Yasmin Edwards hatte an diesem Morgen eine Menge zu tun und war froh darüber. Ein Frauenhaus in Lambeth hatte ihr sechs neue Kundinnen geschickt, die alle zu gleicher Zeit in ihren Laden gekommen waren. Keine von ihnen brauchte eine Perücke - die wurden meistens von Frauen verlangt, die sich einer Chemotherapie unterziehen mussten oder an krankhaftem Haarausfall litten -, aber alle wünschten sie ein neues Make-up und neue Frisuren, um ihren Typ zu verändern, und Yasmin half ihnen gern. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie einem, von einem Mann missbraucht und erniedrigt, zu Mute war, und es überraschte sie nicht, dass die Frauen zunächst sehr zurückhaltend waren und nur leise und zaghaft von ihrem Aussehen sprachen und den Veränderungen, die sie sich von Yasmin Edwards' Künsten erhofften. Yasmin ging deshalb sehr behutsam mit ihnen um und ließ sie, nachdem sie sie mit Zeitschriften versorgt hatte, bei Kaffee und Keksen selbst entscheiden.
»Können Sie machen, dass ich wie die da ausschau?« Das war die Frage, die das Eis brach. Eine der Frauen - gut zwei Zentner schwer und weit über sechzig - hatte das Bild eines attraktiven schwarzen Models mit üppigem Busen und aufgeworfenem Schmollmund gewählt.
»Wenn du nachher so ausschaust, Mädchen, geh ich aus diesem gottverdammten Laden nie wieder raus«, sagte eine der anderen, und alle lachten schallend.
Danach lief alles problemlos.
Merkwürdigerweise erinnerte der Geruch der Reinigungsflüssigkeit, mit der sie die Arbeitstische sauber machte, nachdem die Frauen gegangen waren, sie plötzlich an den Morgen. Sie fragte sich flüchtig, warum, als ihr einfiel, dass sie gerade dabei gewesen war, die Badewanne zu säubern, in der von Davids Perückenwäsche am vergangenen Abend noch ein paar Haare hingen, als Katja ins Bad kam, um sich die Zähne zu putzen.
»Gehst du heute in die Arbeit?«, fragte Yasmin. Daniel war schon zur Schule gegangen. Sie konnten zum ersten Mal offen miteinander reden. Oder es wenigstens versuchen.
»Klar«, antwortete Katja. »Wieso sollte ich nicht?«
Sie sprach das englische »W« immer noch nach deutscher Art wie ein stimmhaftes »V« aus; dabei, dachte Yasmin manchmal, hätten zwanzig Jahre in englischer Umgebung eigentlich reichen müssen, um Katja selbst die hartnäckigsten Sprachgewohnheiten auszutreiben. Ihr Akzent hatte Yasmin immer gefallen, aber jetzt war das vorbei. Sie hätte nicht sagen können, wann diese Eigenart für sie den Charme verloren hatte. Lange war es noch nicht her. Aber auf den Tag genau konnte sie es nicht sagen.
»Er hat behauptet, du hättest blaugemacht. Viermal bereits.«
Im Spiegel über dem Waschbecken fixierte Katja mit ihren blauen Augen die Freundin. »Und das glaubst du, Yas? Er ist Bulle, und du und ich, wir sind… Du weißt, was wir für ihn sind: zwei lesbische Knastschwestern, die wieder raus sind. Ich hab genau gesehen, wie er uns angeschaut hat. Wieso sollte so einer uns sagen, was wirklich läuft, wenn er mit ein paar Lügen einen Keil zwischen uns treiben kann?«
So ganz unrecht hatte Katja mit ihrer Einschätzung nicht. Yasmin hatte selbst die Erfahrung gemacht, dass der Polizei nicht zu trauen war. Keinem im Vollzug war zu trauen. Die legten sich auf eine Geschichte fest, verbogen dann sämtliche Fakten so, dass sie ihnen in den Kram passten, und präsentierten das Ganze den Gerichten auf eine Art, dass die Gewährung einer Kaution unverantwortlich erschien und ein Prozess im Old Bailey mit nachfolgender langer Gefängnisstrafe als das einzige probate Mittel gegen einen so genannten gesellschaftlichen Missstand war. Als wären sie und Roger Edwards eine Seuche und ihr Opfer gewesen und nicht das, was sie wirklich gewesen waren: Sie, eine Neunzehnjährige, die jahrelang von Stiefvätern, Stiefbrüdern und deren Freunden missbraucht worden war; er ein gelbhaariger Australier, der seiner Freundin nach London folgte, wo er mit einem Band Gedichten unterm Arm abserviert worden war. Diesen selben Gedichtband hatte er an der Kasse bei Sainsbury liegen lassen, wo sie einmal in der Woche seine Einkäufe in die Kasse eintippte. Und wegen dieses Gedichtbands hatte sie geglaubt, er wäre etwas anderes als das, was sie gewöhnt war.
Und das war er auch, dieser Roger Edwards. Er war anders, in vielerlei Hinsicht. Nur nicht da, wo es zählte.
Was eine Frau und einen Mann zueinander trieb, war nie einfach. Oberflächlich betrachtet, sah es einfach aus - Schwanz und Möse -, aber so war es nie. Man konnte es nicht erklären: ihre Geschichte und die Rogers, ihre Ängste und seine ungeheure Hoffnungslosigkeit, ihre beiderseitige Bedürftigkeit und die unausgesprochenen Erwartungen des einen an den anderen. Sichtbar war nur das Ergebnis: Ständige Beschuldigungen, die seiner Sucht entsprangen, und ewige Zurückweisungen dieser Beschuldigungen, die niemals ausreichten, zu denen stets Beweise verlangt wurden, die wiederum zu neuen Anschuldigungen Anlass gaben. Sie wurden mit einer sich steigernden Paranoia hervorgebracht, die wiederum von Drogen und Alkohol gespeist wurde, bis sie ihn schließlich nur noch los sein, nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, auch wenn ihr Sohn wie so viele Kinder ihres Viertels ohne Vater aufwachsen würde; auch wenn sie damit gegen ihren festen Vorsatz verstieß, Daniel auf keinen Fall von lauter Frauen umgeben aufwachsen zu lassen.
Doch Roger weigerte sich zu gehen. Er wehrte sich. Er wehrte sich ernstlich. So wie ein Mann sich gegen einen Mann wehrt - stumm, mit Fäusten und Gewalt. Aber sie hatte die Waffe gehabt, und sie hatte sie benützt.
Fünf Jahre hatte sie dafür im Gefängnis gesessen. Sie war festgenommen und unter Anklage gestellt worden. Mit einer Körpergröße von einem Meter achtzig überragte sie ihren Mann um Haupteslänge. »Wieso also, meine Damen und Herren Geschworenen, glaubte diese Frau, sie müsse sich mit einem Messer zur Wehr setzen, als er angeblich aggressiv wurde?« Er hatte, wie es so schön hieß, unter dem Einfluss einer »körperfremden Substanz« gestanden, und die meisten seiner Schläge hatten sie verfehlt oder waren zu kurz gewesen oder hatten sie lediglich gestreift, anstatt sie dort zu treffen, wo sie ihr Schmerz bereitet oder, noch besser, etwas gebrochen hätten. Dennoch hatte sie gemeint, sich mit einem Messer gegen ihn wehren zu müssen, und hatte ihm nicht weniger als achtzehn Stiche beigebracht.
Mehr Blut wäre von Nutzen gewesen bei den nachfolgenden Untersuchungen durch die Polizei. Mehr Blut von ihr als von Roger. So hatte sie nicht mehr vorzuweisen als die Geschichte von dem attraktiven blonden Typen, der, gerade von seiner Freundin sitzen gelassen, den Blick eines jungen Mädchens auf sich zieht, das sich vor der Welt versteckt. Er lockt sie aus ihrem Schneckenhaus heraus; sie verspricht ihm einen erfrischenden Schluck Vergessen. Und was war schon groß dabei, wenn er ein wenig kokste und viel trank? Diese Verhaltensweisen waren ihr vertraut. Aber zwei Dinge hatte sie nicht akzeptieren können: Den Abstieg in Armut und Verwahrlosung und die Forderungen, dass sie nachts, in Türnischen, in geparkten Autos oder an den Baum einer Grünanlage gelehnt, das Geld verdienen sollte, um seine Sucht zu finanzieren.
»Raus! Mach sofort, dass du verschwindest!«, schrie sie ihn an. Und an diese schreiende Stimme und diese Worte erinnerten sich später die Nachbarn.
»Erzählen Sie uns einfach die Geschichte, Mrs. Edwards«, hatten die Bullen gesagt, zu Füßen den blutverschmierten Leichnam ihres Mannes. »Sie brauchen uns nur zu erzählen, was passiert ist, dann regeln wir das alles auf dem schnellsten Weg.«
Sie hatte mit Gefängnis dafür bezahlt, dass sie der Polizei ihre Geschichte erzählt hatte. Das war deren Art gewesen, die Dinge auf dem schnellsten Weg zu regeln. Fünf Jahre gemeinsamen Lebens mit ihrem Sohn hatte es sie gekostet, und als sie herausgekommen war, hatte sie nichts gehabt, und die folgenden fünf Jahre hatte sie geschuftet, gebettelt und geborgt, um die verlorene Zeit wieder einzuholen. Katja hatte Recht, und Yasmin wusste es. Man musste schon komplett verrückt sein, um dem Wort eines Bullen zu trauen.
Aber die Behauptungen des Bullen über Katjas Abwesenheiten - von ihrem Arbeitsplatz, von der Wohnung, von weiß Gott wo - waren nicht das Einzige, womit sich Yasmin konfrontiert sah. Es ging auch noch um das Auto. Und ob man dem schwarzen Kerl trauen konnte oder nicht - der Wagen war beschädigt.
Yasmin sagte: »Der eine Scheinwerfer am Auto ist kaputt, Katja. Er hat sich das gestern Abend angesehen, der Bulle, meine ich. Er wollte wissen, wie das passiert ist.«
»Und fragst du mich das jetzt?«
»Ja, schon.« Energisch verrieb Yasmin die Scheuermilch in der alten Wanne, als könnte sie so die Stellen entfernen, wo das Metall durch das Email schimmerte. »Ich kann mich nicht erinnern, dass ich irgendwo dagegengefahren bin. Du?«
»Warum will er das überhaupt wissen? Was geht es ihn an, wie der Scheinwerfer zerbrochen ist?«
Katja war fertig mit dem Zähneputzen und beugte sich über das Waschbecken, um im Spiegel ihr Gesicht zu mustern, wie sie es immer tat, wie auch Yasmin es nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis monatelang getan hatte, um sich immer von neuem zu vergewissern, dass sie wirklich hier war, in diesem besonderen Raum, ohne Aufseher, ohne Gitter, ohne Schloss und Riegel, vor sich ihr Leben - das, was von ihm übrig war -, und verzweifelt bemüht, sich von dieser unstrukturierten Spanne leerer Jahre keine Angst machen zu lassen.
Katja wusch sich das Gesicht und trocknete es. Sie wandte sich um und lehnte sich mit dem Rücken an das Waschbecken, während Yasmin fortfuhr, die Wanne zu reinigen. Als sie die Hähne zudrehte, sagte Katja: »Was will er von uns, Yas?«
»Von dir«, verbesserte Yasmin. »Von mir will er gar nichts. Es geht um dich. Wie ist der Scheinwerfer zu Bruch gegangen?«
»Ich wusste nicht mal, dass er kaputt ist«, antwortete Katja.
»Ich habe ihn nie beachtet… Yas, stellst du dich regelmäßig vor dein Auto und inspizierst es? Hast du gewusst, dass der Scheinwerfer kaputt ist, bevor er dich darauf aufmerksam gemacht hat? Nein? Er kann schon seit Wochen kaputt sein. Ist es denn so schlimm? Das Licht funktioniert doch noch? Wahrscheinlich ist uns auf dem Parkplatz jemand dagegengefahren. Oder auf der Straße.«
Das war gut möglich. Aber kamen Katjas Erklärungen nicht irgendwie zu hastig, waren sie nicht zu bemüht? Und warum fragte sie nicht danach, welcher Scheinwerfer zerbrochen war? Wäre es nicht normal, wissen zu wollen, um welchen Scheinwerfer es sich handelte?
Katja fügte hinzu: »Es kann genauso gut passiert sein, als du den Wagen gefahren hast. Wir wissen ja nicht, wann es passiert ist.«
»Stimmt«, sagte Yasmin gedehnt.
»Was soll dann -«
»Er wollte wissen, wo du warst. Er war bei deiner Arbeitsstelle und hat sich nach dir erkundigt.«
»Sagt er. Aber wenn er wirklich mit ihnen gesprochen hat und sie ihm erzählt haben, dass ich vier Tage nicht da war, warum hat er das dann nur dir gesagt und nicht mir? Ich war doch hier, ich stand mit euch beiden im Zimmer. Warum hat er mich nicht nach einer Erklärung gefragt? Überleg dir das mal.«
Yasmin musste einräumen, dass Katjas Entgegnung logisch und der Überlegung wert war. Der Constable hatte Katja tatsächlich nicht nach einer Erklärung ihrer Abwesenheit von ihrer Arbeitsstelle gefragt, als sie alle drei gemeinsam im Wohnzimmer gewesen waren. Er hatte nur mit Yasmin darüber gesprochen, beinahe vertraulich, als wären sie alte Freunde, die sich nach langer Zeit wieder getroffen hatten.
»Du weißt doch, was das bedeutet«, fuhr Katja fort. »Er will einen Keil zwischen uns treiben, weil ihm das nützlich wäre. Und wenn er es schafft, wird er sich hinterher bestimmt nicht bemühen, uns wieder zusammenzubringen. Auch dann nicht, wenn er erreicht hat, was er will - was immer das auch ist.«
»Er forscht irgendwas aus«, sagte Yasmin. »Oder irgendjemanden. Also -« Sie holte so tief Luft, dass es wehtat. »Hast du mir irgendwas vorenthalten, Katja? Verheimlichst du mir was?«
»Genau so funktioniert es«, sagte Katja. »Genau das bezweckt der Typ.«
»Aber du gibst mir keine Antwort?«
»Weil ich nichts zu sagen habe. Ich hab nichts zu verbergen, weder vor dir noch sonst jemandem.«
Ihr Blick hielt Yasmins stand. Ihre Stimme war fest. Beide, Blick und Stimme, waren voller Verheißung und erinnerten Yasmin an die Geschichte, die sie mit Katja verband. Anfangs war es nur der Trost gewesen, den die eine gespendet und die andere gesucht hatte, dann war aus diesem Trost etwas entstanden, was beiden Kraft gegeben hatte. Aber Gefühle waren nicht unzerstörbar. Das wusste Yasmin aus Erfahrung. Sie sagte: »Katja, du würdest es doch sagen, wenn…?«
»Wenn was?«
»Wenn .«
Neben Yasmin, die immer noch über die Wanne gebeugt stand, kniete Katja nieder und zeichnete mit den Fingern behutsam die geschwungene Linie von Yasmins Ohr nach. »Du hast fünf Jahre auf mich gewartet«, sagte sie. »Es gibt kein Wenn, Yas.«
Sie küssten einander lange und zärtlich, und Yasmin dachte nicht wie beim ersten Mal, so ein Irrsinn, ich küsse eine Frau… sie streichelt mich… ich lasse mich von ihr streicheln… Es ist der Mund einer Frau, der mich küsst, der mich dort küsst, wo ich geküsst werden möchte… Es ist eine Frau, und was sie tut - ja, ja, ich will es. Sie dachte nur daran, wie es war, mit dieser Frau zusammen zu sein, sich geborgen und ihrer sicher zu fühlen.
Sie packte die Schminksachen wieder in den Make-upKoffer und sammelte die Papiertücher ein, mit denen sie die Arbeitstische abgewischt hatte, an denen die Frauen gesessen hatten, um sich von ihr schön machen zu lassen. Sie musste lächeln, als sie daran dachte, wie sie sich an ihrer Verwandlung ergötzt hatten, kichernd und lachend wie Schulmädchen.
Yasmin hatte Freude an ihrer Arbeit. Als ihr das bewusst wurde, schüttelte sie unwillkürlich den Kopf, erstaunt und dankbar dafür, dass lange Jahre im Gefängnis sie nicht nur zu einer Beschäftigung geführt hatten, die sie befriedigte, sondern auch zu einer Gefährtin, die sie liebte, und in ein Leben, das ihr wichtig war. Sie wusste, dass ein Happyend nach einem so harten Weg, wie sie ihn gegangen war, selten war.
Hinter ihr wurde die Ladentür geöffnet. Das würde Mrs. Newlands älteste Tochter Naseesha sein, die Mamas frisch gewaschene Perücke abholen wollte.
Mit einem Lächeln drehte sich Yasmin um.
»Ich hätte Sie gern einen Moment gesprochen«, sagte der schwarze Constable.
Major Ted Wiley war der Letzte in Henley, dem Lynley und Barbara Havers die Fotografie von Katja Wolff zeigten. Geplant war das nicht. Normalerweise hätten sie ihm das Bild zuerst gezeigt. Er war, zumindest seinen eigenen Angaben zufolge, Eugenie Davies' engster Freund und nächster Nachbar gewesen, und von ihm wäre wohl am ehesten anzunehmen gewesen, dass er Katja Wolff gesehen hatte, wenn diese tatsächlich nach Henley gekommen war, um Eugenie Davies aufzusuchen. Aber bei ihrer Ankunft in der Friday Street hatten sie die Buchhandlung geschlossen vorgefunden, mit einem Schild an der Tür: »Bin gleich zurück.« Daraufhin zeigten sie die Fotografie in sämtlichen anderen Geschäften in der Friday Street herum, jedoch ohne Erfolg.
Barbara wunderte das nicht. »Ich sag Ihnen, wir sind auf dem Holzweg, Inspector«, erklärte sie Lynley mit Märtyrermiene.
»Es ist ein Anstaltsbild«, erwiderte er. »So schlecht wie ein Passfoto. Es hat möglicherweise überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihr. Versuchen wir unser Glück im Sixty Plus Club, bevor wir aufgeben. Wenn dieser Mann ihr dort auflauerte, warum nicht auch Katja Wolff?«
Der Sixty Plus Club war selbst um diese Tageszeit recht gut besucht. Die meisten der anwesenden Mitglieder spielten Karten, sie schienen ein Bridgeturnier auszutragen. Vier Frauen hatten sich in eine Partie Monopoly verbissen und das Spielbrett mit dutzenden roter Hotels und grüner Häuser besetzt. In einem schmalen Raum, einer Küche, wie es schien, saßen drei Männer und zwei Frauen, mit aufgeschlagenen Aktenordnern vor sich, um einen Tisch. Unter ihnen war der gekrauste Rotschopf der schrecklichen Georgia Ramsbottom auszumachen, deren laute Stimme sogar den romantischen Gesang Fred Astaires übertönte, der - auf dem Bildschirm eines Fernsehgeräts, das in einem Alkoven mit unbequemen Sesseln stand - gerade check to check mit Ginger Rogers tanzte.
»Es wäre doch viel vernünftiger, intern einen Nachfolger zu suchen«, sagte Georgia Ramsbottom gerade. »Wir sollten es wenigstens versuchen, Patrick. Wenn jemand von uns bereit ist, jetzt, nach Eugenies Tod, die Klubleitung zu übernehmen -«
Die andere Frau fiel ihr in mühsam gedämpftem Ton ins Wort, aber Georgia Ramsbottom konterte sofort. »Also, das finde ich wirklich beleidigend, Margery. Jemand muss sich schließlich um die Interessen des Klubs kümmern. Ich schlage vor, wir stellen fürs Erste unsere persönlichen Gefühle zurück und befassen uns mit der Frage der Nachfolge. Wenn wir nicht gleich heute eine Lösung finden, dann doch hoffentlich, bevor sich noch mehr Anfragen« - dabei wies sie auf ein Bündel gelber Zettel, auf denen die Anfragen offenbar vermerkt waren - »und unbezahlte Rechnungen anhäufen.«
Ihren Worten folgte allgemeines Gemurmel, das ebenso gut Zustimmung wie Ablehnung ausdrücken konnte, was genau, wurde nicht klar, da Georgia Ramsbottom in diesem Moment Lynley und Barbara Havers entdeckte, sich bei den anderen Diskussionsteilnehmern entschuldigte, und zu den beiden Kriminalbeamten eilte. Der Leitungsausschuss des Sixty Plus Club befinde sich soeben in einer Besprechung, erklärte sie in einem Ton, als hätte der Ausschuss Entscheidungen von nationaler Tragweite zu treffen. Der Klub könne nicht noch länger führungslos bleiben, auch wenn es sich leider als ausgesprochen schwierig erweise, den anderen Mitgliedern klar zu machen, dass eine »angemessene Trauerzeit« zum Gedenken an Eugenie Davies kein Grund sei, die Entscheidung über einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin unnötig hinauszuschieben.
»Wir werden Sie nicht lange aufhalten«, sagte Lynley. »Wir möchten nur kurz mit jedem Einzelnen hier sprechen. Unter vier Augen. Wenn Sie so freundlich wären, das zu arrangieren…«
»Inspector«, entgegnete Georgia mit genau dem richtigen Maß an Entrüstung in der Stimme, »die Mitglieder des Sixty Plus Club von Henley sind anständige und redliche Leute. Wenn Sie hierher gekommen sind, weil Sie glauben, dass einer von Ihnen etwas mit Eugenies Tod zu tun hat -«
»Ich glaube gar nichts«, unterbrach Lynley besänftigend. Ihm war nicht entgangen, dass Georgia Ramsbottom von den Klubmitgliedern gesprochen hatte, als zählte sie selbst nicht zu ihnen, darum sagte er betont liebenswürdig: »Vielleicht können wir gleich mit Ihnen anfangen, Mrs. Ramsbottom. In Mrs. Davies' Büro…?«
Die Blicke der anderen folgten ihnen, als sie, Georgia Ramsbottom ihnen vorauseilend, zum Büro gingen. Es war heute nicht abgeschlossen, und als sie eintraten, fiel Lynley sofort auf, dass alles, was irgendwie an Eugenie Davies hätte erinnern können, bereits in einem Karton verstaut war, der einsam auf dem Schreibtisch stand. Er fragte sich flüchtig, was die schreckliche Mrs. Ramsbottom als »angemessene Trauerzeit« für die verstorbene Klubleiterin betrachtete.
Nachdem Barbara Havers die Tür geschlossen und sich mit ihrem Heft in der Hand daneben hingestellt hatte, vergeudete er keine Zeit mit belangsloser Konversation, sondern nahm sogleich hinter dem Schreibtisch Platz, wies Georgia Ramsbottom den Besuchersessel davor zu und zog die Fotografie von Katja Wolff heraus. Ob Mrs. Ramsbottom irgendwann in den Wochen vor Mrs. Davies' Tod diese Frau gesehen habe, fragte er, entweder in der Umgebung des Sixty Plus Club oder sonst irgendwo in Henley.
Beim Anblick des Fotos hauchte Georgia ehrfürchtig wie eine Agatha-Christie-Heldin: »Die Mörderin…?« Sie war plötzlich die Hilfsbereitschaft in Person, vielleicht verwandelt durch die Erkenntnis, dass die Polizei den Mörder nicht in den Reihen der Klubmitglieder suchte. Hastig fügte sie hinzu: »Ich weiß, dass sie mit Vorsatz getötet wurde, Inspector, und nicht einfach das Opfer eines verantwortungslosen Autofahrers war, der nach dem Unfall geflüchtet ist. Teddy, der arme Gute, hat es mir erzählt, als ich ihn gestern Abend angerufen habe.«
Teddy, der arme Gute, wiederholte Barbara lautlos und verdrehte die Augen, während sie eifrig in ihr Heft kritzelte. Georgia, die das Geräusch des Bleistifts auf dem Papier hörte, drehte sich neugierig zu ihr um.
Lynley sagte: »Vielleicht möchten Sie sich das Bild einmal ansehen, Mrs. Ramsbottom…«
Georgia Ramsbottom nahm das Foto und betrachtete es. Sie führte es dicht vor ihre Augen. Sie hielt es auf Armeslänge von sich weg. Sie neigte den Kopf zur Seite. Nein, sagte sie endlich, die Frau auf dem Foto habe sie nie gesehen. Jedenfalls nicht in Henley-on-Thames.
»Woanders?«, fragte Lynley.
Nein, nein, das habe sie mit der Bemerkung nicht sagen wollen. Selbstverständlich sei es möglich, dass sie ihr in London einmal begegnet sei - eine Fremde auf der Straße vielleicht? -, als sie dort ihre niedlichen kleinen Enkel besucht hatte. Aber wenn das zutreffe, könne sie sich nicht daran erinnern.
»Danke«, sagte Lynley, bereit, sie ihrer Wege gehen zu lassen.
Aber so leicht wurde man Georgia Ramsbottom nicht los. Sie schlug die Beine übereinander, strich sich mit einer Hand über die Falten ihres Rocks, beugte sich vor, um ihre Strümpfe zu glätten, und sagte: »Sie werden natürlich auch mit Teddy sprechen wollen, nicht wahr, Inspector?« Es klang eher wie ein Vorschlag als eine Frage. »Er wohnt ja ganz in der Nähe von Eugenie - aber ich nehme an, das wissen Sie bereits, nicht? -, und wenn diese Frau sich in der Nähe des Hauses aufgehalten oder Eugenie vielleicht besucht hat, könnte er das wissen. Möglicherweise hat Eugenie selbst ihm etwas erzählt, die beiden waren ja sehr eng befreundet, Eugenie und Teddy, meine ich. Es ist gut möglich, dass sie sich ihm anvertraut hat, wenn diese Person…« Georgia zögerte und rieb sich mit schwer beringten Fingern die Wange.
»Nein. Nein. Vielleicht doch nicht.«
Lynley seufzte insgeheim. Er hatte überhaupt keine Lust, sich mit dieser Frau auf ein Frage- und Antwortspiel einzulassen. Wenn sie es zur Befriedigung ihrer Machtgier brauchte, ihr Wissen in kleinen Bröckchen auszuwerfen und den anderen danach schnappen zu lassen, würde sie sich ein anderes Opfer suchen müssen. Er überraschte sie mit einem: »Ich danke Ihnen, Mrs. Ramsbottom«, und nickte Barbara zu, um ihr zu bedeuten, dass sie die Frau hinausführen solle.
Georgia Ramsbottom legte ihre Karten auf den Tisch. »Na schön. Ich habe mit Teddy gesprochen«, bekannte sie in vertraulichem Ton. »Wie ich schon sagte, ich habe ihn gestern Abend angerufen. Ich meine, man möchte ja seine Anteilnahme bekunden, wenn jemand einen geliebten Menschen verliert, selbst wenn die Beziehung vielleicht einseitiger ist, als man es einem lieben Freund wünschen würde.«
»Der liebe Freund ist Major Wiley?«, erkundigte sich Barbara mit einer gewissen Ungeduld.
Georgia Ramsbottom warf ihr einen hochmütigen Blick zu, ehe sie zu Lynley sagte: »Inspector, ich denke, es wäre nützlich für Sie zu wissen - es würde mir gewiss nicht einfallen, von einer Toten schlecht zu reden… Aber man kann wohl nicht von übler Nachrede sprechen, wenn es sich schlicht und einfach um Tatsachen handelt, nicht wahr?«
»Worauf wollen Sie hinaus, Mrs. Ramsbottom?«
»Nun ja, ich überlege, ob das, was ich Ihnen sagen könnte, für Ihre Ermittlungen wirklich von Bedeutung ist.« Sie wartete auf eine Antwort oder Zusicherung. Als Lynley schwieg, blieb ihr nichts anderes übrig, als fortzufahren. »Andererseits könnte es durchaus von Bedeutung sein. Ist es wahrscheinlich auch. Und wenn ich nichts sage . Sehen Sie, es geht mir um den armen Teddy. Der Gedanke, dass etwas, das ihm schaden könnte, an die Öffentlichkeit gelangt… Diese Vorstellung kann ich nur schwer ertragen.«
Lynley hatte da seine Zweifel. Er sagte: »Mrs. Ramsbottom, wenn Sie bezüglich Mrs. Davies irgendetwas wissen, was möglicherweise zu ihrem Mörder führt, ist es in Ihrem eigenen Interesse, uns das ohne Unschweife mitzuteilen.«
Und auch in unserem Interesse, besagte Barbaras Miene. Sie machte ein Gesicht, als würde sie dieser fürchterlichen Person am liebsten den Kragen umdrehen.
»Wenn das nicht der Fall ist«, fügte Lynley hinzu, »darf ich Sie bitten, uns jetzt die übrigen Klubmitglieder hereinzuschicken, damit wir -«
»Es betrifft Eugenie«, erklärte Georgia Ramsbottom hastig.
»Ich sage es wirklich nicht gern, aber es geht nicht anders. Sie hat Teddys Gefühle nicht erwidert. Ihre Gefühle für ihn waren nicht so stark wie seine für sie, und er hat das nicht gemerkt.«
»Aber Sie haben es gemerkt«, sagte Barbara von der Tür her.
»Ich bin ja nicht blind«, gab Georgia Ramsbottom mit einem kurzen Blick über die Schulter zurück. Dann fügte sie zu Lynley gewandt hinzu: »Und ich bin auch nicht dumm. Es gab da einen anderen, und Teddy wusste nichts davon. Er weiß es immer noch nicht, der Arme.«
»Einen anderen?«
»Manche Leute würden vielleicht behaupten, dass Eugenie innerlich unablässig mit irgendetwas beschäftigt war und dass dies verhinderte, dass sie Teddy näher kam. Ich würde sagen, dass sie mit einer Person beschäftigt war und es noch nicht über sich gebracht hatte, dem armen Teddy reinen Wein einzuschenken.«
»Sie haben sie mit jemandem gesehen?«, fragte Lynley.
»Das war gar nicht nötig«, antwortete Georgia Ramsbottom.
»Ich habe gesehen, was sie tat, wenn sie hier war. Ich weiß von den Telefonaten, die sie hinter verschlossener Tür geführt hat, und ich weiß auch von den Tagen, an denen sie schon um halb zwölf gegangen ist und nicht wiederkam. An solchen Tagen ist sie mit dem Auto in den Klub gekommen, Inspector, obwohl sie sonst immer von der Friday Street zu Fuß herübergegangen ist. Und sie ist nie an den Tagen gefahren, an denen sie ehrenamtlich im Quiet Pines-Pflegeheim gearbeitet hat. Das war immer montags und mittwochs.«
»Und an welchen Tagen ist sie früher gegangen?«
»Donnerstag und Freitag. Einmal im Monat. Manchmal auch zweimal. Was würden Sie daraus schließen, Inspector? Meiner Ansicht nach stecken da heimliche Rendezvous dahinter.«
Es konnte, sagte sich Lynley, alles Mögliche dahinter stecken, vom Arztbesuch bis zum Friseurtermin. Aber wenn auch Georgia Ramsbottoms Enthüllungen von ihrer offenkundigen Abneigung gegen Eugenie Davies beeinflusst waren, ließ sich nicht ignorieren, dass sie zu den Eintragungen passten, die sie im Tagebuch der Toten gefunden hatten.
Nachdem Lynley ihr für ihre Hilfsbereitschaft gedankt hatte, schickte er sie zu ihren Ausschusskollegen zurück und bat sie, ihm die anderen anwesenden Klubmitglieder hereinzuschicken, einzeln, zur Begutachtung des Fotos von Katja Wolff. Sie wünschten alle zu helfen, das war deutlich spürbar, aber keiner konnte bezeugen, Katja Wolff irgendwo in der Nähe des Klubs gesehen zu haben.
Auf dem Rückweg zur Friday Street, wo Lynley seinen Wagen vor dem Häuschen von Eugenie Davies abgestellt hatte, sagte Barbara: »Zufrieden, Inspector?«
»Womit?«
»Na, was die Wolff-Theorie angeht.«
»Nicht ganz.«
»Aber Sie werden sie doch nicht immer noch als Mörderin führen? Ich meine, nach allem, was wir da eben gehört haben.«
Sie wies mit dem Daumen zurück in Richtung des Sixty Plus Club.
»Angenommen, Katja Wolff hätte Eugenie Davies überfahren, dann hätte sie doch erst mal wissen müssen, wohin sie an dem fraglichen Abend überhaupt wollte. Oder sie hätte ihr von hier aus nach London folgen müssen. Oder sehen Sie das anders?«
»Nein, nein, das ist schon richtig.«
»Sie hätte auf jeden Fall irgendwie mit Eugenie Davies Kontakt aufnehmen müssen, nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen worden war. Kann ja sein, dass wir bei der Durchsicht der Telefonunterlagen eine freudige Überraschung erleben und feststellen werden, dass Eugenie Davies und Katja Wolff in den letzten zwölf Wochen aus Gründen, die absolut im Dunkeln liegen, endlose Telefongespräche miteinander geführt haben. Aber wenn uns diese Unterlagen nichts dergleichen bringen, dann bleibt nur die Möglichkeit, dass jemand ihr von hier aus nach London gefolgt ist. Und Sie wissen ja wohl so gut wie ich, welcher Jemand das mit Leichtigkeit hätte bewerkstelligen können, oder?« Sie wies auf die Tür der Buchhandlung, von der das Bin-gleich-zurück-Schild inzwischen entfernt worden war.
»Sehen wir mal, was Major Wiley uns zu sagen hat«, meinte Lynley und öffnete die Tür.
Ted Wiley war damit beschäftigt, einen Karton voll neuer Bücher auszupacken und diese auf einem Tisch auszulegen, auf dem ein von Hand beschriftetes Schild »Neuerscheinungen« ankündigte. Er war nicht allein im Laden. Hinten saß in einem bequemen Sessel eine Frau mit einem Paisleykopftuch, die genüsslich Tee aus einer Thermosflasche trank und dazu in einem Buch las, das sie aufgeschlagen auf den Knien liegen hatte.
»Ich habe Ihren Wagen gesehen, als ich zurückkam«, bemerkte Wiley, während er drei Bücher aus dem Karton hob und jedes mit einem Tuch abstaubte, bevor er es auf den Tisch legte. »Und - was haben Sie bis jetzt herausgefunden?«
Interessant, die Fähigkeit dieses Mannes, zu kommandieren und zu fordern, dachte Lynley. Er schien anzunehmen, die Londoner Beamten wären nur mit der Absicht nach Henley gekommen, ihm Bericht zu erstatten. »Es ist noch zu früh, um irgendwelche Schlüsse zu ziehen, Major Wiley«, sagte er. »Wir stehen ja noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen.«
»Eines weiß ich jedenfalls«, erklärte Wiley. »Je länger sich diese Sache in die Länge zieht, desto unwahrscheinlicher wird es, dass Sie das Schwein fassen. Sie müssen doch Anhaltspunkte haben. Einen Verdacht. Irgendetwas.«
Lynley hielt ihm die Fotografie von Katja Wolff hin. »Haben Sie diese Frau schon einmal gesehen? Hier in der Gegend vielleicht. Oder irgendwo anders im Ort?«
Wiley griff in die Brusttasche seines Jacketts und zog eine dunkle Hornbrille heraus, die sehr schwer wirkte. Mit einer Hand klappte er sie auf und setzte sie auf seine große, rote Nase. Gut fünfzehn Sekunden lang musterte er das Bild Katja Wolffs mit zusammengekniffenen Augen, bevor er sagte: »Wer ist das?«
»Sie heißt Katja Wolff. Das ist die Frau, die Eugenie Davies' Tochter ertränkt hat. Kennen Sie sie?«
Noch einmal betrachtete Wiley das Bild. Sein Gesichtsausdruck verriet, wie gern er diese Frau wiedererkannt hätte, vielleicht um der Qual des Nichtwissens, wer die Frau, die er geliebt hatte, überfahren und getötet hatte, ein Ende zu machen, vielleicht aber auch aus einem ganz anderen Grund. Schließlich schüttelte er den Kopf und gab Lynley das Foto zurück.
»Was ist mit dem Kerl?«, fragte er. »Mit dem Audi. Er war wütend, sage ich Ihnen. Völlig außer sich. Das war deutlich zu sehen. Und wie er dann davongebraust ist… Er war genau der Typ, der den Kopf verliert und gewalttätig wird. Wehe, er bekommt nicht, was er will, dann schlägt er zu. Und zurück bleibt meistens eine Leiche. Oder mehrere. Sie wissen, was ich meine. Hungerford. Dunblane.«
»Wir haben ihn nicht ausgeschlossen«, sagte Lynley.
»Die Kollegen in London überprüfen sämtliche AudiBesitzer in Brighton. Wir müssten eigentlich bald etwas Konkretes haben.«
Wiley brummte und nahm seine Brille ab.
»Sie haben uns erzählt«, sagte Lynley, »dass Mrs. Davies etwas mit Ihnen besprechen wollte. Wenn ich Sie recht verstanden habe, sagte sie ausdrücklich, sie habe Ihnen etwas mitzuteilen. Haben Sie eine Ahnung, worum es sich gehandelt haben könnte, Major Wiley?«
»Nein.« Wiley griff nach einer nächsten Ladung Bücher. Er überprüfte die Schutzumschläge, ging sogar so weit, jedes Einzelne aufzuschlagen und mit den Fingern über die Innenklappe zu streichen, als suchte er nach Mängeln.
Lynley dachte derweilen über die Tatsache nach, dass ein Mann es im Allgemeinen spürt, wenn die Frau, die er liebt, seine Gefühle nicht erwidert. Genau wie ein Mann wahrnimmt - gar nicht umhin kann, es wahrzunehmen -, wenn die Leidenschaft der Frau, die er liebt, zu erkalten beginnt. Manchmal macht er sich etwas vor, leugnet die Tatsachen bis zu dem Moment, wo er nicht mehr lügen oder fliehen kann. Aber im Unterbewussten weiß er schon lange, dass etwas nicht stimmt. Es offen auszusprechen, allerdings, ist qualvoll. Und manche Männer sind nicht bereit, solche Qual auf sich zu nehmen, und wählen einen anderen Weg, um mit den Gegebenheiten fertig zu werden.
»Major Wiley«, sagte Lynley. »Sie haben gestern die Mitteilungen auf Mrs. Davies' Anrufbeantworter gehört. Sie haben die Männerstimmen gehört. Es wird Sie daher sicher nicht überraschen, wenn ich frage, ob Sie es für möglich halten, dass Mrs. Davies neben der Beziehung zu Ihnen noch eine andere unterhielt und eventuell darüber mit Ihnen sprechen wollte.«
»Ja, daran habe ich gedacht«, sagte Wiley leise. »Ich habe keinen anderen Gedanken mehr im Kopf seit - ach, verdammt!« Er schüttelte den Kopf und schob eine Hand in seine Hosentasche, um ein Taschentuch herauszuholen. Er schnauzte sich so laut, dass die lesende Frau hinten im Sessel den Kopf hob. Sie schaute sich um, bemerkte Lynley und Barbara Havers und sagte: »Major Wiley? Ist alles in Ordnung?«
Er nickte, hob beschwichtigend eine Hand und drehte sich so, dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Ihr schien diese Antwort zu genügen, denn sie wandte sich wieder ihrer Lektüre zu, als Wiley mit gesenkter Stimme zu Lynley sagte: »Ich komme mir wie ein Vollidiot vor.«
Lynley wartete auf mehr. Barbara klopfte mit dem Bleistift auf ihr Heft und runzelte die Stirn.
Wiley nahm all seine Entschlossenheit zusammen und berichtete ihnen, was für ihn offensichtlich das Schlimmste war: von den Abenden, die er damit zugebracht hatte, Eugenie Davies von seinem Wohnungsfenster aus zu beobachten, von einem Abend im Besonderen, an dem seine Wachsamkeit belohnt worden war.
»Es war ein Uhr nachts«, sagte er. »Es war der Kerl mit dem Audi. Und so, wie sie sich ihm gegenüber verhielt… Ja, es ist so, ich habe sie geliebt, und sie hatte einen anderen. Ob es das war, worüber sie mit mir sprechen wollte, Inspector? Ich weiß es nicht. Ich wollte es damals nicht wissen, und ich möchte es jetzt nicht wissen. Wozu auch?«
»Um ihren Mörder zu finden«, sagte Barbara.
»Sie glauben, ich war es?«
»Was für einen Wagen fahren Sie?«
»Einen Mercedes. Da draußen steht er, vor dem Laden.«
Barbara warf Lynley einen fragenden Blick zu, und der nickte. Sie ging zur Straße hinaus, und die beiden Männer sahen schweigend zu, wie sie das Auto einer gründlichen Inspektion unterzog. Es war schwarz, aber die Farbe war ohne Belang, wenn kein Schaden feststellbar war.
»Ich hätte ihr niemals etwas angetan«, sagte Wiley leise. »Ich habe sie geliebt. Ich denke, auch bei der Polizei weiß man, was das bedeutet.«
Und wozu es führen kann, dachte Lynley, aber er sagte nichts, wartete schweigend, bis Barbara die Untersuchung des Wagens abgeschlossen hatte und zu ihnen zurückkehrte. Er ist sauber, sagte ihr Blick. Lynley sah ihr an, dass sie enttäuscht war.
Wiley merkte, was vorging, und gönnte sich die Genugtuung zu sagen: »Ich hoffe, Sie sind zufrieden. Oder wollen Sie mich auch noch auf den Prüfstand stellen?«
»Sie möchten doch bestimmt, dass wir unsere Arbeit tun«, versetzte Barbara.
»Dann tun Sie sie«, erwiderte Wiley. »In Eugenies Haus fehlt ein Foto.«
»Was für ein Foto?«, fragte Lynley.
»Das Einzige, auf dem das kleine Mädchen allein zu sehen ist.«
»Warum haben Sie uns nicht schon gestern darauf aufmerksam gemacht?«
»Weil es mir erst heute Morgen aufgefallen ist. Sie hatte sie alle auf den Küchentisch gestellt, in drei Reihen von jeweils vier Stück. Aber sie hatte dreizehn Bilder von ihren Kindern im Haus - zwölf, die beide zeigen, und eines von der Kleinen allein. Wenn sie das eine nicht wieder nach oben gebracht hat, dann ist es weg.«
Lynley sah Barbara an. Die schüttelte den Kopf. In keinem der drei Räume im ersten Stockwerk des Häuschens hatte sie ein Foto gefunden.
»Wann haben Sie dieses besondere Foto zuletzt gesehen?«, fragte Lynley.
»Ich habe sie immer alle gesehen, jedes Mal, wenn ich drüben war. Sie standen nicht wie gestern in der Küche versammelt, sie waren überall im Haus verteilt - im Wohnzimmer, oben, im Treppenflur, in ihrem Nähzimmer.«
»Vielleicht hat sie dieses eine weggebracht, um es neu rahmen zu lassen«, meinte Barbara. »Oder sie hat es weggeworfen.«
»Das hätte sie nie getan«, sagte Wiley im Brustton der Überzeugung.
»Dann hat sie es vielleicht verschenkt oder ausgeliehen.«
»Ein Foto ihrer Tochter? Wem denn?«
Das war eine Frage, die beantwortet werden musste.
Wieder draußen auf der Straße, schlug Barbara eine weitere Möglichkeit vor. »Sie kann das Bild weggeschickt haben. An ihren Mann vielleicht, was meinen Sie? Hatte er Bilder von der Kleinen in seiner Wohnung, als Sie bei ihm waren, Inspector?«
»Ich habe keines gesehen. Es waren nur Aufnahmen des Sohnes da.«
»Na bitte. Wir wissen, dass die beiden miteinander gesprochen hatten. Über Gideons Lampenfieber, richtig? Warum nicht auch über die Kleine? Kann doch sein, dass er seine Frau um ein Bild des Kindes bat und sie es ihm geschickt hat. Ob es so war, sollte sich leicht feststellen lassen.«
»Aber finden Sie es nicht seltsam, dass er nirgends im Haus ein Bild der Tochter hatte, Havers?«
»Sicher! Aber die Menschen sind nun mal seltsam«, antwortete Barbara. »Nach so langer Zeit bei der Truppe müssten Sie das doch wissen.«
Dagegen konnte Lynley nichts vorbringen. »Sehen wir uns auf jeden Fall noch einmal in ihrem Haus um«, sagte er, »um ganz sicherzugehen, dass das Foto nicht da ist.«
Es war nur eine Sache von Minuten, Major Wileys Aussage zu überprüfen und bestätigt zu finden. Die zwölf Fotografien waren die einzigen Bilder im Haus.
Lynley und Barbara standen im Wohnzimmer und berieten sich darüber, als Lynleys Handy klingelte. Es war Eric Leach, der von der Dienststelle Hampstead aus anrief.
»Wir haben was«, sagte er ohne Umschweife und unverkennbar befriedigt, sobald Lynley sich meldete. »Der Audi aus Brighton und unser Cellnet-Kunde gehören zusammen.«
»Ian Staines?« sagte Lynley, dem sofort der Name zu der Cellnet-Nummer einfiel. »Ihr Bruder?«
»Ganz recht.« Leach gab Lynley die Adresse, und der schrieb sie sich auf der Rückseite einer seiner Geschäftskarten auf.
»Knöpfen Sie sich den Mann vor«, sagte Leach. »Was haben Sie über die Wolff?«
»Nichts.« Lynley berichtete kurz von ihren Gesprächen mit den Mitgliedern des Altenklubs und mit Major Wiley, dann kam er auf die verschwundene Fotografie zu sprechen.
Der Chief Inspector bot eine andere Erklärung an. »Sie könnte das Foto nach London mitgenommen haben.«
»Um es jemandem zu zeigen?«
»Damit wären wir wieder bei Pitchley.«
»Aber weshalb sollte sie ihm das Foto zeigen wollen? Oder gar schenken?«
»Wer weiß«, sagte Leach. »Nehmen Sie ein Foto von dieser Davies mit. Im Haus gibt es doch bestimmt eines. Sonst wird dieser Wiley eines haben. Zeigen Sie's im Valley of Kings und im Comfort Inn. Vielleicht erinnert sich dort jemand an sie.«
»In Begleitung von Pitchley?«
»Er bevorzugt ältere Semester, wie wir wissen.«
Nachdem die Polizeibeamten gegangen waren, ließ Ted Wiley sein Geschäft in Mrs. Dildays Obhut. Der Vormittag war ruhig gewesen, und der Nachmittag versprach, nicht aufregender zu werden, und deshalb hatte er nicht die geringsten Bedenken, aus dem Laden zu verschwinden und während seiner Abwesenheit seine lesefreudige Kundin nach dem Rechten sehen zu lassen. Es wurde ohnehin langsam Zeit, dass sie etwas tat, um sich das Privileg zu verdienen, jeden Bestseller zu lesen, ohne je mehr zu kaufen als eine Grußkarte. Erbarmungslos riss er sie aus ihrer Lektüre, erklärte ihr kurz die Bedienung der Registrierkasse und ging dann in seine Wohnung hinauf.
P. B. lag dösend in einem Fleckchen wässrigen Sonnenscheins. Er stieg über sie hinweg und setzte sich an Connies alten Sekretär, in dem er die Prospekte für die kommende Opernsaison in Wien, Santa Fé und Sydney aufbewahrte. Er hatte gehofft, eine dieser Städte würde mit ihren Festspielen den romantischen Hintergrund zur Festigung seiner innigen Beziehung zu Eugenie abgeben. Sie würden, hatte er sich vorgestellt, nach Österreich, Amerika oder Australien reisen, um durch den gemeinsamen Genuss der Musik von Rossini, Verdi oder Mozart ihr Glück zu beflügeln und ihre Liebe zu vertiefen. Langsam und vorsichtig hatten sie sich in drei langen Jahren diesem Ziel genähert, indem sie ein gemeinsames Haus aus Zärtlichkeit, Hingabe, Zuneigung und gegenseitiger Unterstützung errichtet hatten. Alles andere, was zu einer Beziehung zwischen Mann und Frau gehörte - vor allem der Sex -, würde sich mit der Zeit ganz von selbst einstellen.
Ted hatte es nach Connies Tod und den hartnäckigen Nachstellungen der Frauen, denen er sich als Witwer ausgesetzt gesehen hatte, als ungeheure Erleichterung empfunden, einer Frau zu begegnen, die sich Zeit lassen und eine Basis schaffen wollte, bevor sie seine Geliebte wurde. Jetzt aber, nach dem Besuch der beiden Polizeibeamten, musste er sich endlich eingestehen, woran er bis zu diesem Augenblick nicht einmal zu denken gewagt hatte: dass Eugenies Zögern, ihr sanftes und stets liebenswürdiges: »Ich bin innerlich noch nicht bereit, Ted«, in Wirklichkeit nichts anderes hieß, als dass sie für ihn nicht bereit gewesen war. Was sollte es sonst bedeuten, dass ein Mann sie angerufen und eine Nachricht voller Verzweiflung hinterlassen hatte, morgens um ein Uhr aus ihrem Haus gekommen war, sie auf dem Parkplatz des Sixty Plus Club abgepasst und gebettelt hatte, wie ein Mann nur bettelt, wenn es um alles - insbesondere seine Gefühle - geht? Es gab auf diese Fragen nur eine Antwort, und er wusste sie.
Was war er für ein Narr gewesen! Anstatt Eugenie dankbar zu sein, dass sie ihn nicht unter Druck setzte, seine Männlichkeit zu beweisen, hätte er augenblicklich argwöhnen müssen, dass sie anderswo gebunden war. Aber genau das war ihm vor lauter Erleichterung darüber, Georgia Ramsbottoms aggressiven sexuellen Forderungen entronnen zu sein, gar nicht in den Sinn gekommen.
Sie hatte ihn gestern Abend angerufen. »Teddy, es tut mir so Leid. Ich habe heute mit der Polizei gesprochen, und man sagte mir, dass Eugenie… Liebster Teddy, kann ich irgendetwas für dich tun?«, hatte sie teilnehmend gefragt und war doch nicht im Stande gewesen, ihren Triumph zu verbergen. »Ich komme auf der Stelle zu dir«, hatte sie erklärt. »Keine Widerrede. Du brauchst das nicht allein zu tragen.«
Er hatte keine Chance gehabt, zu protestieren, und nicht den Mut, vor ihrer Ankunft zu verschwinden. Kaum zehn Minuten später kam sie hereingerauscht und stellte ihm eine Auflaufform mit ihrer Spezialität, einem Shepherd's Pie, auf den Tisch. Mit schwungvoller Geste zog sie die Alufolie ab, um das Meisterwerk ihrer Kochkunst zu enthüllen, das, wie er sah, widerlich perfekt war, mit akkuraten kleinen, von der Gabel gezogenen Furchen in der Kartoffelpüreedecke, die wie kleine Wellen aussahen. Mit einem Lächeln sagte sie: »Er ist nicht mehr ganz heiß, aber wenn wir ihn in die Mikrowelle schieben, ist er im Nu wieder warm. Du musst etwas essen, Teddy. Ich weiß doch, dass du keinen Bissen zu dir genommen hast. Nicht wahr?«
Ohne auf seine Antwort zu warten, marschierte sie zum Mikrowellenherd, schob den Auflauf hinein und klappte die Glastür zu. Dann machte sie sich geschäftig daran, den Tisch zu decken, holte mit der Selbstverständlichkeit der Frau, die sich bestens auskennt, Geschirr und Besteck aus den Schränken.
»Du bist todunglücklich«, sagte sie. »Ich sehe es deinem Gesicht an. Es tut mir so Leid. Ich weiß, wie gut ihr befreundet wart. Eine Freundin wie Eugenie zu verlieren… Du musst deinen Schmerz zulassen, Teddy.«
Freundin, dachte er, nicht Geliebte. Nicht Ehefrau, nicht Lebensgefährtin oder Partnerin. Nur Freundin.
In diesem Moment hasste er Georgia Ramsbottom. Er hasste sie nicht nur, weil sie in sein Alleinsein eingebrochen war wie ein Eisbrecher in stille arktische Gebiete, sondern auch, weil sie so widerlich scharfsichtig war. Sie sagte, ohne es auszusprechen, was er sich nicht zu denken erlaubt hatte: Das Band, durch das er sich mit Eugenie verknüpft geglaubt hatte, war nur ein Produkt seiner Fantasie und seiner Wünsche gewesen.
Frauen, die sich für einen Mann interessieren, zeigten ihr Interesse. Sie zeigten es schnell und ohne Scham. Anders ging es nicht in einer Gesellschaft, in der die Konkurrenz so groß war. Diese Erfahrung hatte er mit Georgia gemacht und ebenso mit den Frauen, die vor ihr versucht hatten, sich diesen nicht unattraktiven Witwer zu angeln. Die hatten den Schlüpfer schon unten, ehe man beruhigend sagen konnte: Keine Angst, ich bin kein Draufgänger. Oder sie gingen einem gleich selbst an die Wäsche. Aber Eugenie war nicht so gewesen. Die jungfräuliche, unschuldige, gottverdammte Eugenie.
Ihn überfiel eine solche Wut, dass er Georgia zunächst überhaupt nicht antworten konnte. Am liebsten hätte er mit beiden Fäusten auf irgendetwas eingeschlagen und es zu Kleinholz gemacht.
Georgia nahm sein Schweigen als Zeichen eiserner Selbstbeherrschung, jener unerschütterlichen Contenance, auf die jeder Brite stolz ist, der etwas auf sich hält. Sie sagte: »Ich weiß, ich weiß. Es ist schrecklich, nicht wahr? Je älter wir werden, desto häufiger müssen wir uns für immer von Freunden verabschieden. Gerade deshalb ist es so wichtig, die kostbaren Freundschaften, die uns bleiben, zu pflegen. Du darfst dich nicht von denen unter uns abkapseln, die dich lieben. Das werden wir nicht zulassen.«
Sie griff über den Tisch und legte ihm ihre Hand mit den schweren Ringen auf den Arm. Er dachte flüchtig an Eugenies Hände - welch ein Gegensatz zu diesen Klauen mit den roten Krallen. Ringlos, mit kurz geschnittenen Nägeln und kleinen hellen Monden.
»Zieh dich jetzt nicht zurück, Teddy«, sagte Georgia und griff ein wenig fester zu. »Wende dich nicht von uns ab. Wir sind da, um dir über diese Zeit hinwegzuhelfen. Du bist uns wichtig. Wirklich. Du wirst sehen.«
Als hätte es ihre kurze misslungene Liaison mit Ted nie gegeben. Sein Versagen und die Verachtung, die sie ihm entgegengebracht hatte, schienen in ein fernes Land verbannt. Die Jahre ohne Mann, die danach gefolgt waren, hatten sie offenbar gelehrt, zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden. Sie war eine andere geworden, das würde er bald merken; sobald sie es geschafft hatte, sich wieder in sein Leben einzudrängen.
Dies alles entnahm Ted dem Zugriff ihrer Hand auf seinen Arm und dem klebrigen Lächeln, mit dem sie ihn ansah. Ekel stieg in ihm auf. Er brauchte dringend frische Luft.
Abrupt stand er auf. »Der Hund«, sagte er und rief barsch, »P. B.! Wo hast du dich verkrochen? Komm.« Zu Georgia sagte er:
»Tut mir Leid. Ich wollte gerade mit dem Hund gehen, als du angerufen hast.«
So floh er, ohne sie aufzufordern, ihn auf dem Abendspaziergang zu begleiten, ohne ihr eine Chance zu geben, selbst den Vorschlag zu machen. »P. B.?«, rief er noch einmal. »Komm schon, meine Alte. Gassi gehen.«
Und weg war er, ehe Georgia Zeit hatte zu reagieren. Er wusste, sie würde annehmen, dass sie zu forsch angegriffen und ihn damit kopfscheu gemacht hatte. Auf eine andere Idee würde sie gar nicht kommen. Und das war wichtig, erkannte Ted plötzlich. Das war sogar sehr wichtig: die Frau möglichst wenig über ihn wissen zu lassen.
Er ging schnell, von neuem Zorn gepackt. Dumm, sagte er sich. Dumm und blind. Wie ein Schüler, der dem Lokalflittchen nachläuft und keine Ahnung hat, dass sie ein Flittchen ist, weil er zu jung, zu unerfahren, zu verknallt und total - gutmütig ist. Ja, genau! Total gutmütig.
Wie ein Wilder stürmte er, den armen alten Hund rücksichtslos hinter sich her zerrend, zum Fluss hinunter. Er musste weg von Georgia und war entschlossen, so lange auszubleiben, bis er sicher sein konnte, dass sie bei seiner Rückkehr das Feld geräumt hatte. Nicht einmal Georgia Ramsbottom würde ihre Chancen verspielen, indem sie gleich am ersten Abend alles auf eine Karte setzte. Sie würde gehen; sie würde sich ein paar Tage rar machen. Erst wenn sie hoffen konnte, dass er sich von dieser ersten Attacke einigermaßen erholt hatte, würde sie wieder aufkreuzen und ihm von neuem ihre warme Anteilnahme anbieten. Ted wusste, dass er sich darauf verlassen konnte.
Am Ende der Friday Street bog er nach links ab und ging am Fluss weiter. Auf dem Pflaster unter den Straßenlampen sammelten sich gelbe Lichtpfützen, und der Wind peitschte den dichten Nebel zu Wellen auf, die direkt vom Fluss heraufzusteigen schienen. Ted schlug den Kragen seiner Jacke hoch und sagte:
»Komm, meine Schöne«, zu der Hündin, die sehnsüchtig ein Gebüsch in der Nähe beäugte, vermutlich mit dem Wunsch, unter ihm ein kleines Nickerchen zu halten. »P. B., komm jetzt!« Er riss an der Leine, und das wirkte wie immer. Sie eilten weiter.
Ehe er es sich versah, ehe er auch nur mit einem Gedanken an das Schauspiel dachte, dessen Zeuge er hier am Abend von Eugenies Tod geworden war, fand er sich auf dem Friedhof wieder. P. B. zerrte ihn zum Rasen wie ein müdes Pferd, das den Stall sucht, hockte sich sofort nieder und ließ Wasser, ehe er sie dazu bewegen konnte, sich eine andere Stelle zu suchen.
Unwillkürlich schweifte Teds Blick von dem Hund zu den Gemeindehäusern am Ende des Fußwegs. Nur einen schnellen Blick würde er riskieren, um zu sehen, ob die Frau, die im dritten Haus rechts wohnte, ihre Vorhänge geschlossen hatte. Wenn nicht und wenn Licht brannte, würde er ihr einen Dienst erweisen und sie darauf aufmerksam machen, dass jeder Vorübergehende ihr direkt ins Zimmer sehen und - äh - feststellen konnte, ob es in dem Haus etwas zu holen gab.
Das Licht war an. Auf zum guten Werk des Tages. Ted zog P. B. von dem umgekippten Grabstein weg, den sie schnüffelnd umrundete, und eilte mit ihr im Schlepptau so schnell es ging den Fußweg hinunter. Er musste das Haus erreichen, bevor die Frau drinnen etwas tat, was sie beide in eine peinliche Situation bringen konnte. Wenn sie einmal begonnen hatte, sich zu entkleiden wie neulich abends, könnte er schlecht bei ihr anklopfen und sie auf ihren Leichtsinn hinweisen. Damit würde er ja zugeben, dass er sie beobachtet hatte.
»Komm schon, P. B.«, sagte er. »Ein bisschen schneller.«
Aber er kam fünfzehn Sekunden zu spät. Fünf Meter war er noch vom Haus entfernt, da begann sie, sich auszukleiden. Und mit einem Tempo, das ihm nicht einmal Zeit ließ, sich abzuwenden, bevor sie ihren Pulli ausgezogen, ihr Haar ausgeschüttelt und ihren Büstenhalter abgelegt hatte. Sie bückte sich nach irgendetwas - ihren Schuhen? Strümpfen? -, und ihre Brüste fielen schwer schwingend nach vorn.
Ted schluckte krampfhaft. Großer Gott, dachte er und spürte die erste pulsende Reaktion seines Körpers. Er hatte sie schon einmal beobachtet, hatte schon einmal hier gestanden und mit Blicken diese vollen, üppigen Rundungen nachgezeichnet. Auf keinen Fall durfte er sich das ein zweites Mal erlauben. Man musste sie aufmerksam machen. Man musste sie warnen. Sie musste Bescheid wissen! Aber welche Frau wusste nicht Bescheid? Welche Frau hatte nicht gelernt, abends bei erleuchtetem Fenster vorsichtig zu sein? Welche Frau legte bei Nacht in einem hell erleuchteten Raum ohne Vorhänge oder Jalousien ihre Kleider ab und ahnte nicht, dass auf der anderen Seite dieser wenigen Millimeter Glas wahrscheinlich jemand war, der sie beobachtete, sich in Wünschen und Fantasien verlor, in Erregung geriet… Sie wusste es. O ja, sie wusste es genau.
Er blieb und beobachtete die Fremde in dem fremden Schlafzimmer ein zweites Mal. Er blieb diesmal länger, gebannt vom Zauber ihrer Bewegungen, als sie Hals und Arme mit Körpermilch einrieb. Er hörte sich stöhnen wie einen pubertären Jungen, der das erste Mal einen Blick in den Playboy wirft, als sie ihre vollen Brüste zu massieren begann.
Er stand auf dem dunklen Friedhof und masturbierte. Während es zu regnen begann, bearbeitete er unter seiner Jacke seinen Penis wie ein Mann, der Insektenvernichtungsmittel auf Blumen und Gräser pumpt. Die Befriedigung, als er zum Erguss kam, war schal, und er verspürte keinerlei Lust. Nur bittere Scham.
Die überflutete ihn auch jetzt wieder, hier, in seinem Wohnzimmer, schwarz und demütigend, während er an Connies Sekretär saß. Er betrachtete die Hochglanzfotografie des Opernhauses von Sydney, nahm eine Aufnahme des Freilichttheaters in Santa Fé zur Hand, wo unter einem Sternenhimmel Die Hochzeit des Figaro gesungen wurde, legte dieses zur Seite und griff zu dem Bild einer schmalen altmodischen Straße in Wien. Eine Finsternis des Gemüts umfing ihn, während er das Foto mit starrem Blick ansah, und er hörte eine Stimme, die er kannte, die Stimme seiner Mutter, die den jungen Ted viele Jahre lang beherrscht hatte, schnell fertig mit ihrem Urteil und noch schneller mit der Verurteilung.
»Lieber Gott, Teddy, das ist doch reine Zeitverschwendung. Wie kann man nur so dumm sein.«
Ja, er war dumm gewesen. Er hatte kostbare Stunden damit vergeudet, sich von Eugenie und sich selbst Bilder zu machen an diesem oder jenem Ort, unantastbar wie zwei Schauspieler auf einem Filmstreifen, der nichts duldete, was den Moment getrübt oder die Personen in ein schlechtes Licht gesetzt hätte. In seiner Fantasie gab es kein grelles Sonnenlicht auf alternder Haut, kein ungepflegtes Haar, keinen Atem, dem die Frische fehlte, keinen krampfhaft zusammengekniffenen Schließmuskel, um das peinliche Entweichen eines Darmwinds zu verhindern, keine dick gewordenen Zehennägel, kein schlaffes Fleisch und vor allem kein Versagen, wenn endlich der rechte Moment gekommen war. Er hatte sich eingebildet, in den Augen des anderen, wenn auch nicht der Welt, würden sie beide ewigjung sein. Und das hatte für ihn als Einziges gezählt: wie sie einander sahen.
Aber Eugenie hatte anders empfunden. Das begriff er jetzt. Weil es einfach nicht natürlich war, dass eine Frau einen Mann so viele Monate lang, die unausweichlich zu Jahren wurden, auf Abstand hielt. Es war nicht natürlich. Und es war nicht fair.
Sie hatte ihn als Strohmann benutzt. Es gab keine andere Erklärung für die Anrufe, die sie erhalten hatte, die nächtlichen Besuche in ihrem Haus, die unerklärliche Fahrt nach London. Sie hatte ihn als Strohmann benutzt, um ihre gemeinsamen Freunde und Bekannten in Henley - ganz zu schweigen vom Vorstand des Sixty Plus Club - zu täuschen. Wenn die glaubten, sie unterhielte eine züchtige Freundschaft mit Major Ted Wiley, würden sie nicht so leicht auf den Gedanken kommen, dass sie eine gar nicht züchtige Beziehung zu einem anderen unterhielt.
Dummkopf. Dummkopf. Wie kann man nur so dumm sein. Durch Schaden wird man klug. Ich hätte dich für klüger gehalten.
Aber wie sollte man denn klüger werden? Mit kluger Voraussicht handeln hieß doch, niemals Nähe zu einem anderen Menschen zu riskieren, aber von solcher Feigheit hielt Ted nichts. Seine Ehe mit Connie - so viele Jahre lang glücklich und befriedigend - hatte ihn übermäßig optimistisch gemacht. Sie hatte ihn glauben gelehrt, dass eine derartige Beziehung wieder möglich sei, durchaus keine Seltenheit, sondern etwas, auf das man hinarbeiten konnte, das, wenn auch nicht mit Leichtigkeit, so doch mit ernsthaftem Bemühen, das auf Liebe gründete, zu erreichen war.
Lügen, dachte er, alles Lügen. Lügen, die er sich selbst erzählt und bereitwillig geglaubt hatte, wenn Eugenie sie erzählte. Ich bin noch nicht bereit, Ted. In Wirklichkeit war sie für ihn nicht bereit gewesen.
Das Gefühl, verraten worden zu sein, war wie eine Krankheit, die langsam in ihm entstand. Es begann in seinem Kopf und breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Ihm schien, er könnte es nur besiegen, wenn er es aus seinem Körper herauspeitschte, und hätte er eine Peitsche zur Hand gehabt, so hätte er sie gegen sich gewendet und aus dem Schmerz Befriedigung gezogen. So aber hatte er nur die Broschüren auf dem Sekretär, diese leeren Symbole seiner kindischen Illusionen.
Glatt und glänzend lagen sie in seiner Hand. Zuerst knüllte er sie zusammen, dann riss er sie in Fetzen. In seiner Brust machte sich eine Beklemmung breit, als verschlossen sich langsam seine Arterien, aber er wusste, es war das Sterben von etwas anderem und für ihn weit Wichtigerem als nur das seines Altmännerherzens.