlitz in der Haut, zwei umgekippte Einkaufswagen, von denen jemand die Räder entfernt hatte. Drei kleine Mädchen versuchten, auf einem der betonierten Fußwege zu skaten und mussten ständig, noch ehe sie richtig in Fahrt gekommen waren, vor Rissen oder Schlaglöchern abbremsen.

Als Pitchley den Aufzug des Hochhauses erreichte, stellte er fest, dass er außer Betrieb war. Das Schild, in Blockschrift beschrieben, hing an der uralten Chromtür, die längst von den Spraykünstlern des Hauses üppig dekoriert worden war.

Pitchley begann, die sieben Stockwerke hinaufzulaufen. Sie musste ja unbedingt »'n bisschen Aussicht« haben, wie sie es zu formulieren pflegte. Es war verständlich, da sie den ganzen Tag nichts anderes tat, als in dem uralten, durchhängenden Sessel zu sitzen, der schon seit Ewigkeiten neben dem Fenster stand, und zu rauchen, zu trinken und auf den Fernseher zu glotzen.

Im zweiten Stock ging Pitchley die Luft aus. Er musste auf dem Treppenabsatz Rast machen und tief die nach Urin stinkende Luft einatmen, bevor er weiter gehen konnte. In der fünften Etage ruhte er sich noch einmal aus. Als er in der siebten ankam, war er völlig verschwitzt.

Auf dem Weg zur Wohnungstür rieb er sich den Nacken trocken. Er zweifelte keinen Augenblick, dass sie da sein würde. Jen Pytches würde ihren Hintern höchstens in Bewegung setzten, wenn das Haus in Flammen stand. Und auch nur mit Widerwillen und besorgt, ihre Lieblingssendung im Fernsehen ja nicht zu versäumen.

Er klopfte. Geplapper schallte ihm aus der Wohnung entgegen, Fernsehstimmen, nach denen man die Tageszeit festsetzen konnte. Morgens Talkshows, am Nachmittag war es Billard - Gott allein wusste, warum -, und der Abend gehörte den Seifenopern.

Auf sein Klopfen hin rührte sich nichts. Er klopfte noch einmal, lauter, und rief: »Mama?« Als er versuchsweise den Knauf drehte, stellte er fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Er öffnete sie einen Spalt und rief noch einmal: »Mama!«

»Was ist denn?«, fragte sie. »Bist du das, Paulie? Willst du mir vielleicht erzählen, du wärst schon bei der Arbeitsvermittlung gewesen? Glaub ja nicht, du kannst mich verarschen, Kleiner. Ich bin doch nicht von gestern.« Sie hustete, röchelnd und verschleimt, und Pitchley drückte mit den Fingerspitzen die Tür nach innen auf.

Er betrat die Wohnung und ging zu seiner Mutter, die er vor fünfundzwanzig Jahren das letzte Mal gesehen hatte.

»Na, so was«, sagte sie.

Sie saß am Fenster, genau wie er erwartet hatte, aber sie war nicht mehr die Frau, die er aus seiner Kindheit in Erinnerung hatte. Fünfundzwanzig Jahre Trägheit, aus der sie sich höchstens gezwungenermaßen hin und wieder herausgerissen hatte, hatten aus seiner Mutter eine Frau wie einen Berg gemacht, die Massen in eine Stretchhose gepresst, über der sie ein Hemd von Fallschirmausmaßen trug. Wäre er ihr auf der Straße begegnet, er hätte sie nicht erkannt. Er hätte sie auch jetzt nicht erkannt, wenn sie nicht gesagt hätte: »Jim, Junge, das is' aber 'ne Überraschung.«

Er sagte: »Hallo, Mama«, und sah sich in der Wohnung um. Alles war wie früher. Da war das U-förmige blaue Sofa, da waren die Lampen mit den verbeulten Schirmen, und an der Wand hingen dieselben Fotos: eines von jedem kleinen Pytches-Sprössling auf dem Schoß des jeweiligen leiblichen Vaters, den Jen für diese Gelegenheit eigens herbeizitiert hatte. O Gott, bei dem Anblick kehrten schlagartig die Erinnerungen zurück an dieses alberne Theater, wenn die Kinder sich wie die Orgelpfeifen aufstellen mussten und Jen, auf die Bilder zeigend, sagte: »Das ist dein Dad, Jim, er hieß Trev. Aber ich hab ihn immer nur meinen kleinen Zuckerjungen genannt.« Und: »Deiner hieß Derek, Bonnie. Schau dir den Stiernacken von dem Mann an, Mädchen. Dem hab ich die Arme nicht um den Hals legen können, das kannst du mir glauben. O ja, war schon ein Mann, dein Vater, Bon.« Und so ging es weiter, die Reihe entlang, immer der gleiche Vortrag, einmal die Woche, damit die Kinder es nicht vergaßen.

»Darf man fragen, was du willst, Jim?«, sagte seine Mutter und griff ächzend nach der Fernbedienung des Fernsehapparats. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie einen Moment auf den Bildschirm, als wollte sie sich einprägen, was gerade lief, dann stellte sie den Ton leiser.

»Ich geh weg«, sagte er. »Das wollte ich dir nur sagen.«

Sie sah ihn ruhig an. »Du warst schon die ganze Zeit weg, Kleiner. Wie viele Jahre jetzt? Was soll da plötzlich anders sein?«

»Dass ich nach Australien gehe«, antwortete er. »Oder Neuseeland. Kanada vielleicht. Ich weiß noch nicht. Aber ich wollte dir sagen, dass es auf Dauer ist. Ich löse hier alles auf und fange neu an. Ich wollt's dich wissen lassen, damit du es den anderen sagen kannst.«

»Ich glaub nicht, dass die sich bis jetzt groß Gedanken drüber gemacht haben, wo du geblieben bist«, entgegnete seine Mutter.

»Ich weiß. Trotzdem…« Er fragte sich, wie viel seine Mutter wusste. So weit er sich erinnern konnte, hatte sie nie Zeitung gelesen. Das ganze Land konnte zum Teufel gehen - ob die Politiker sich schmieren ließen, die Royals stürzten, das Oberhaus zu den Waffen griff, um sich gegen die Pläne des Unterhauses zu seiner Abschaffung zu wehren, ob Sportler starben, Rockstars an Überdosen von Designer-Drogen krepierten, Züge verunglückten, auf dem Piccadilly Bomben explodierten -, das alles interessierte sie nicht und hatte sie nie interessiert. Sie würde also nicht wissen, was einem gewissen James Pitchford widerfahren war und was dieser unternommen hatte, damit ihm nicht noch mehr passierte.

»Alte Zeiten eben«, sagte er vage. »Du bist schließlich meine Mutter. Ich hab mir gedacht, du hast ein Recht darauf.«

»Hol mir mal meine Kippen«, sagte sie mit einer Kopfbewegung zu einem Tisch beim Sofa, wo auf einer Frauenzeitschrift eine Packung Benson & Hedges lag. Er brachte ihr die Zigaretten, und sie zündete sich eine an, den Blick auf den Bildschirm des Fernsehgeräts gerichtet, wo die Kamera aus der Vogelperspektive einen Billardtisch zeigte, an dem ein Spieler stand und zu seinem nächsten Stoß ausholte.

»So, so, alte Zeiten«, wiederholte sie. »Nett von dir, Jim. Also dann, alles Gute.« Und sie stellte den Ton des Fernsehapparats wieder laut.

Er trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, sah sich nach etwas um, womit er sich beschäftigen könnte. Er war eigentlich gar nicht ihretwegen hierher gekommen, aber er sah ihr an, dass sie ihm nichts über seine Geschwister sagen würde, wenn er sie direkt fragte. Sie schuldete ihm nichts, das wussten sie beide. Man tat nicht ein Vierteljahrhundert lang so, als hätte es die eigene Vergangenheit nie gegeben, und kreuzte dann aus heiterem Himmel bei der Mutter auf, weil man sich Hilfe von ihr erhoffte.

Er sagte: »Es tut mir echt Leid, Mama. Wirklich. Aber es war der einzige Weg.«

Sie winkte ab. Der Rauch ihrer Zigarette schob sich wie eine graue Schlange durch die Luft. Und bei dem Anblick fühlte er sich schlagartig in eine andere Zeit zurückversetzt. Es war genau in diesem Zimmer hier, seine Mutter lag auf dem Boden, sie hatte Wehen, das Kind drängte ans Licht, und sie rauchte eine Zigarette nach der anderen, denn wo, zum Teufel, blieb der Rettungswagen, den sie gerufen hatte? Verdammt noch mal, hatte sie vielleicht kein Recht auf Hilfe, wenn's nötig war? Er war ganz allein mit ihr gewesen, als es losgegangen war. Geh nicht weg, Jim. Lass mich jetzt nicht allein, mein Junge. Das Ding war so schleimig wie ein ungekochter Kabeljau und ganz blutig, und es hing immer noch an der Nabelschnur, und sie rauchte die ganze Zeit, paffte unaufhörlich, während das Kind kam, und der Rauch schob sich durch die Luft wie eine graue Schlange.

Pitchley ging in die Küche, um die Erinnerung an den Zehnjährigen abzuschütteln, der zu Tode erschrocken mit dem blutigen Neugeborenen in den Armen im Zimmer gestanden hatte. Halb vier Uhr morgens war es gewesen. Seine Brüder und die Schwester hatten geschlafen, die Nachbarn hatten geschlafen, die ganze beschissene Welt hatte geschlafen, alle hatten sie ihre Träume geträumt und sich einen Dreck gekümmert.

Kinder waren ihm nach diesem Erlebnis ein Gräuel gewesen. Und die Vorstellung, selbst eines in die Welt zu setzen… Je älter er wurde, desto klarer wurde ihm, dass er dieses Drama nicht ein zweites Mal in seinem Leben brauchte.

Er trat zum Spülbecken und drehte den Hahn auf. Ein kühler Schluck oder ein paar Hände voll Wasser ins Gesicht gespritzt, das würde die Erinnerung vielleicht vertreiben. Als er nach einem Glas griff, hörte er draußen die Tür aufgehen und einen Mann sagen: »Da hast du mal wieder den totalen Mist gebaut. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du bei Kundengesprächen gefälligst die Schnauze halten sollst!«

Ein zweiter Mann sagte: »Ich hab's doch nur gut gemeint. Frauen mögen's, wenn man ihnen ein bisschen schön tut.«

Woraufhin der Erste entgegnete: »Blödsinn! Die sind wir los, du Idiot.« Und dann: »Hallo, Mama, wie läuft's?«

»Wir haben Besuch«, sagte Jen Pytches.

Während Pitchley das Wasser trank, hörte er die Schritte im Wohnzimmer, die sich der Küche näherten. Er stellte sein Glas in das schmutzige Spülbecken und drehte sich nach seinen beiden jüngeren Brüdern um. Sie füllten den Raum, groß und massig wie ihr Vater, mit Köpfen wie Wassermelonen und riesigen Händen. Pitchley fühlte sich wie immer in ihrer Gegenwart: klein und hässlich. Und er verfluchte wie immer das Schicksal, das seiner Mutter eingegeben hatte, sich mit einem wahrhaften Zwerg zu paaren, um ihn - James - zur Welt zu bringen, und sich für ihre darauf folgenden beiden Söhne einen Preisringer als Vater auszusuchen.

»Robbie«, sagte er statt einer Begrüßung zum Älteren der beiden und »Brent« zum Jüngeren. Sie trugen beide schwere Stiefel, Bluejeans und Windjacken, auf denen vorn und hinten der Aufdruck Rolling Suds prangte. Sie hatten gearbeitet, vermutete Pitchley, in dem Bemühen, das mobile Autowaschunternehmen in Schwung zu halten, das er selbst auf die Beine gestellt hatte, als er dreizehn Jahre alt gewesen war.

Robbie führte wie immer das Wort. »Tja, wen haben wir denn da? Unseren großer Bruder! Da staunst du, was, Brent? Und schaut er nicht heiß aus in seinen piekfeinen Klamotten?«

Brent lachte unterdrückt und kaute auf seinem Daumennagel, während er wie gewöhnlich wartete, um Robs Vorbild zu folgen.

Pitchley sagte: »Du hast gewonnen, Rob. Ich hau ab.«

»Du haust ab? Wie meinst du das?« Robbie ging zum Kühlschrank, nahm eine Dose Bier heraus und warf sie Brent zu.

»Ma«, rief er, »willst du von hier draußen was haben? Was zu essen oder zu trinken?«

Sie sagte: »Das ist nett von dir, Rob. Gegen ein Stück von der Schweinefleischpastete von gestern hätte ich nichts einzuwenden. Siehst du sie? Sie liegt ganz oben. Sie muss gegessen werden, bevor sie schlecht wird.«

»Ja, ich hab sie«, verkündete Rob. Er kippte die bröckelnden Reste der Pastete auf einen Teller und drückte diesen seinem Bruder in die Hand. Der verschwand im Wohnzimmer.

Rob machte sein Bier auf, setzte die Dose an die Lippen und leerte sie in einem langen Zug. Er griff sich die andere Dose, die sein Bruder leichtsinnigerweise zurückgelassen hatte.

»So, so«, sagte er, »du haust also ab, hm? Und wohin haust du ab,Jay?«

»Ich wandere aus, Rob. Ich weiß noch nicht, wohin. Es ist mir ziemlich egal.«

»Aber mir nicht.«

Nein, natürlich nicht, dachte Pitchley. Denn woher würde jetzt die Kohle kommen, wenn er wieder mal beim Buchmacher Schulden hatte, wenn er wieder mal einen Wagen zu Schrott gefahren hatte, wenn er Bock auf einen Urlaub am Meer hatte? Ohne den guten Jay, der ihm bei Bedarf stets einen Scheck ausgeschrieben hatte, würde das Leben für Robbie spürbar anders verlaufen. Er würde sich tatsächlich ein bisschen reinhängen müssen ins Autowaschgeschäft, und wenn die Firma pleite ging - was unter Robs launischem Management seit Jahren drohte -, gab es niemanden mehr, auf den er in der Not zurückgreifen konnte. Tja, so ist das Leben, Rob, dachte Pitchley. Die Gans, die bisher die goldenen Eier gelegt hat, ist im Begriff, davonzufliegen. Der Silberstreif am Horizont wird für immer verschwinden. Du hast mich überall aufgespürt, wenn du mich gerade gebraucht hast, von East London über Hammersmith und Kensington bis nach Hampstead, aber damit wirst du dich schwer tun, wenn ich erst überm Ozean bin.

Er sagte noch einmal: »Ich weiß nicht, wo ich landen werde. Keine Ahnung.«

»Was willst du dann noch hier?« Mit der Hand, die die Bierdose hielt, machte Robbie eine ausholende Bewegung, die Pitchley und die schäbige Behausung seiner Kindheit umfasste. »Wegen der alten Zeiten bist du doch bestimmt nicht hergekommen, Jay, oder? Die möchtest du doch am liebsten vergessen. Aber ich will dir mal was sagen - es gibt Leute, die sich das nicht leisten können. Uns fehlt das nötige Kleingeld, Jay, und darum bleibt alles, was wir erlebt haben, schön da oben drin und dreht sich wie ein Karussell.« Wieder hob er die Hand mit der Bierdose, um zu demonstrieren, wie sich das Karussell in seinem Kopf drehte. Dann stopfte er beide Dosen in die Plastiktüte, die vom Knopf einer der Küchenschubladen herabhing und der Familie als Müllbeutel diente.

»Ich weiß«, sagte Pitchley.

»Du weißt, du weißt«, höhnte sein Bruder. »Du weißt gar nichts, Jay, und das solltest du mal lieber nicht vergessen.«

Wohl zum tausendsten Mal sagte Pitchley zu seinem Bruder:

»Ich habe dich nicht gebeten, dich mit ihnen anzulegen. Was du getan hast -«

»Na klar, na klar. Du hast mich nicht gebeten, du hast nur gesagt: >Hast du gesehen, was sie über mich geschrieben haben, Rob?< Genau das hast du gesagt. >Die reißen mich in Stücke<, hast du gesagt. >Wenn das vorbei ist, dann ist von mir nichts mehr übrig.<«

»Kann ja sein, dass ich das gesagt habe, aber ich meinte doch nur -«

»Scheiß drauf, was du gemeint hast!« Robbie trat mit dem Fuß gegen einen Schrank.

Pitchley zuckte zusammen.

»Was ist denn hier los?« Brent war zurück, mit den Zigaretten seiner Mutter, und er zündete sich eine an.

»Dieser Witzbold will schon wieder abhauen und behauptet, er weiß noch nicht, wohin. Wie findest du das?«

Brent kniff die Augen zusammen. »Hey, das ist echt Scheiße, Mann«, sagte er zu Pitchley.

»Da hast du verdammt Recht. Scheiße ist das!« Robbie stach mit einem Finger nach Pitchleys Gesicht. »Ich hab für dich gesessen. Sechs Monate war ich im Knast. Hast du 'ne Ahnung, was da drinnen läuft? Ich kann's dir sagen.« Und dann leierte er sie herunter, dieselbe alte Litanei, die Pitchley jedesmal zu hören bekam, wenn sein Bruder mehr Geld haben wollte. Sie begann mit der Ursache von Robbies Problemen mit dem Gesetz: Er hatte einen Journalisten zusammengeschlagen, der in James Pitchfords sorgfältig konstruierter Vergangenheit tatsächlich Jimmy Pytches aufgestöbert und die Story, die er von einem Informanten bei der Polizei Tower Hamlets erhalten hatte, nicht nur veröffentlicht hatte, sondern ihr gleich noch einen zweiten Bericht hatte folgen lassen, trotz allen Warnungen Robs, der überhaupt nichts - »einen Dreck, Jay, verstehst du mich?« - dadurch zu gewinnen hatte, dass er in die Bresche sprang, um den Ruf eines Bruders zu schützen, der die Familie vor Jahren im Stich gelassen hatte. »Du hast dich doch um keinen von uns gekümmert, solange du uns nicht gebraucht hast, Jay, und dann hast du uns ausgenützt bis aufs Blut.«

Er hat wirklich ein unglaubliches Talent, die Geschichte umzuschreiben, dachte Pitchley und sagte: »Du hast dich damals um mich >gekümmert<, Rob, weil du mein Bild in der Zeitung gesehen hattest. Du bist nur gekommen, weil du die Chance gewittert hast, mich dir zu verpflichten. Man schlägt ein paar Schädel ein, man bricht ein paar Knochen. Und das alles nur, damit Jimmys Vergangenheit nicht raus kommt. Das wird ihm bestimmt gefallen. Der schämt sich ja seiner Familie. Und wir brauchen nur dafür zu sorgen, dass er immer ein bisschen Angst hat, wir könnten plötzlich aus der Versenkung auftauchen, dann schiebt er die Kohle schon rüber, der Trottel. Und zwar immer dann, wenn wir welche brauchen.«

»Ich hab in einer Zelle gehockt«, brüllte Robbie. »Ich hab in 'nen gottverdammten Eimer geschissen. Hast du das kapiert, Kumpel? Die haben mich in der Dusche ran genommen, Jay. Und was ist dir passiert, hm?«

»Du!«, schrie Pitchley. »Du und Brent, ihr seid mir passiert! Ihr beide sitzt mir doch seitdem unaufhörlich im Nacken und haltet die Hände auf.« »Wieso, was -«, begann Brent, aber sein Bruder ließ ihn nicht ausreden.

»Halt du bloß die Schnauze!« Rob warf den Müllbeutel nach Brent. »Du kapierst doch überhaupt nichts, du blöder Hund.«

»Er hat gesagt -«

»Schnauze! Ich hab selbst gehört, was er gesagt hat. Hast du nicht begriffen, was er meint? Dass wir Schmarotzer sind. Das meint er. Dass wir ihm was schulden, und nicht umgekehrt.«

»Das sage ich doch gar nicht.« Pitchley griff in seine Tasche. Er zog das Scheckbuch heraus, in dem der unvollständig ausgefüllte Scheck lag, den er zu schreiben begonnen hatte, als die Polizistin vom Yard aufgekreuzt war. »Aber ich sage, dass jetzt Schluss ist, weil ich mich ausklinke, Rob. Ich schreibe noch diesen letzten Scheck aus, und danach müsst ihr allein sehen, wie ihr zurecht kommt.«

»Schieb dir doch dein Geld in den Arsch!« Rob machte Anstalten, sich auf ihn zu stürzen. Brent wich hastig zum Wohnzimmer zurück.

»Hey, was ist los da draußen?«, rief Jen Pytches.

»Rob und Jay-«

»Halt endlich die Schnauze! Jesus, Maria, warum bist du bloß so ein gottverdammter Blödmann, Brent?«

Pitchley zog einen Kugelschreiber heraus. Aber bevor er zu schreiben beginnen konnte, war Rob da. Er riss ihm das Scheckbuch aus der Hand und schleuderte es an die Wand. Es knallte gegen ein Bord mit Steingutbechern, die laut scheppernd herunterfielen.

»Hey!«, schrie Jen von nebenan.

Pitchley sah blitzartig sein Leben vor sich ablaufen.

Brent rettete sich mit einem Sprung ins Wohnzimmer.

»Du blöder Wichser«, zischte Rob und packte Pitchley beim Revers seines Jacketts. Mit einem Ruck riss er ihn nach vorn, dass es ihm den Kopf in den Nacken schleuderte. »Du verstehst überhaupt nichts, du Trottel. Du hast nie verstanden, worum's geht.«

Pitchley schloss die Augen und wartete auf den Schlag. Aber der kam nicht. Stattdessen stieß ihn sein Bruder so heftig von sich weg, wie er ihn zu sich herangerissen hatte, und er prallte mit Wucht gegen das Spülbecken.

»Ich hab's nie auf dein Scheißgeld abgesehen gehabt«, erklärte Rob. »Du hast's rüber geschoben, ja, stimmt. Und ich hab's gern genommen. Geld kann man immer brauchen. Aber du warst derjenige, der immer gleich das Scheckbuch gezückt hat, wenn er meine Fresse gesehen hat. >Ich geb dem Kerl einen Tausender oder zwei, dann wird er schon wieder verschwinden.< So hast du gedacht. Und mir wirfst du vor, dass ich das Geld genommen hab, das du mir hingehalten hast, wo du's mir sowieso nur gegeben hast, um dein zartes Gewissen zu beruhigen.«

»Ich habe nie was getan, weswegen ich ein schlechtes Gewissen -«

Robs Hand sauste wie ein Fallbeil durch die Luft, um Pitchley das Wort abzuschneiden. »Du hast so getan, als gab's uns überhaupt nicht, Jay. Also, gib nicht mir die Schuld an dem, was du getan hast.«

Pitchley schluckte. Mehr gab es nicht zu sagen. Es war zu viel Wahres an Robs Behauptung und zu viel Lüge in seiner eigenen Vergangenheit.

Das Dröhnen des Fernsehapparats drüben im Wohnzimmer wurde lauter. Jen hatte den Ton noch einmal höher gedreht, um nicht hören zu müssen, was ihre beiden ältesten Söhne in der Küche trieben. Nicht meine Sache, bedeutete die Geste.

Genau, dachte Pitchley. Wie es uns geht und was aus uns wird, ist nie deine Sache gewesen.

Er sagte: »Tut mir Leid, Rob. Ich hab keinen anderen Weg gewusst, mir ein Leben aufzubauen.«

Rob wandte sich ab. Er ging wieder zum Kühlschrank, nahm noch eine Dose Bier heraus und öffnete sie. Er hob sie zu einem spöttischen Abschiedstoast hoch. »Ich wollte immer nur dein Bruder sein, Jim.«

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