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»Nicht mal einen Rollstuhl hat er genommen«, sagte die Stationsschwester der Notaufnahme. Auf ihrem Namensschildchen stand »Schwester Darla Magnana«, und sie war höchst empört über die Art und Weise, wie Richard Davies sich aus dem Krankenhaus verabschiedet hatte. Alle Patienten hatten das Haus in Rollstühlen zu verlassen, in Begleitung eines Mitglieds des Pflegepersonals, das sie zu ihrem Wagen bringen würde. Keinesfalls hatten sie diese Dienstleistung des Krankenhauses abzulehnen; taten sie es doch, so durften sie nicht entlassen werden. Dieser Herr war tatsächlich auf eigene Verantwortung gegangen, ohne ordnungsgemäß entlassen worden zu sein. Das Krankenhaus übernahm daher keinerlei Haftung für den Fall, dass seine Verletzungen sich verschlimmerten oder ihm weitere Probleme bereiteten. Schwester Darla Magnana hoffte, dass das klar sei. »Wenn wir jemanden über Nacht zur Beobachtung hier behalten möchten, haben wir sehr gute Gründe dafür«, erklärte sie.

Lynley bat, den Arzt sprechen zu dürfen, der Richard Davies behandelt hatte, und dieser - ein überarbeitet aussehender Stationsarzt mit Drei-Tage-Bart - unterrichtete ihn und Barbara Havers über das Ausmaß der Verletzungen, die Richard Davies davongetragen hatte: einen komplizierten Bruch der rechten Ulna, einen einfachen Bruch des rechten Malleolus. »Rechter Arm und rechter Fußknöchel«, übersetzte der Arzt für Barbara, als diese sagte: »Was für Brüche?« Weiter erwähnte er: »Abschürfungen an den Händen. Eine mögliche Gehirnerschütterung. Aber insgesamt hat der Mann großes Glück gehabt. Das hätte tödlich ausgehen können.«

Darüber dachte Lynley nach, als er und Barbara das Krankenhaus wieder verließen, nachdem man ihnen mitgeteilt hatte, dass Richard Davies sich in Begleitung einer hochschwangeren Frau davongemacht hatte. Sie setzten sich in den Bentley, riefen Leach an und hörten von ihm, dass Winston Nkata den Namen Noreen McKays durchgegeben hatte und man mittlerweile über den Computer der Zentralen Zulassungsstelle festgestellt hatte, dass sie einen neueren Toyota RAV4 fuhr. Es war ihr einziges Fahrzeug.

»Wenn uns die Gefängnisunterlagen nichts bringen, sind wir wieder bei dem Humber«, sagte Leach. »Lassen Sie den Wagen zur Überprüfung abholen.«

Lynley sagte: »In Ordnung. Und wie sieht es mit Eugenie Davies' Computer aus, Sir?«

»Damit können wir uns später befassen. Erst mal den Wagen. Und reden Sie mal mit der Foster. Ich möchte wissen, wo sie heute Nachmittag war.«

»Na, bestimmt nicht in der Portman Street, um ihren Verlobten unter einen Bus zu stoßen«, erwiderte Lynley, obwohl er wusste, er sollte besser nichts sagen oder tun, was womöglich Leach an seine eigenen Verfehlungen erinnerte. »In ihrem Zustand wäre sie doch sehr auffällig.«

»Reden Sie einfach mit ihr, Inspector. Und bringen Sie diesen Wagen her.« Leach nannte Jill Fosters Adresse, irgendwo in Shepherd's Bush. Die Telefonauskunft lieferte Lynley eine Nummer dazu, und eine Minute später bekam er schon bestätigt, was er vermutet hatte, als Leach ihm seinen Auftrag gegeben hatte: Jill Foster war nicht zu Hause. Vermutlich hatte sie Davies in seine eigene Wohnung in South Kensington gebracht.

Als sie vor der letzten Etappe der Fahrt von der Gower Street nach South Kensington die Park Lane hinunterbrausten, sagte Barbara: »Jetzt können nur noch Robson oder Gideon Davies Richard Davies heute Abend vor den Bus gestoßen haben, Inspector. Aber wenn es einer von ihnen war, bleibt immer noch die grundlegende Frage: Warum?«

»>Wenn< ist das entscheidende Wort«, erklärte Lynley.

Sie hörte offensichtlich seine Zweifel, denn sie sagte: »Sie glauben nicht, dass es einer der beiden war?«

»Ein Mörder wählt fast immer die gleiche Waffe«, sagte Lynley.

»Aber ein Bus ist doch auch ein Fahrzeug«, entgegnete Barbara.

»Aber kein Pkw mit Fahrer. Und nicht der Wagen, der Humber. Oder sonst ein Oldtimer. Außerdem hat es Davies auch nicht so schlimm erwischt wie die anderen, wenn man bedenkt, wie es hätte kommen können.«

»Und niemand hat beobachtet, wie er gestoßen wurde«, meinte Barbara nachdenklich. »Wenigstens haben wir bis jetzt keinen Zeugen.«

»Ich wette, dass kein Mensch etwas gesehen hat, Havers.«

»Okay, wir sind also wieder bei Davies gelandet. Er lauert Kathleen Waddington auf, bevor er Eugenie totfährt. Er nimmt Webberly aufs Korn, um unseren Verdacht auf Katja Wolff zu lenken, als wir ihm nicht schnell genug von selbst draufkommen. Dann wirft er sich vor einen Bus, weil er das Gefühl hat, wir betrachten die Wolff nicht ernsthaft als Verdächtige. Gut. Leuchtet mir ein. Aber bleibt weiterhin die Frage, warum.«

»Gideons wegen. Anders kann es nicht sein. Weil Eugenie Gideon in irgendeiner Weise bedrohte, und Davies lebt für seinen Sohn. Wenn sie, wie Sie vermuteten, Barbara, tatsächlich vorhatte, ihn davon abzuhalten, wieder zu spielen -«

»Okay, mir gefällt der Gedanke, aber wäre Eugenie wirklich auf so eine Idee gekommen? Ich meine, das Normale wäre doch gewesen, dass sie wünschte, Gideon würde wieder spielen. Wir haben oben in ihrem Speicher die ganze Geschichte seiner Karriere gefunden. Es bedeutete ihr doch offensichtlich etwas, dass er spielte. Warum alles verderben?«

»Vielleicht war es gar nicht ihre Absicht, alles zu verderben«, meinte Lynley. »Aber vielleicht wäre es geschehen, vielleicht wäre alles verdorben gewesen - ohne dass sie es wusste oder wollte -, wenn sie Gideon wiedergesehen hätte.«

»Und da hat Davies sie umgebracht? Warum hat er ihr nicht einfach gesagt, was los war? Warum hat er nicht einfach gesagt: >Hey, warte mal, Schatz, lass das lieber. Wenn du mit Gideon zusammenkommst, ist er erledigte, als Musiker, mein ich!«

»Vielleicht hat er das gesagt«, erwiderte Lynley. »Und vielleicht sagte sie darauf: >Ich kann nicht anders, Richard. Es sind Jahre vergangen, und es ist Zeit .. .<«

»Wofür?«, fragte Barbara. »Für eine Familienzusammenführung? Eine Erklärung, warum sie damals gegangen ist? Eine Bekanntmachung ihrer Absichten bezüglich Wiley? Oder was?«

»Irgendwas«, sagte Lynley. »Irgendwas, wovon wir vielleicht nie erfahren werden.«

»Sehr tröstlich«, stellte Barbara fest »Und Richard Davies kriegen wird damit auch nicht schneller in den Knast. Wenn er überhaupt unser Mann ist. Die Beweislage ist mehr als bescheiden, Inspector. Er hat doch ein Alibi, richtig?«

»Hat geschlafen. Bei Jill Foster. Die ganz sicher wie ein Murmeltier geschlummert hat. Er hätte also verschwinden und zurückkommen können, ohne dass sie etwas merkte, Havers. Er hätte ihren Wagen nehmen und nach vollbrachter Tat schön wieder an seinen Platz stellen können.«

»Da sind wir wieder bei dem Wagen.«

»Er ist das Einzige, was wir haben.«

»Tja… Die Kronanwaltschaft wird da wohl kaum Freudensprünge machen, Inspector. Die Tatsache, dass er Zugang zum Wagen hatte, ist als Beweis ziemlich dürftig.«

»Die Möglichkeit des Zugangs für sich, ja, das stimmt«, pflichtete Lynley bei. »Aber darauf allein verlasse ich mich nicht.«

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