Ich habe wieder geträumt und bin mit der Erinnerung an den Traum erwacht. Jetzt sitze ich mit dem Heft auf den Knien im Bett, um ihn aufzuschreiben.
Ich bin in unserem Haus am Kensington Square im Wohnzimmer. Ich sehe den Kindern zu, die draußen in der Grünanlage spielen, und sie bemerken, dass ich sie beobachte. Sie winken und bedeuten mir, zu ihnen hinauszukommen. Ein Zauberer in einem schwarzen Cape und mit einem Zylinder gibt eine Vorstellung. Er zieht den Kindern lebende weiße Tauben aus den Ohren und wirft die Vögel hoch in die Luft. Ich möchte dabei sein, möchte, dass der Zauberer mir eine Taube aus dem Ohr holt, und ich laufe zur Wohnzimmertür. Aber sie hat keine Klinke, nur ein Schlüsselloch, durch das man ins Vestibül mit der Treppe sehen kann.
Aber als ich durch das Schlüsselloch schaue, das viel mehr Ähnlichkeit mit einem Bullauge hat, sehe ich auf der anderen Seite nicht das, was ich erwarte, sondern das Kinderzimmer meiner Schwester. Und obwohl es im Wohnzimmer sehr hell ist, ist es im Kinderzimmer dämmrig, als wären die Vorhänge wegen des Mittagsschlafs zugezogen.
Ich höre Weinen auf der anderen Seite der Tür. Ich weiß, dass es Sonias Weinen ist, aber ich kann meine Schwester nicht sehen. Und plötzlich ist die Tür keine Tür mehr, sondern ein schwerer Vorhang. Ich schiebe mich hindurch und sehe, dass ich nicht mehr im Haus bin, sondern im Garten dahinter.
Der Garten ist viel größer, als er in Wirklichkeit war. Es gibt mächtige alte Bäume, riesige Farne und einen Wasserfall, der sich in ein fernes Becken ergießt. In der Mitte des Beckens ist der Gartenschuppen, bei dem ich an jenem Abend, an den ich mich wieder erinnert habe, Katja und den unbekannten Mann sah.
Immer noch höre ich Sonia weinen, aber sie weint jetzt sehr jämmerlich, schreit beinahe, und ich weiß, dass ich mich auf die Suche nach ihr begeben soll. Rund um mich herum ist Dickicht, das von Augenblick zu Augenblick dichter und höher zu werden scheint. Mit den Händen Farne und Liliengewächse zur Seite schiebend, versuche ich, mir einen Weg zu bahnen, um das Weinen zu lokalisieren. Gerade als ich mich ganz nahe glaube, ertönt es plötzlich aus einer völlig anderen Richtung, und ich muss aufs Neue zu suchen beginnen.
Ich rufe nach Hilfe - nach meiner Mutter, meinem Vater, Großmutter oder Großvater. Aber keiner kommt. Dann erreiche ich den Rand des Wasserbeckens und sehe, dass zwei Menschen an den Schuppen gelehnt dastehen, ein Mann und eine Frau. Er ist über sie gebeugt und saugt an ihrem Hals, indes Sonia immer noch unablässig weint.
Am Haar erkenne ich die Frau, es ist Libby. Ich stehe wie erstarrt und beobachte die beiden, während der Mann, den ich noch nicht erkennen kann, an ihr saugt. Ich rufe ihnen zu; ich bitte sie, mir bei der Suche nach meiner kleinen Schwester zu helfen. Der Mann hebt den Kopf, und ich erkenne meinen Vater.
Ich bin wütend, fühle mich verraten, bin wie gelähmt. Sonia weint immer weiter.
Dann ist meine Mutter bei mir oder jemand wie meine Mutter, jemand von ihrer Größe und ihrer Gestalt, mit Haar der gleichen Farbe. Diese Person nimmt mich bei der Hand, und mir ist bewusst, dass ich ihr helfen muss, weil Sonia uns braucht, um sich zu beruhigen. Ihr Weinen hat sich jetzt zu zornigem Schreien gesteigert, schrill vor Trotz, als hätte sie einen Wutanfall.
»Keine Angst«, sagt die Mutterperson zu mir. »Sie ist nur hungrig, Schatz.«
Wir finden sie unter einem Farn liegend, zugedeckt von großen Farnwedeln. Die Mutterperson nimmt sie auf den Arm und drückt sie an ihre Brust. »Ich lasse sie saugen. Dann beruhigt sie sich.«
Aber Sonia beruhigt sich nicht, weil sie gar nicht saugen kann. Die Mutterperson gibt ihr nicht die Brust, und selbst wenn sie es täte, würde das nichts helfen. Denn wie ich erst jetzt sehe, trägt meine Schwester eine Maske, die ihr ganzes Gesicht bedeckt. Ich versuche, die Maske zu entfernen, aber es gelingt mir nicht; meine Finger rutschen immer wieder ab. Die Mutterperson bemerkt nicht, dass etwas nicht stimmt, und ich kann sie nicht dazu veranlassen, meine Schwester anzuschauen. Ich versuche weiterhin verzweifelt, die Maske abzureißen, aber es gelingt mir einfach nicht.
Ich bitte die Mutterperson, mir zu helfen, aber das nützt auch nichts. Sie schaut ja nicht einmal zu Sonia hinunter. In höchster Eile kämpfe ich mich zurück zum Becken, um dort Hilfe zu holen, aber an seinem Rand angelangt, verliere ich den Halt und stürze ins Wasser. Unablässig drehe ich mich unter Wasser und bekomme keine Luft.
An dieser Stelle erwachte ich.
Mein Herz raste. Ich konnte seinen hämmernden Schlag im ganzen Körper spüren. Während des Schreibens habe ich mich beruhigt, aber ich glaube nicht, dass ich heute Nacht noch einmal schlafen kann.
Libby ist nicht bei Ihnen?, fragen Sie.
Nein. Sie ist nicht zurückgekommen, seit sie nach unserer Heimkehr von Cresswell-White, als mein Vater vor dem Haus wartete, auf ihrer Maschine davongeprescht ist.
Machen Sie sich Sorgen um sie?
Sollte ich mir Sorgen machen?
Es gibt kein sollte, Gideon.
Bei mir schon, Dr. Rose. Ich sollte mich an mehr erinnern können. Ich sollte Geige spielen können. Ich sollte eine Beziehung zu einer Frau eingehen, etwas mit ihr teilen können, ohne zu fürchten, dass ich alles verlieren werde.
Was denn verlieren?
Das, was mich zusammenhält.
Haben Sie es denn nötig, zusammengehalten zu werden, Gideon?
So fühlt es sich jedenfalls an.
Raphael hat heute wieder seinen täglichen Pflichtbesuch bei mir absolviert, aber anstatt uns ins Musikzimmer zu setzen und auf ein Wunder zu warten, sind wir zum Regent's Park gegangen und haben einen Spaziergang durch den Zoo gemacht. Einer der Elefanten wurde gerade von einem Wärter mit Wasser abgespritzt, und wir blieben stehen und sahen zu, wie das Wasser in Strömen an den Seiten des gewaltigen Tiers herabfloss. Haarbüschel auf dem Rückgrat des Elefanten sträubten sich wie steife Drähte, und das Tier verlagerte sein Gewicht, als suchte es besseren Halt.
»Seltsame Geschöpfe, nicht?«, sagte Raphael. »Man fragt sich, was zu einer solchen Konstruktion geführt hat. Wenn ich so eine biologische Merkwürdigkeit sehe, bedaure ich stets, dass ich nicht mehr über die Evolution weiß. Wie, beispielsweise, hat sich ein Geschöpf wie der Elefant aus dem Urschlamm entwickelt?«
»Er macht sich wahrscheinlich die gleichen Gedanken über uns.«
Mir war gleich bei Raphaels Ankunft aufgefallen, dass er ausgesprochen guter Dinge war. Er war derjenige, der vorschlug, »an die Luft« zu gehen und einen Spaziergang durch den Zoo zu machen, wo die Luft nicht nur von Abgasen geschwängert ist, sondern auch von den Gerüchen nach Urin und Heu. Mich veranlasste das, mir Gedanken darüber zu machen, was vorging, und ich erkannte die Handschrift meines Vaters. »Sieh zu, dass er mal aus dem Haus kommt«, hatte er vermutlich befohlen.
Und wenn mein Vater befiehlt, dann gehorcht Raphael.
Nur darum hat er sich so lange als mein Lehrer gehalten: Er lenkte meine musikalische Entwicklung; mein Vater lenkte den Rest meines Lebens. Und Raphael hat diese Gewaltenteilung von Anfang an akzeptiert.
Erwachsen hätte ich Raphael natürlich ersetzen und mir einen anderen Reisebegleiter - neben meinem Vater, meine ich - und Partner bei den täglichen Übungsstunden suchen können. Aber nach zwei Jahrzehnten der Zusammenarbeit und Partnerschaft war jeder von uns mit dem Lebens- und Arbeitsstil des anderen so innig vertraut, dass es mir nie in den Sinn kam, mich nach jemand anderem umzusehen. Im Übrigen habe ich immer sehr gern mit Raphael zusammen musiziert, als ich dazu noch in der Lage war. Er war - und ist - technisch einfach brillant. Zwar fehlt ihm der innere Funke, die Leidenschaft, die ihn vor langem schon getrieben hätte, seine Hemmungen und Ängste zu überwinden und vor großem Publikum zu spielen, um durch sein Spiel eine Brücke zu den Zuhörern zu schlagen, die die Viererkonstellation Komponist-Musik-Zuhörer-Interpret vollkommen gemacht hätte. Aber das Können und die Liebe waren immer vorhanden, ebenso wie eine bemerkenswerte Fähigkeit, sein technisches Können in eine Form der Kritik und der Unterweisung zu gießen, die dem Novizen gut verständlich und dem etablierten Geiger, dem es darum geht, sein Spiel zu verbessern, von unschätzbarem Wert ist. Darum habe ich nie daran gedacht, mich von Raphael zu trennen - trotz seines Gehorsams meinem Vater gegenüber und seines Abscheus vor ihm.
Ich muss diese gegenseitige Antipathie der beiden immer gespürt haben, obwohl sie nie offen zu Tage trat. Irgendwie kamen sie bei aller gegenseitiger Abneigung miteinander zurecht, und erst jetzt, wo sie sich plötzlich so ungeheuer bemühten, diese beiderseitige Animosität zu verbergen, hatte ich einen Anlass, mich zu fragen, worin ihr Ursprung liegt.
Die logische Antwort konnte nur lauten, in der Konkurrenz um meine Mutter, in den Gefühlen, die Raphael meiner Mutter entgegenbrachte. Aber das erklärte im Grunde nur, warum Raphael meinen Vater nicht ausstehen konnte: Weil der etwas besaß, das Raphael haben wollte. Die Aversion meines Vaters gegen Raphael erklärte es nicht. Da musste noch etwas anderes eine Rolle spielen.
Vielleicht war es Neid auf das, was Raphael Ihnen geben konnte, bieten Sie mir als Antwort an.
Ja, es ist wahr, mein Vater spielte kein Instrument, aber meiner Meinung nach hat der Hass zwischen den beiden eine tiefere, eher atavistische Wurzel.
Als wir das Elefantengehege hinter uns ließen, um zu den Koalas zu gehen, sagte ich zu Raphael: »Dir ist wohl aufgetragen worden, mich aus dem Haus zu lotsen.«
Er bestritt es nicht. »Er ist der Ansicht, du hältst dich zu viel in der Vergangenheit auf und meidest die Gegenwart.«
»Und was meinst du?«
»Ich verlasse mich auf Dr. Rose. Genauer gesagt, ich verlasse mich auf Dr. Rose, den Vater. Was Dr. Rose, die Tochter, angeht, so nehme ich an, dass sie den Fall mit ihm bespricht.« Er warf mir einen nervösen Blick zu, als er das Wort Fall gebrauchte, das mich zu einem psychiatrischen Phänomen reduzierte, von dem zweifellos zu einem späteren Zeitpunkt in einer einschlägigen Fachzeitschrift berichtet werden würde, natürlich ohne Nennung meines Namens, aber doch so detailliert, dass jeder erraten könnte, wer der anonyme Patient war. »Er hat jahrzehntelange Erfahrung mit solchen Geschichten, wie du sie jetzt durchmachst, und darauf wird sie sicherlich bauen.«
»Was für eine Geschichte meinst du denn, dass ich gerade durchmache?«
»Ich weiß, wie sie es genannt hat. Sie hat von Amnesie gesprochen.«
»Das hat Dad dir erzählt?«
»Das ist doch verständlich. Ich bin mehr als jeder andere mit deiner Karriere verbunden.«
»Aber du glaubst nicht an die Amnesie, richtig?«
»Was ich glaube oder nicht, spielt hier keine Rolle, Gideon.«
Er führte mich zum Koalagehege, wo durch ein Gewirr von Ästen, die aus dem Boden aufstiegen, Eukalyptusbäume simuliert wurden, und der Wald, das natürliche Habitat der Bären, auf eine hohe pinkfarbene Mauer aufgemalt war. Ein kleiner Bär schlief einsam und allein in der Gabelung zweier dieser Äste, nicht weit von ihm hing ein Eimer mit Blättern, die seine Nahrung waren. Der Boden des Waldes war aus Beton, es gab keine Büsche, keinerlei Spielzeug oder Abwechslung für den Bären. Er hatte auch keine Gefährten, seine Einsamkeit wurde lediglich von den Menschen durchbrochen, die ihn pfeifend und schreiend zu animieren suchten, weil sie nicht begreifen konnten, dass dieses Geschöpf, das die Natur als Nachttier erschaffen hatte, nicht bereit war, sich auf ihren Lebensrhythmus einzustellen.
Ich registrierte das alles mit einer tiefen Niedergeschlagenheit.
»Mein Gott, warum gehen Menschen überhaupt in zoologische Gärten?«
»Um sich ihrer eigenen Freiheit zu erinnern.«
»Um ihre Überlegenheit auszukosten.«
»Ja, wahrscheinlich auch. Es ist nun einmal so, dass wir Menschen das Heft in der Hand halten.«
»Aha!«, sagte ich. »Ich dachte mir doch gleich, dass hinter diesem Spaziergang in den Regent's Park mehr steckt als ein harmloser Ausflug, um frische Luft zu schnappen. Ich habe noch nie ein Interesse an körperlicher Bewegung und Tieren bei dir erlebt. Also, was hat Dad gesagt? >Zeig ihm, dass er seinem Schicksal dankbar sein sollte. Zeig ihm, wie grausam das Leben wirklich sein kann!<«
»Er hätte sicher etwas anderes gewählt, wenn er das im Sinn gehabt hätte. Es gibt weit schlimmere Orte als den Zoo, Gideon.«
»Was war dann der Zweck der Übung? Und erzähl mir jetzt nicht, das mit dem Zoo wäre deine Idee gewesen.«
»Du grübelst zu viel. Das ist ungesund. Und das weiß er.«
Ich lachte ohne Erheiterung. »Als wäre das, was bereits geschehen ist, gesund!«
»Wir wissen nicht, was geschehen ist. Wir können nur vermuten. Und genauso ist es mit dieser Amnesiegeschichte - sie ist reine Vermutung.«
»Also hat er um deine Unterstützung gebeten. Das hätte ich nun wirklich nicht für möglich gehalten - in Anbetracht deiner Beziehung zu ihm.«
Raphael hatte den Blick auf den bedauernswerten kleinen Koala gerichtet, der fest zusammengerollt in dem dürren Geäst schlief, das mit seinem heimatlichen Wäldern keinerlei Ähnlichkeit hatte. »Meine Beziehung zu deinem Vater geht dich nichts an«, entgegnete er mit Entschiedenheit, aber auf seiner Stirn zeigten sich die ersten Schweißtröpfchen. Innerhalb von zwei Minuten würde sein ganzes Gesicht klatschnass sein, und er würde sein Taschentuch herausziehen, um den Schweiß abzuwischen.
»Du warst an dem Abend, als Sonia starb, bei uns im Haus«, sagte ich. »Das hat Dad mir erzählt. Du hast also immer alles gewusst, nicht wahr? Alles, was damals geschehen ist, was zu ihrem Tod geführt hat und was darauf folgte.«
»Komm, trinken wir eine Tasse Tee«, sagte Raphael.
Wir setzten uns in das Restaurant in Barclays Court, obwohl ein Getränkekiosk es auch getan hätte. Er sprach kein Wort, während er zunächst mit pedantischer Genauigkeit die Speisekarte mit ihrem Angebot von gegrilltem Fleisch und Gemüse las und dann eine Kanne Darjeeling und einen Teekuchen bei der Kellnerin bestellte, die nicht mehr jung war und eine Brille trug.
Sie sagte: »Kommt sofort«, und wartete, mit ihrem Bleistift auf ihren Block klopfend, auf meine Bestellung. Ich nahm das Gleiche wie Raphael, obwohl ich nicht hungrig war, und sie ging, um alles zu holen.
Es war keine Essenszeit, darum waren nur wenige Gäste im Lokal, niemand in der Nähe unseres Tischs. Wir saßen am Fenster, und Raphael schaute hinaus, wo ein Mann mit einer Wolldecke kämpfte, die sich im Rad eines Kindersportwagens verheddert hatte, während eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm daneben stand und ihm gestikulierend Anweisungen gab.
Ich sagte: »Meinem Gefühl nach war es später Abend, als Sonia ertrank. Aber wenn das stimmt, was hattest du dann um diese Zeit noch bei uns zu tun? Dad hat mir gesagt, dass du da warst.«
»Es war später Nachmittag, als sie ertrank, kurz vor sechs. Ich war geblieben, weil ich noch ein paar Telefonate erledigen wollte.«
»Dad sagte, du hättest an dem Tag wahrscheinlich mit Juilliard telefoniert.«
»Ich wollte es dir gern ermöglichen, die Schule zu besuchen, nachdem man dir das Angebot gemacht hatte. Also bemühte ich mich, für mein Vorhaben Unterstützung zu gewinnen. Für mich war es undenkbar, dass jemand allen Ernstes ein Angebot der Juilliard School ausschlagen würde -«
»Wie hatte man dort überhaupt von mir gehört? Ich hatte ein paar Konzerte gegeben, aber ich kann mich nicht erinnern, mich dort um einen Platz beworben zu haben. Ich weiß nur noch, dass ich die Einladung erhielt.«
»Ich hatte an die Schule geschrieben. Ich hatte ihnen Bandaufnahmen geschickt. Besprechungen. Einen Artikel, den die Radio Times über dich gebracht hatte. Man war interessiert und schickte ein Bewerbungsformular, das ich dann ausfüllte.«
»Wusste Dad davon?«
Wieder trat ihm der Schweiß auf die Stirn. Diesmal griff er zu einer der Papierservietten auf dem Tisch, um ihn abzutupfen.
»Ich wollte deinen Vater vor die vollendete Tatsache stellen, weil ich glaubte, wenn ich die Einladung in der Hand hätte, würde dein Vater sein Einverständnis geben.«
»Aber es war kein Geld da, richtig?«, warf ich finster ein. Und einen Augenblick lang überkam mich die gleiche heiße, an Wut grenzende Enttäuschung wie damals, als der Achtjährige erfahren hatte, dass ein Studium an der Juilliard School of Music ihm verwehrt bleiben würde, weil kein Geld da war, weil bei uns niemals auch nur genug Geld zum Leben da war.
Raphaels nächste Bemerkung war deshalb überraschend.
»Geld war nie das Problem. Das hätten wir schon irgendwie zusammenbekommen. Davon war ich immer überzeugt. Und die Schule hatte ein Stipendium angeboten, das die Studiengebühren gedeckt hätte. Aber dein Vater wollte nichts davon hören, dass du nach New York gehst. Er wollte die Familie nicht auseinander reißen. Ich glaubte, es ginge ihm in erster Linie um eine Trennung von seinen Eltern, und erbot mich, allein mit dir nach New York zu gehen. Dann hätten alle anderen hier in London bleiben können. Aber diese Lösung passte ihm auch nicht.«
»Dann waren es also keine finanziellen Gründe? Und ich dachte immer -«
»Nein. Das Finanzielle spielte letztendlich keine Rolle.«
Wahrscheinlich sah Raphael mir an, dass ich ziemlich verwirrt war und mich betrogen fühlte, denn er sagte hastig: »Dein Vater war der festen Überzeugung, dass du ein Studium an der Juilliard nicht nötig hättest, Gideon. Das ist ein Kompliment für uns beide, denke ich. Er war der Meinung, du bekämst hier in London den Unterricht, den du brauchst, und würdest auch ohne einen Umzug nach New York deinen Weg machen. Und er hat Recht behalten. Sieh dir an, wie weit du es gebracht hast.«
»Ja, sieh es dir nur an«, erwiderte ich ironisch, als Raphael in dieselbe Falle lief, in die ich auch schon gelaufen war, Dr. Rose.
Wirklich weit habe ich es gebracht! Hocke auf dem Fensterbrett in meinem Musikzimmer, wo bereits seit Monaten keine Musik mehr gemacht wird, und kritzle in ein Heft, was mir gerade durch den Kopf geht, und versuche, mich an Einzelheiten zu erinnern, die mein Unterbewusstes lieber dem Vergessen anheim gegeben hätte. Und jetzt entdecke ich, dass einige dieser Erinnerungen, die ich aus den Tiefen meines Gedächtnisses herauskrame - wie zum Beispiel die Einladung der Juilliard School und die Gründe, die mich davon abhielten, ihr zu folgen -, gar nicht den Tatsachen entsprechen! Wenn das so ist, worauf kann ich mich dann eigentlich noch verlassen, Dr. Rose?
Das werden Sie spüren, antworten Sie ruhig.
Aber ich frage Sie, wie Sie da so sicher sein können. Die Fakten meiner Vergangenheit kommen mir zunehmend wie bewegliche Ziele vor, und sie huschen vor einem Hintergrund von Gesichtern vorüber, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Sind es also echte Tatsachen, Dr. Rose, oder die Abbilder der Tatsachen, wie ich sie gern hätte?
Ich sagte zu Raphael: »Wie war das damals, als Sonia ertrank? An dem Abend. Dem Nachmittag. Wie kam es dazu? Ich habe versucht, mit Dad darüber zu sprechen…« Ich schüttelte den Kopf.
Die Kellnerin erschien mit dem Tee und dem Gebäck. Sie brachte uns alles auf einem Tablett aus Kunststoff, der auf Holz getrimmt war, ganz der vorherrschenden Gepflogenheit des Zoos entsprechend, die Dinge für etwas auszugeben, was sie nicht waren. Sie stellte Tassen, Teller und Kannen vor uns auf den Tisch, und ich wartete, bis sie wieder gegangen war, ehe ich zu sprechen fortfuhr.
»Dad schweigt sich aus. Wenn ich mit ihm über Musik sprechen will, über mein Geigenspiel, dann ist das in Ordnung. Es sieht ja nach Fortschritt aus. Wenn ich eine andere Richtung einschlagen möchte… dann folgt er, aber es ist die Hölle für ihn, das sehe ich ihm an.«
»Es war für alle die Hölle.«
»Auch für Katja Wolff?«
»Ihre Hölle kam später, vermute ich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mit einer Haftstrafe von zwanzig Jahren ohne Bewährung rechnete.«
»Ist das der Grund, warum sie im Gerichtssaal - Ich habe gelesen, dass sie aufgesprungen ist und versucht hat, eine Erklärung abzugeben, nachdem der Richter das Urteil verkündet hatte.«
»Hat sie das getan?«, fragte Raphael. »Das wusste ich gar nicht. Am Tag der Urteilsverkündung war ich nicht beim Prozess. Ich hatte einfach genug.«
»Aber du bist mit ihr zur Polizei gegangen. Arn Anfang. Es gibt ein Foto von euch beiden, wie ihr aus der Polizeidienststelle herauskommt.«
»Das war sicher ein zufälliges Zusammentreffen. Irgendwann rnussten wir alle zur Vernehmung aufs Revier. Die meisten von uns mehr als einmal.«
»Auch Sarah-Jane Beckett?«
»Ich denke schon. Warum?«
»Ich muss sie sprechen.«
Raphael hatte seinen Teekuchen mit Butter bestrichen. Er hob ihn zum Mund, aber er biss nicht davon ab, sondern hielt ihn ruhig in der Hand und sah mich an. »Was soll das bringen, Gideon?«
»Es zieht mich einfach in die Richtung, und Dr. Rose hat mir geraten, auf der Suche nach Verbindungen meinem Instinkt zu folgen. Sie meint, auf diese Weise würde ich am ehesten auf etwas stoßen, was Erinnerungen weckt.«
»Dein Vater wird davon nicht erfreut sein.«
»Dann häng einfach dein Telefon aus.«
Raphael biss ein Riesenstück von seinem Teekuchen ab, zweifellos, um seinen Ärger darüber zu kaschieren, dass ich ihm auf die Schliche gekommen war. Aber hatte er tatsächlich geglaubt, ich könnte mir nicht denken, dass er und mein Vater tägliche Konferenzen über mich und die Fortschritte, die ich machte oder nicht machte, abhielten? Sie sind schließlich die beiden Menschen, die von dem, was mir widerfahren ist, am meisten betroffen sind, und sie sind neben Libby und Ihnen, Dr. Rose, die Einzigen, die das Ausmaß meiner Probleme kennen.
»Was erwartest du dir von einem Gespräch mit SarahJane Beckett? Immer vorausgesetzt, dass du sie überhaupt findest.«
»Sie lebt in Cheltenham«, erwiderte ich. »Schon seit Jahren. Ich bekomme jedes Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten eine Karte von ihr. Du nicht?«
»Na schön. Sie lebt in Cheltenham«, sagte er, ohne auf meine Frage einzugehen. »Und was soll sie dir helfen?«
»Das weiß ich auch nicht. Vielleicht kann sie mir erklären, warum Katja Wolff nie gesprochen hat.«
»Sie hatte das Recht zu schweigen, Gideon.« Er legte sein Gebäck auf seinen Teller und nahm seine Tasse, die er mit beiden Händen umspannte, als suche er Wärme.
»Sicher. Vor Gericht. Bei der Polizei. Da brauchte sie nichts zu sagen. Aber was ist mit ihrem Anwalt? Warum hat sie mit dem nicht gesprochen?«
»Ihr Englisch war nicht so gut. Vielleicht hat jemand sie über ihr Recht zu schweigen aufgeklärt, und sie hat es missverstanden.«
»Es gibt da noch einen Punkt, den ich nicht verstehe«, fuhr ich fort. »Sie war Ausländerin. Wieso verbüßte sie ihre Strafe in England. Warum wurde sie nicht nach Deutschland zurückgeschickt?«
»Sie hat sich der Auslieferung mit allen Mitteln widersetzt. Der Prozess zog sich über mehrere Instanzen hin, und sie hat am Ende gewonnen.«
»Woher weißt du das?«
»Mein Gott, das ging damals durch sämtliche Zeitungen. Sie war wie Myra Hindley, jeder Schritt, den sie unternahm, während sie hinter Gittern saß, wurde von den Medien genauestens unter die Lupe genommen. Es war eine scheußliche Geschichte, Gideon. Brutal. Sie hat das Leben deiner Eltern zerstört, sie hat deine beiden Großeltern innerhalb von drei Jahren unter die Erde gebracht, und sie hätte leicht auch dein Leben zerstören können, wenn nicht alles Menschenmögliche getan worden wäre, um dich da herauszuhalten. Das jetzt alles wieder auszugraben… so viele Jahre später…« Er stellte seine Tasse ab und goss Tee nach. »Du isst ja gar nichts«, bemerkte er.
»Ich bin nicht hungrig.«
»Wann hast du das letzte Mal etwas zu dir genommen? Du siehst furchtbar aus. Iss das Gebäck. Oder trink wenigstens den Tee.«
»Raphael, was ist, wenn Katja Wolff es gar nicht getan hat?«
Er stellte die Teekanne wieder auf den Tisch, griff zum Zucker, kippte den Inhalt eines Beutels in seine Tasse und goss Milch dazu. Mir fiel auf, dass er das alles nicht in der üblichen Reihenfolge tat, sondern genau umgekehrt.
Als das Ritual abgeschlossen war, sagte er: »Es wäre doch ziemlich unsinnig von ihr gewesen, sich in Schweigen zu hüllen, wenn sie Sonia nicht getötet hätte, Gideon.«
»Vielleicht hatte sie Angst, dass die Polizei ihre Aussage verfälschen würde. Oder auch der Ankläger, falls sie in den Zeugenstand gerufen würde.«
»Sicher. Es ist durchaus möglich, dass diese Leute das versucht hätten. Aber ihre Anwälte hätten bestimmt keines ihrer Worte verfälscht, wenn sie bereit gewesen wäre, sich zu äußern.«
»Hat mein Vater sie geschwängert?«
Er hatte die Tasse gehoben, aber jetzt setzte er sie schlagartig wieder ab. Er schaute zum Fenster hinaus, wo das Paar mit dem Kindersportwagen eine Tasche, zwei Babyfläschchen und ein Paket Wegwerfwindeln abgeladen und den Wagen auf die Seite gekippt hatten. Der Mann rückte dem festgeklemmten Rad jetzt mit dem Absatz seines Schuhs zu Leibe. Raphael sagte leise: »Das hat doch mit dem Problem nichts zu tun«, und ich wusste, dass er nicht von dem manövrierunfähigen Kinderwagen sprach.
»Wie kannst du das sagen? Woher willst du das wissen? Hat er sie geschwängert? Und was war der Grund dafür, dass die Ehe meiner Eltern in die Brüche gegangen ist?«
»Wenn eine Ehe in die Brüche geht, können nur die beiden Partner sagen, wie es dazu kam.«
»Gut. Akzeptiert. Aber was ist mit meiner anderen Frage? Hat er Katja geschwängert?«
»Was sagt er denn dazu? Hast du ihn gefragt?«
»Er sagt Nein. Aber es ist doch klar, dass er das sagt.«
»Na bitte, dann hast du deine Antwort.«
»Wer könnte es getan haben?«
»Vielleicht der Untermieter. James Pitchford war in sie verliebt. Vom ersten Tag an. Und er hat sich nie davon erholt.«
»Aber ich dachte, James und Sarah-Jane… In meiner Erinnerung gehören die beiden zusammen, James, der Untermieter, und Sarah-Jane. Ich habe sie von meinem Fenster aus abends weggehen sehen. Und ich habe sie in der Küche tuscheln sehen.«
»Ich vermute, das war vor Katja.«
»Wieso?«
»Weil er nach ihrer Ankunft fast jede freie Minute mit ihr verbrachte.«
»Katja hat also Sarah-Jane in mehr als einer Hinsicht verdrängt?«
»Das könnte man sagen, ja, und ich sehe schon, worauf du hinaus willst. Aber sie war mit James Pitchford zusammen, als Sonia ertrank. James hat das bestätigt. Er hatte keinen Grund, für sie zu lügen. Wenn, dann hätte er für die Frau, die er liebte, gelogen. Ich denke sogar, wenn Sarah-Jane zum Zeitpunkt von Sonias Ermordung nicht mit James zusammen gewesen wäre, hätte er Katja jederzeit ein Alibi gegeben, auf Grund dessen man ihr zwar Pflichtverletzung und fahrlässige Tötung hätte vorwerfen können, aber keinesfalls Mord.«
»Aber es war Mord«, sagte ich nachdenklich.
»Nach Berücksichtigung aller Fakten, ja.«
Nach Berücksichtigung aller Fakten, hat Raphael Robson gesagt. Und eben danach suche ich doch, nach den Fakten.
Sie antworten nicht. Ihr Gesicht bleibt ausdruckslos, Sie verhalten sich ganz so, wie es Ihnen als Assistenzärztin in der Psychiatrie oder als Studentin oder was weiß ich beigebracht wurde, und warten auf meine Erklärung dafür, warum ich mich so entschlossen auf dieses Gebiet konzentriert habe. Angesichts dieser abwartenden Haltung gerät mein Redefluss ins Stocken. Ich beginne, mich selbst zu befragen. Ich prüfe die Motive, die mich zur Verschiebung, wie Sie es nennen würden, veranlassen könnten, und bekenne mich zur allen meinen Ängsten.
Was sind das für Ängste?, fragen Sie.
Das wissen Sie doch bereits, Dr. Rose.
Ich vermute, entgegnen Sie, ich ziehe in Betracht, ich mutmaße, und ich mache mir Gedanken, aber ich weiß gar nichts.
Na schön. Ich bin bereit, das zu akzeptieren. Und zum Beweis dafür, werde ich sie Ihnen aufzählen: Angst vor Menschenmengen, Angst davor, in der Untergrundbahn eingeschlossen zu werden, Angst vor hohen Geschwindigkeiten, Todesangst vor Schlangen.
Alles ziemlich verbreitete Ängste, stellen Sie fest.
Genau wie Versagensangst, Angst vor der Missbilligung meines Vaters, Angst vor geschlossenen Räumen - Da ziehen Sie eine Augenbraue hoch, vergessen einen Moment die Maske der Neutralität.
Ja, geschlossene Räume sind mir ein Gräuel, und mir ist natürlich klar, was das in Bezug auf meine Bereitschaft, Beziehungen einzugehen, bedeutet, Dr. Rose. Ich habe Angst davor, vom anderen erstickt zu werden, und diese Angst weist auf eine weiter gehende Angst vor Nähe hin - zu Frauen, zu Menschen überhaupt. Aber das ist mir nicht neu. Ich habe Jahre lang Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie und warum und an welchem Punkt genau meine Affäre mit Beth in die Brüche gegangen ist, und ich mache mir natürlich Gedanken über meinen Mangel an körperlichen Reaktionen bei Libby. Aber wenn ich mir meiner Ängste bewusst bin und mich zu ihnen bekenne, wenn ich sie ans Tageslicht hole und ausschüttle wie Staubtücher, wie können dann Sie oder mein Vater oder sonst jemand mich beschuldigen, ich verlegte mich, statt meinen Ängsten ins Auge zu sehen, auf ein ungesundes Interesse am Tod meiner Schwester und an den ihn umgebenden Ereignissen?
Ich beschuldige Sie nicht, Gideon, sagen Sie, die Hände im Schoß gefaltet. Ist es vielleicht so, dass Sie selbst sich beschuldigen?
Wessen denn?
Vielleicht können Sie mir das sagen.
Ach, was sollen diese Spielchen? Ich weiß genau, in welche Richtung Sie mich drängen wollen. In dieselbe wie alle anderen - außer Libby. Es geht doch nur um die Musik, Dr. Rose. Ich soll über die Musik sprechen. Ich soll eintauchen in dieses Thema.
Nur wenn Sie es wollen, entgegnen Sie.
Und wenn ich nicht will?
Dann könnten wir darüber sprechen, warum nicht.
Na bitte! Sie wollen mich reinlegen. Wenn Sie mich dazu bringen können, zuzugeben .
Was?, fragen Sie, als ich zögere, und Ihre Stimme ist so sanft wie Flaum. Bleiben Sie bei der Angst, ermahnen Sie mich. Angst ist nur ein Gefühl - sie ist keine Tatsache.
Aber Tatsache ist, dass ich nicht spielen kann. Und die Angst ist die vor der Musik.
Vor jeder Art von Musik?
Ach, die Antwort darauf wissen Sie doch, Dr. Rose. Sie wissen, dass es die Angst vor einem Musikstück im Besonderen ist. Sie wissen, dass das Erzherzog-Trio mich schon mein Leben lang verfolgt. Und Sie wissen, dass ich nicht ablehnen konnte, als Beth es zur Aufführung vorschlug. Eben weil Beth den Vorschlag machte. Hätte Sherill ihn gemacht, so hätte ich ohne Bedenken ganz einfach sagen können: »Such was anderes aus.« Er hätte sich wahrscheinlich über meine Ablehnung gewundert, weil es für ihn so etwas wie ein Unglücksstück nicht gibt, aber bei seinem Talent wäre es überhaupt kein Problem für ihn gewesen, von einem Stück auf ein anderes umzuschwenken, und er hätte es wahrscheinlich nur als Energieverschwendung betrachtet, meine Entscheidung zu hinterfragen. Aber Beth ist anders als Sherill, Dr. Rose, nicht in Bezug auf ihr Talent, sondern in ihrer ganzen Lebenseinstellung. Beth hatte das Erzherzog-Trio schon vorbereitet. Sie hätte Fragen gestellt. Sie hätte vielleicht hinter meiner Ablehnung meine Versagensangst entdeckt und die Verbindung zu meinem Versagen auf einem anderen Gebiet hergestellt, das sie nur zu gut kannte. Deshalb bat ich nicht darum, ein anderes Stück aufs Programm zu setzen. Ich beschloss, der Angst ins Auge zu sehen. Ich habe es darauf ankommen lassen, und ich bin gescheitert.
Und vorher?, fragen Sie.
Vorher?
Vor dem Auftritt in der Wigmore Hall. Sie haben doch geprobt.
Ja. Natürlich.
Und da haben Sie das Stück gespielt?
Wir hätten ja wohl kaum ein öffentliches Konzert angekündigt, wenn einer von uns - Sie hatten keine Schwierigkeiten, es zu spielen? Bei den Proben, meine ich.
Ich habe das Stück nie ohne Schwierigkeiten gespielt, Dr. Rose, sei es bei mir zu Hause oder bei Proben. Ich war jedes Mal ein Nervenbündel, meine Eingeweide tobten, der Kopf hämmerte zum Zerspringen, und mir war so übel, dass ich mindestens eine Stunde über der Toilette hing. All das, auch wenn kein öffentlicher Auftritt bevorstand.
Und wie war es an dem Abend in der Wigmore Hall?, fragen Sie. Hatten Sie da vor Ihrem Auftritt die gleichen Probleme?
Und ich zögere.
In Ihren Augen blitzt Interesse auf. Sie versuchen, mein Zögern zu deuten, und überlegen, ob Sie jetzt nachhaken oder lieber warten sollen, bis die Erkenntnisse und Geständnisse von selbst aus mir hervorsprudeln.
Denn ich habe vor diesem Auftritt tatsächlich nicht gelitten.
Und ich habe bis zu diesem Moment nicht über diese Tatsache nachgedacht.
Ich war in Cheltenham. Sarah-Jane Beckett heißt jetzt Sarah-Jane Hamilton, seit zwölf Jahren schon. Körperlich hat sie sich seit der Zeit, als sie meine Lehrerin war, kaum verändert: Sie hat ein wenig an Gewicht zugelegt, aber der Busen ist immer noch flach und ihr Haar so rot wie damals, als sie noch bei uns lebte. Sie trägt es jetzt anders mit einem Haarband aus dem Gesicht gehalten -, aber es ist so glatt wie immer.
Eine Veränderung jedoch fiel mir augenblicklich an ihr auf. Sie kleidete sich anders. Sie hat sich offenbar von dem Stil abgewandt, den sie bevorzugte, als sie noch bei uns lebte - Kleider mit üppigen Kragen und Spitzenbesatz, wenn ich mich recht erinnere -, und hat den Aufstieg zu Twinset und Perlenkette geschafft. Die zweite Veränderung, die ich an ihr bemerkte, betrifft ihre Hände. Früher hatte sie immer bis zum Fleisch abgebissene Fingernägel, jetzt sind die Nägel lang und gepflegt und rot lackiert, damit der protzige Ring mit den Saphiren und Brillanten besser zur Geltung kommt. Die Fingernägel fielen mir vor allem deshalb auf, weil sie im Gespräch ständig mit den Händen gestikulierte, als wollte sie mir zeigen, wie reich sie mit weltlichen Gütern gesegnet ist.
Der Beschaffer der weltlichen Güter war nicht zu Hause, als ich kam. Sarah-Jane war vorn im Garten des Hauses - das in einem sehr eleganten Viertel steht, wo man offensichtlich bevorzugt Mercedes und Range Rover fährt und füllte, auf einer dreistufigen Trittleiter stehend, gerade einen riesigen Futtertrog für Vögel mit Körnern auf. Da ich sie nicht erschrecken wollte, wartete ich schweigend, bis sie von der Leiter heruntergestiegen war und sich, nachdem sie ihr Twinset glatt gezogen hatte, auf die Brust klopfte, um sich zu vergewissern, dass die Perlenkette noch da war. Erst dann rief ich ihren Namen, und nachdem sie mich überrascht und erfreut begrüßt hatte, klärte sie mich darüber auf, dass Perry - Ehemann und großzügiger Versorger - geschäftlich in Manchester war und sehr enttäuscht wäre, wenn er bei seiner Heimkehr erführe, dass er meinen Besuch verpasst hatte.
»Er hat ja im Lauf der Jahre ständig von Ihnen gehört«, sagte sie. »Aber wahrscheinlich hat er nie geglaubt, dass ich Sie tatsächlich kenne.« Sie begleitete ihre Worte mit einem trällernden kleinen Lachen, das mir ausgesprochen unangenehm war, obwohl ich nicht sagen könnte, warum, außer dass Gelächter dieser Art stets unecht klingt.
»Kommen Sie herein«, sagte sie. »Bitte, kommen Sie. Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten? Tee? Oder einen Drink?«
Sie ging mir voraus ins Haus, das so geschmackvoll eingerichtet war, wie dies nur ein Innenarchitekt fertig gebracht haben konnte: genau die richtigen Möbel, genau die richtigen Farben, genau die richtigen Objekte, sanfte Beleuchtung, die schmeichelte, und die kleine persönliche Note bei der sorgfältigen Auswahl von Familienfotos.
Eines dieser Bilder ergriff sie auf dem Weg zur Küche und hielt es mir hin. »Perry«, sagte sie. »Unsere Töchter und seine beiden Töchter aus erster Ehe. Sie sind die meiste Zeit bei ihrer Mutter und verbringen nur jedes zweite Wochenende bei uns. Und die halben Ferien. Die moderne britische Familie eben.« Wieder das trällernde Lachen, dann verschwand sie durch eine Schwingtür, hinter der sich, so vermutete ich, die Küche befand.
Während ihrer Abwesenheit sah ich mir die Atelieraufnahme der Familie an. Perry thronte in der Mitte und war von fünf Frauen umgeben: Neben ihm saß seine Frau, seine beiden älteren Töchter standen hinter ihm, jede eine Hand auf seinen Schultern, ein kleineres Mädchen stand an Sarah-Jane gelehnt, und die letzte, noch kleiner, saß auf Perrys Knie. Sein Gesicht zeigte jenen Ausdruck von Selbstgefälligkeit, der sich bei Männern offenbar einzustellen pflegt, wenn sie es geschafft haben, Nachkommen in die Welt zu setzen. Die älteren Mädchen wirkten zu Tode gelangweilt, die jüngeren sahen sympathisch aus, und Sarah-Jane schien hoch zufrieden zu sein.
Sie kam aus der Küche zurück, und ich stellte das Foto wieder auf den Tisch, von dem sie es genommen hatte.
»Als Stiefmutter«, bemerkte sie, »geht es einem ähnlich wie als Lehrerin: Man muss ständig ermutigen, aber man darf sich nicht die Freiheit nehmen, zu sagen, was man wirklich denkt. Und ständig machen einem die Eltern zu schaffen, in diesem Fall die Mutter. Sie trinkt leider.«
»War es bei mir auch so?«
»Um Gottes willen, Ihre Mutter hat doch nicht getrunken.«
»Ich meinte, dass man nicht die Freiheit hat, zu sagen, was man denkt.«
»Man lernt Diplomatie«, antwortete sie. »Das ist meine kleine Angelique.« Sie deutete auf das Kind auf Perrys Schoß. »Und das ist Anastasia. Sie ist übrigens musikalisch nicht unbegabt.«
Ich wartete darauf, dass sie mir auch die älteren Mädchen vorstellen würde, aber das tat sie nicht. So fragte ich schließlich pflichtschuldig, was für ein Instrument Anastasia denn spiele. Die Harfe, wurde mir geantwortet, und ich dachte, sehr passend. Sarah-Jane hatte immer ein wenig wie eine Jane-Austen-Figur gewirkt, die sich im Jahrhundert geirrt hatte, viel eher dazu geschaffen, in stiller Beschaulichkeit an ihrem Stickrahmen zu sitzen oder harmlose Aquarelle zu malen, als in der Härte und Hektik des modernen Lebens mit anderen Frauen zusammen um ihren Platz in der Gesellschaft zu kämpfen. Sarah-Jane Beckett Hamilton beim Joggen im Regent's Park mit einem Handy am Ohr? Das war mir so unvorstellbar wie Sarah-Jane Beckett Hamilton im Kampf gegen einen Großbrand, beim Kohleabbau in einem Bergwerk, als Mitglied einer Segelmannschaft bei der Fastnet-Regatta. Ganz logisch, dass sie ihre ältere Tochter lieber zur Harfe als etwa zur elektrischen Gitarre hingeführt hatte. Ich hatte keinen Zweifel, dass sie sie sehr energisch beeinflusst hatte, nachdem das Mädchen den Wunsch geäußert hatte, ein Instrument zu lernen.
»Ihnen kann sie natürlich nicht das Wasser reichen.« Sarah-Jane zeigte mir stolz ein weiteres Foto: Anastasia an der Harfe, die Arme anmutig erhoben, um mit den Fingern - die leider kurz und dick waren wie die der Mutter - in die Saiten zu greifen. »Aber sie macht ihre Sache recht gut. Ich hoffe, Sie werden sie einmal hören. Natürlich nur, wenn Sie Zeit haben.« Und sie ließ wieder ihr trällerndes Lachen erklingen. »Ach, es ist wirklich schade, dass Perry nicht hier ist, Gideon. Er hätte sich so sehr gefreut, Sie kennen zu lernen. Sind Sie hier, um ein Konzert zu geben?«
Ich verneinte kurz, ohne irgendetwas zu erklären. Sie hatte offensichtlich die Berichte über den Zwischenfall in der Wigmore Hall nicht gelesen, und mir war das nur recht. Ich wollte mich vor allem bei Sarah-Jane darüber nicht auslassen. Ich sagte einfach, dass ich gekommen sei, um mit ihr über den Tod meiner Schwester und die Gerichtsverhandlung zu sprechen.
»Ach so«, sagte sie. »Hm, ich verstehe.« Und sie setzte sich auf ein hoch aufgepolstertes Sofa von der Farbe frisch gemähten Grases und wies mich zu einem Sessel, über dessen Bezug, der in gedämpften Herbsttönen gehalten war, eine Hundemeute einem Hirsch hinterherjagte.
Ich wartete auf die logischen Fragen. Warum? Warum gerade jetzt? Warum diese alten Geschichten ausgraben, Gideon? Aber sie stellte diese Fragen nicht, und das fand ich seltsam. Vielmehr setzte sie sich auf dem Sofa ordentlich zurecht, kreuzte die Beine an den Fesseln, legte die Hände im Schoß übereinander - die Hand mit den Saphiren und Brillanten obenauf - und machte ein aufmerksames Gesicht ganz ohne eine Spur der misstrauischen Vorsicht, die ich erwartet hatte.
»Was möchten Sie denn wissen?«, fragte sie.
»Alles, was Sie mir erzählen können. Vor allem über Katja Wolff. Was für ein Mensch sie war, wie das Zusammenleben mit ihr war.«
»Ah ja. Natürlich.« Sarah-Jane saß still da und sammelte sich. Dann begann sie zu sprechen. »Nun ja, es war von Anfang an offensichtlich, dass sie als Kinderfrau für Ihre Schwester nicht geeignet war. Es war ein Fehler Ihrer Eltern, sie zu engagieren, aber das erkannten sie erst, als es zu spät war.«
»Mir hat man erzählt, dass Katja Sonia gern hatte.«
»O ja, gern gehabt hat sie die Kleine sicher. Es war leicht, Sonia gern zu haben. Sie war sehr zart, und sie war schwierig - welches Kind in so einer Situation wäre das nicht? -, aber sie war doch sehr liebenswert. Wer würde so ein hilfloses kleines Wesen nicht gern haben? Aber um sich dem Kind wirklich mit Liebe zu widmen, hatte Katja zu viel anderes im Kopf. Und Liebe braucht man im Umgang mit Kindern, Gideon. Bloßes Gernhaben reicht nicht, wenn die ersten Wutanfälle oder Schreikrämpfe kommen.«
»Was hatte sie denn anderes im Kopf?«
»Es war ihr nicht ernst mit der Kinderbetreuung. Für sie war das nur ein Job, ein Mittel zum Zweck. Sie wollte Modezeichnerin werden - mir ist schleierhaft, wieso; Sie hätten die bizarren Kostümierungen sehen sollen, die sie für sich selbst zusammenstellte! - und nur so lange bei Sonia bleiben, bis sie das Geld zusammengespart hatte, das sie brauchte, um… na ja, um ihre Ausbildung zu bezahlen. Das war das eine.«
»Und weiter?«
»Der Ruhm.«
»Sie wollte berühmt werden?«
»Sie war schon berühmt: das Mädchen, das die Berliner Mauer überwand und deren Geliebter in ihren Armen starb.«
»In ihren Armen?«
»Hm, naja. So hat sie es erzählt. Sie hatte ein ganzes Album mit sämtlichen Interviews, die sie den Zeitungen und Illustrierten aus aller Welt nach der Flucht gegeben hatte, und wenn man ihr glaubte, hatte sie den Ballon ganz allein entworfen und aufgeblasen, was ich, ehrlich gesagt, stark bezweifle. Ich war immer der Ansicht, sie konnte von Glück reden, dass sie diese Flucht überlebte. Wäre der Junge am Leben geblieben - wie hieß er nur gleich? Georg? Klaus? -, so hätte er zweifellos ganz anders darüber berichtet, wer die Idee gehabt und die Arbeit gemacht hatte. Sie hielt sich bereits für etwas Besonderes, als sie nach England kam, und hier wurde sie noch überheblicher - erneute Interviews, Mittagessen mit dem Bürgermeister, eine Privataudienz im Buckingham-Palast. Sie war rein psychologisch überhaupt nicht gerüstet, als Betreuerin Ihrer kleinen Schwester wieder in der Versenkung zu verschwinden. Und sie war auch körperlich und mental nicht auf die Verantwortung vorbereitet, die da auf sie zukam. Sie war ganz einfach nicht für diese Arbeit geeignet. Überhaupt nicht.«
»Sie musste also versagen«, sagte ich leise, und es klang wahrscheinlich spekulativ, denn Sarah-Jane erwiderte sogleich, sie müsse einen falschen Eindruck berichtigen.
»Ich will keinesfalls unterstellen, dass Ihre Eltern sie engagiert haben, weil sie für diese Arbeit nicht geeignet war, Gideon. Das wäre eine falsche Einschätzung der Situation. Das könnte ja nahe legen, dass… Aber lassen wir das.«
»Aber es war von Anfang an offenkundig, dass sie mit der Verantwortung überfordert war?«
»Nur bei genauem Hinsehen war es offenkundig«, erwiderte sie. »Und Sie und ich, wir beide waren weit häufiger als alle anderen mit Katja und der Kleinen zusammen. Wir waren in der Lage, zu sehen und zu hören… Wir - wir vier, meine ich - waren viel öfter im Haus als Ihre Eltern, die ja beide täglich zur Arbeit gingen. Darum haben wir mehr gesehen. Zumindest ich habe mehr gesehen.«
»Und meine Großeltern? Wo waren die?«
»Oh, Ihr Großvater war nie weit, das ist wahr. Katja gefiel ihm, er hat ihre Gesellschaft gesucht. Aber er war ja wirklich nicht ganz klar im Kopf, nicht wahr, wenn Sie wissen, was ich damit sagen will. Von ihm konnte man, weiß Gott, nicht erwarten, dass er irgendwelche Unregelmäßigkeiten, die ihm auffielen, meldete.«
»Unregelmäßigkeiten?«
»Nun, zum Beispiel, dass Katja die Kleine oft einfach schreien ließ, ohne sich um sie zu kümmern, dass sie wegging, wenn Sonia während des Tages schlief, Telefongespräche führte, während sie die Kleine fütterte, oft ungeduldig war mit ihr. Das nenne ich Unregelmäßigkeiten: Verhaltensweisen, die zwar nicht grob fahrlässig sind, aber auch nicht in Ordnung.«
»Haben Sie das damals jemandem gesagt?«
»Aber ja, Ihrer Mutter.«
»Und was war mit meinem Vater?«
Sarah-Jane sprang plötzlich vom Sofa auf. »Ach, der Kaffee!«, rief sie. »Den habe ich ganz vergessen…« Damit entschuldigte sie sich und eilte aus dem Zimmer.
Und was war mit meinem Vater? Es war so still, drinnen wie draußen, dass meine Frage von den Wänden abzuprallen schien wie ein Echo in einer Schlucht. Und was war mit meinem Vater?
Ich stand aus meinem Sessel auf und trat zu einer der zwei Glasvitrinen, die zu beiden Seiten des offenen Kamins standen. Ich sah mir an, was in ihnen zur Schau gestellt war: alte Puppen aller Arten und Größen, von der Babypuppe bis zur Teepuppe, alle in historische Kostüme gekleidet, vielleicht der Zeit entsprechend, in der sie hergestellt worden waren. Ich verstehe nichts von Puppen und wusste daher nicht, was ich vor mir hatte, aber ich konnte immerhin erkennen, dass es sich um eine beeindruckende Sammlung handelte, sowohl der Zahl als auch der Qualität und dem Zustand der Puppen nach. Einige von ihnen sahen aus, als hätte sie nie ein Kind in der Hand gehalten, und ich fragte mich, ob Sarah-Jane s Töchter oder Stieftöchter manchmal vor diesen Vitrinen gestanden und sehnsüchtig die Puppen angestarrt hatten, die sie nicht anfassen durften.
Dann bemerkte ich, dass an den Wänden des Zimmers zahlreiche Aquarelle hingen, alle, wie es schien, von derselben Hand gemalt: Darstellungen von Häusern, Brücken, Schlössern, Autos und sogar Bussen. Ich suchte die Signatur in der rechten unteren Bildecke. S.J. Beckett stand da in geschwungenen Schriftzügen. Ich trat ein paar Schritte zurück, um die Bilder genauer zu betrachten. Ich konnte mich nicht erinnern, dass Sarah-Jane gemalt hatte, als sie meine Lehrerin gewesen war. Diese Arbeiten zeigten ein gewisses Talent für Detailgenauigkeit, aber das Vertrauen in den malerischen Schwung fehlte.
»Ah, Sie haben mein Geheimnis entdeckt.« Sie war an der Tür stehen geblieben, in beiden Händen trug sie ein großes Tablett, auf dem ein verschnörkeltes silbernes Kaffeeservice, Tassen aus feinem Porzellan und eine Schale mit Ingwerkeksen standen, die sie, wie sie in vertraulichem Ton mitteilte, »heute Morgen frisch gebacken« hatte. Aus irgendeinem Grund fragte ich mich, wie Libby auf dies alles reagiert hätte: die Puppen, die Aquarelle, das Kaffeeservice, auf diese Frau und vor allem auf das, was sie bisher gesagt und geflissentlich verschwiegen hatte.
»Bei Menschen habe ich leider gar keine glückliche Hand«, sagte sie. »Genauso bei Tieren. Bei allem Lebendigen eigentlich. Die einzige Ausnahme sind Bäume. Die kann ich malen. Blumen allerdings - unmöglich.«
Im ersten Moment wusste ich nicht, wovon sie sprach. Dann aber begriff ich, dass ihre Worte sich auf ihre Malerei bezogen, und machte eine angemessene Bemerkung über die Qualität ihrer Arbeit.
»Sie Schmeichler!«, schalt sie lachend.
Sie stellte das Tablett auf einen niedrigen Tisch und schenkte ein. »Ich war ein bisschen arg sarkastisch, als wir von Katjas modischem Geschmack sprachen«, bemerkte sie. »Ich habe manchmal so eine Art. Sie müssen mir das nachsehen. Ich bin viel allein - Perry ist ja häufig auf Reisen, wie ich schon sagte, und die Mädchen sind natürlich in der Schule -, da vergesse ich leicht, meine Zunge im Zaum zu halten, wenn dann tatsächlich einmal jemand zu Besuch kommt. Eigentlich hätte ich sagen sollen, dass sie von Mode und Design keine Ahnung hatte; sie war ja in Ostdeutschland aufgewachsen. Ich meine, was konnte man von jemandem aus dem Ostblock erwarten?Haute couture? Es war darum eigentlich umso bewundernswerter, dass sie fest entschlossen war, auf die Modeschule zu gehen. Aber es war eben ein Unglück - eine Tragödie, sollte man sagen -, dass sie mitsamt ihren Träumen und ihrer Unerfahrenheit in der Kinderpflege im Haus Ihrer Eltern landete. Die Kombination war tödlich. Milch? Zucker?«
Ich nahm die dargebotene Tasse. Nicht bereit, mich in eine Erörterung über Katja Wolffs modischen Geschmack ziehen zu lassen, sagte ich: »Wusste mein Vater, dass sie in ihrer Arbeit nachlässig war?«
Sarah-Jane rührte ihren Kaffee um, obwohl sie nichts hineingegeben hatte, was umgerührt hätte werden müssen. »Das hat ihm Ihre Mutter zweifellos gesagt.«
»Aber Sie nicht?«
»Nachdem ich einen Elternteil darauf aufmerksam gemacht hatte, hielt ich es nicht für notwendig, auch noch mit dem anderen darüber zu sprechen. Und Ihre Mutter war häufiger im Haus, Gideon. Ihr Vater war selten da, er arbeitete ja fast immer Doppelschichten. Daran erinnern Sie sich doch sicher. Nehmen Sie einen Keks? Haben Sie immer noch so eine Schwäche für Süßigkeiten? Ach, merkwürdig! Eben ist mir eingefallen, dass Katja ganz versessen auf Süßigkeiten war. Vor allem auf Pralinen. Tja, das ist wahrscheinlich auch eine Folge des Lebens in einem Ostblockstaat. Die täglichen Entbehrungen.«
»Worauf war sie sonst noch versessen?«
»Worauf sie sonst noch…?« Sarah-Jane schien perplex.
»Ich weiß, dass sie schwanger war, und ich erinnere mich daran, sie im Garten mit einem Mann gesehen zu haben. Ich konnte ihn nicht erkennen, aber was die beiden taten, war klar. Raphael behauptet, es wäre James gewesen, der Untermieter.«
»Das glaube ich kaum!«, protestierte Sarah-Jane. »James und Katja? Du lieber Himmel!« Dann lachte sie. »James Pitchford hatte nichts mit Katja. Wie kommen Sie nur auf so eine Idee? Er hat ihr beim Englischlernen geholfen, aber abgesehen davon… Wissen Sie, James war Frauen gegenüber immer eher gleichgültig. Man machte sich unwillkürlich Gedanken über seine - äh - sexuelle Orientierung. Nein, nein. Mit James Pitchford hat Katja ganz sicher keine Affäre gehabt.« Sie nahm sich noch einen Ingwerkeks. »Aber wenn eine Gruppe Erwachsener unter einem Dach lebt und dann eine der Frauen schwanger wird, tendiert man natürlich dazu, einen der männlichen Mitbewohner als Urheber zu verdächtigen. Das ist wahrscheinlich logisch. Aber in diesem Fall…? Nein, James war es sicher nicht. Ihr Großvater kann es nicht gewesen sein. Wer bleibt dann? Nun, Raphael natürlich. Vielleicht hat er James Pitchford angeschwärzt, um von sich abzulenken.«
»Was ist mit meinem Vater?«
Einen Moment geriet sie außer Fassung. »Aber Gideon, Sie können nicht im Ernst glauben, dass Ihr Vater und Katja - also, Sie hätten doch Ihren eigenen Vater erkannt, wenn er der Mann gewesen wäre, den sie mit ihr zusammen beobachtet haben. Außerdem - nein, Ihr Vater hat nur Ihre Mutter geliebt.«
»Trotzdem haben sie sich zwei Jahre nach Sonias Tod getrennt -«
»Aber das hatte doch nur mit diesem Todesfall zu tun, mit der Tatsache, dass Ihre Mutter einfach nicht damit fertig wurde. Sie ist nach der Ermordung Ihrer Schwester in eine tiefe Depression gefallen - was unter diesen Umständen ja auch ganz normal war - und hat nie wieder aus ihr herausgefunden. Nein. Sie dürfen nicht schlecht von Ihrem Vater denken. Wirklich nicht.«
»Aber Katja Wolff weigerte sich, den Namen des Vaters ihres Kindes zu nennen. Sie lehnte es ab, über irgendetwas zu sprechen, was mit meiner Schwester zu tun hatte…«
»Gideon, jetzt hören Sie mir mal zu.« Sarah-Jane stellte ihre Kaffeetasse ab und legte den angebissenen Keks auf den Rand der Untertasse. »Ihr Vater hat vielleicht Katja Wolffs äußere Schönheit bewundert, so wie alle Männer. Er hat vielleicht ab und zu mal ein Stündchen mit ihr allein verbracht. Er hat sich vielleicht über die Fehler, die sie im Englischen machte, amüsiert, er hat ihr vielleicht auch zu Weihnachten und ihrem Geburtstag ein, zwei Geschenke gemacht… Aber das alles heißt doch nicht, dass er ihr Liebhaber war. Diesen Gedanken müssen Sie sich sofort aus dem Kopf schlagen.«
»Aber dass sie mit keinem Menschen geredet hat… Ich weiß, dass sie zu allem geschwiegen hat, und das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«
»Für uns vielleicht nicht«, erwiderte Sarah-Jane. »Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass Katja eine eigensinnige Person war. Ich bin sicher, sie hatte sich in den Kopf gesetzt, sie brauche nur zu schweigen und alles würde gut ausgehen. Sie kam schließlich aus einem kommunistischen Land, wo die Kriminalistik längst nicht so weit war wie in England, und sie sagte sich wahrscheinlich, was haben die schon gegen mich in der Hand, das sich nicht erklären ließe? Also behauptete sie, sie sei kurz ans Telefon gerufen worden - wobei ich nicht verstehe, wie sie so dumm sein konnte, etwas zu behaupten, was so leicht zu widerlegen war -, und die Folge sei ein tragischer Unfall gewesen. Woher hätte sie wissen sollen, was noch alles ans Licht kommen und sie am Ende überführen würde?«
»Was kam denn noch ans Licht? Außer der Schwangerschaft, der Lüge bezüglich des Anrufs und dem Streit mit meinen Eltern? Was kam noch ans Licht?«
»Nun, da waren einmal die anderen, bereits verheilten Verletzungen ihrer Schwester. Und dann Katja Wolffs Charakter. Es kam doch heraus, dass ihre eigene Familie in Ostdeutschland ihr völlig egal war und sie sich nie darum gekümmert hatte, wie man nach ihrer Flucht ihre Angehörigen behandelte. Erinnern Sie sich nicht? Irgendjemand hatte da nachgegraben. Es stand in allen Zeitungen.«
Sie griff wieder nach ihrer Tasse und goss sich Kaffee ein. Dass ich den meinen bisher nicht angerührt hatte, fiel ihr nicht auf.
»Aber nein«, fügte sie hinzu, »Sie waren damals noch zu klein. Sie haben sicher keine Zeitungen gelesen. Und im Übrigen achteten alle sorgfältig darauf, vor Ihnen nicht über die Sache zu sprechen. Sie werden sich also nicht erinnern - wussten es wahrscheinlich nie -, dass man ihre Familie ausfindig gemacht hatte. Weiß der Himmel, wie, obwohl die Ostdeutschen vermutlich nur zu gern Auskunft gaben, als Warnung für jeden, der eine Flucht plante…«
»Was war mit der Familie?«, drängte ich.
»Beide Eltern verloren die Arbeit, und die Geschwister mussten ihr Universitätsstudium aufgeben. Aber glauben Sie ja nicht, Katja hätte in der Zeit, in der sie bei Ihnen lebte, auch nur eine einzige Träne um ihre Eltern oder Geschwister geweint! Glauben Sie ja nicht, sie hätte auch nur einmal versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen und ihnen irgendwie zu helfen! Im Gegenteil, sie hat nicht einmal von ihnen gesprochen. Sie existierten nicht für sie.«
»Hatte sie damals Freunde?«
»Hm. Ich erinnere mich an diese Dicke mit dem lockeren Mundwerk. Waddington hieß sie mit Nachnamen, das weiß ich noch, weil der Name zu ihr passte. Sie ging nicht, sie watschelte, wissen Sie.«
»Hieß die Frau Katie?«
»Richtig. Ja. Katie Waddington. Katja kannte sie aus dem Kloster, und als sie zu Ihrer Familie zog, kam diese Waddington - Katie - regelmäßig vorbei. Meistens saß sie irgendwo herum und stopfte sich voll - kein Wunder, dass sie so dick war. Und sie redete ständig von Freud und von Sex. Sie war völlig fixiert auf Sex. Freud und Sex. Sex und Freud. Die Bedeutung des Orgasmus, die Lösung des Ödipuskomplexes, die Befriedigung unerfüllter und verbotener kindlicher Wünsche, die Funktion der Sexualität als Katalysator für Veränderung, die sexuelle Versklavung der Frauen durch die Männer und der Männer durch die Frauen…« Sarah-Jane beugte sich vor, ergriff die Kaffeekanne und sah mich lächelnd an: »Noch eine Tasse? Oh, Sie haben ja noch nicht mal probiert. Kommen Sie. Ich gieße Ihnen eine frische Tasse ein.«
Und bevor ich etwas erwidern konnte, schnappte sie sich meine Kaffeetasse und verschwand in der Küche.
Ich war allein mit meinen Gedanken: über plötzlichen Ruhm und sein Verblassen, über die Zerstörung der engsten Familie, über Wünsche und Träume und die entscheidende Fähigkeit, die Erfüllung solcher Wünsche und Träume zurückzustellen, über äußerliche Schönheit und Reizlosigkeit, über die Möglichkeit, aus Bosheit zu lügen oder aus dem gleichen Grund die Wahrheit zu sagen.
Als Sarah-Jane zurückkam, hatte ich meine Frage parat: »Was ereignete sich an dem Abend, an dem meine Schwester starb? Ich erinnere mich an Folgendes: Plötzlich kamen die Sanitäter oder Notärzte oder wer immer. Wir beide - Sie und ich - befanden uns in meinem Zimmer, während sie sich um Sonia kümmerten. Ich hörte mehrere Menschen weinen. Ich glaube, ich hörte auch Katjas Stimme. Aber das ist meine ganze Erinnerung. Was ist damals wirklich geschehen?«
»Aber das kann Ihnen doch Ihr Vater viel besser beantworten als ich. Haben Sie ihn denn nicht gefragt?«
»Es fällt ihm sehr schwer, über die Zeit damals zu sprechen.«
»Sicher, ja… Aber ich…« Sie spielte mit ihren Perlen. »Zucker? Milch? Sie müssen meinen Kaffee kosten.«
Als ich gehorsam die Tasse mit dem bitteren Gebräu zum Mund führte, sagte sie: »Ich kann da leider nicht viel hinzufügen. Ich war in meinem Zimmer, als es geschah. Ich hatte Ihre Unterrichtsstunde für den nächsten Tag vorbereitet und war gerade auf einen Sprung zu James hinüber gegangen, weil ich ihn um seine Hilfe bitten wollte. Ich hatte vor, in der nächsten Unterrichtsstunde mit Ihnen die Maße und Gewichte durchzunehmen, und hoffte, ihm würde ein Einstieg zu dem Thema einfallen, der Ihr Interesse hervorrufen würde. Ich meine, er war ein Mann - ist es natürlich immer noch, wenn er noch am Leben ist, und es besteht kein Anlass, das Gegenteil anzunehmen -, und ich dachte, er hätte vielleicht ein Idee, die einen kleinen Jungen, der sich im Grunde nur für die Musik interessierte« - hier zwinkerte sie mir zu - »neugierig machen könnte. Wir besprachen also verschiedene Möglichkeiten, als wir unten Lärm hörten - laute Stimmen, Gepolter, Türenschlagen und so weiter. Wir liefen nach unten, und da waren schon alle im Flur -«
»Alle?«
»Ja. Ihre Mutter, Ihr Vater, Katja, Raphael Robson, Ihre Großmutter .«
»Mein Großvater auch?«
»Ich weiß nicht… Doch, er muss da gewesen sein. Außer er war - na ja, wieder einmal auf dem Land zur Erholung. Nein, nein, er muss auch da gewesen sein, Gideon. Es war ungeheuer viel Lärm, und Ihr Großvater war ein ausgesprochen lauter Mensch, das weiß ich noch. Jedenfalls sagte man mir, ich solle Sie wieder in Ihr Zimmer bringen und bei Ihnen bleiben, und das tat ich auch. Als die Ärzte und Sanitäter kamen, mussten sowieso alle verschwinden, nur Ihre Eltern durften bleiben. Aber wir konnten von Ihrem Zimmer aus trotzdem alles hören.«
»Ich erinnere mich an nichts«, sagte ich, »außer an den Moment in meinem Zimmer.«
»Aber das ist doch ganz normal. Sie waren damals ein kleiner Junge. Wie alt? Sieben? Acht?«
»Acht.«
»Wie viele von uns haben denn Erinnerungen an schöne Zeiten in der Kindheit? Und dies war eine schreckliche und verstörende Zeit, Gideon. Für Sie war es ein Segen, das alles zu vergessen.«
»Sie sagten, dass Sie nicht gehen würden. Das weiß ich noch.«
»Selbstverständlich hätte ich Sie in einer solchen Situation niemals allein gelassen.«
»Nein, nein, das meine ich nicht. Sie sagten, Sie würden nun doch meine Lehrerin bleiben. Mein Vater hat mir erzählt, dass er Ihnen gekündigt hatte.«
Ihr Gesicht wurde rot, so tiefrot wie ihr Haar, das jetzt, da sie sich den Fünfzigern näherte, in seinem natürlichen Ton eingefärbt war. »Das Geld war damals knapp, Gideon.« Sie sprach leiser als zuvor.
»Natürlich. Verzeihen Sie. Ich weiß. Ich wollte auf keinen Fall unterstellen… Es liegt doch auf der Hand, dass mein Vater Sie nicht bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr im Haus behalten hätte, wenn Sie nicht eine außergewöhnlich gute Lehrerin gewesen wären.«
»Danke.« Es klang überaus förmlich. Entweder hatten meine Worte sie gekränkt, oder sie wollte mich dies glauben machen, um es für sich auszunützen und das Gespräch in ihrem Sinn zu lenken. Das war mir sofort klar, Dr. Rose, und um dem gleich entgegenzutreten, ergriff ich selbst die Initiative und sagte: »Was haben Sie getan, bevor Sie zu James hinübergegangen sind, um ihn um seine Hilfe zu bitten?«
»An diesem Abend? Nun, wie ich schon sagte, ich plante die Unterrichtsstunden für den folgenden Tag.«
Mehr sagte sie nicht. Sie wusste, dass ich mir den Rest bereits selbst zusammengereimt hatte: Bevor sie zu James hinübergegangen war, war sie allein in ihrem Zimmer gewesen.