28

Richard hörte den Atem in seinen Ohren rauschen. Sie stürzte, und er sah ihr nach und hörte das Krachen des Treppengeländers, als sie dagegen schlug. Das Gewicht ihres Körpers beschleunigte den Fall, so dass nicht einmal der dürftige Ersatz für eine Zwischenetage - diese eine völlig unzureichende, etwas breitere Stufe, die Jill so hasste - sie aufhalten konnte und sie weiter stürzte bis hinunter ins Erdgeschoss.

Es geschah nicht in Sekundenschnelle. Es zog sich über eine Zeitspanne von solcher Länge hin, dass es wie eine Ewigkeit schien. Und mit jeder Sekunde, die verging, gewann Gideon, im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte und nicht durch einen Gipsverband behindert, der sein Bein vom Fuß bis zum Knie umschloss, mehr Abstand von seinem Vater. Und nicht nur Abstand, sondern vor allem gewann er Gewissheit. Und das durfte nicht sein!

Richard humpelte die Treppe hinunter, so schnell er es schaffte. Unten lag Jill, reglos, mit schlaffen Gliedern. Als er zu ihr trat, begannen ihre Augenlider, die im schwachen Licht, das durch die Foyerfenster fiel, blau aussahen, zu flattern, und ihre Lippen öffneten sich zu einem Stöhnen.

»Mama«, flüsterte sie.

Ihr Rock war hochgerutscht, ihr gewölbter Bauch auf obszöne Weise entblößt. Ihr Mantel lag wie ein riesiger Fächer über ihrem Kopf ausgebreitet.

»Mama?«, flüsterte sie wieder. Dann ächzte sie. Dann schrie sie auf und drückte ihren Rücken durch.

Richard kniete neben ihrem Kopf nieder. Hektisch durchsuchte er die Taschen ihres Mantels. Er hatte doch gesehen, wie sie die Schlüssel in ihre Manteltasche geschoben hatte. Verdammt noch mal, er hatte es doch gesehen! Er musste die Schlüssel finden. Wenn ihm das nicht gelang, würde Gideon bald über alle Berge sein, und er musste zu ihm, musste mit ihm sprechen, ihm erklären… Die Schlüssel waren nicht da. Richard fluchte. Er richtete sich auf. Er kehrte zur Treppe zurück und begann, sich in panischer Hast die Stufen hinaufzuziehen. Zu seinen Füßen rief Jill laut:

»Catherine«, und Richard zog sich am Treppengeländer hoch und keuchte wie ein Sprinter und dachte nur daran, wie er seinen Sohn aufhalten könnte.

Wieder in der Wohnung, suchte er nach Jills Handtasche. Sie lag neben dem Sofa auf dem Boden. Er hob sie auf, kämpfte mit dem idiotischen Verschluss. Seine Hände zitterten. Seine Finger waren ungeschickt. Er schaffte es nicht - Es klingelte irgendwo. Er hob den Kopf, schaute sich im Zimmer um. Aber da war nichts. Er konzentrierte sich wieder auf die Handtasche. Es gelang ihm, den Verschluss zu öffnen, und er riss die Tasche mit einem Ruck auf und leerte ihren Inhalt auf das Sofa.

Es klingelte irgendwo. Er ignorierte es. Er wühlte in Lippenstiften, Puderdosen, Scheckbuch, Geldbörse, zusammengeknüllten Papiertüchern, Kugelschreibern - und dann hatte er sie. Fünf Schlüssel an dem vertrauten Chromring, zwei messingfarben, drei silbern. Einer für ihre Wohnung, einer für seine, einer für das Haus ihrer Eltern in Wiltshire und zwei für den Humber, Zündung und Kofferraum. Er nahm sie an sich.

Es klingelte irgendwo. Lang, laut, nachdrücklich diesmal. Augenblickliche Kenntnisnahme fordernd.

Er fluchte, stellte endlich fest, woher das Klingeln kam. Die Glocke unten an der Haustür. Gideon? Gott, Gideon? Aber er hatte einen eigenen Schlüssel. Er würde nicht läuten.

Immer noch klingelte es. Richard beachtete es nicht mehr. Er eilte zur Wohnungstür.

Das Läuten hörte endlich auf. In Richards Ohren rauschte nur sein eigener Atem. Er klang wie das Heulen verlorener Seelen, und Schmerz begleitete ihn, Schmerz, der brennend sein rechtes Bein hinaufkroch und gleichzeitig pochend seinen ganzen rechten Arm von der Hand bis zur Schulter durchzog. Er hatte Seitenstechen vor Erschöpfung und konnte nicht mehr richtig durchatmen.

Oben an der Treppe blieb er stehen und blickte nach unten. Sein Herz hämmerte zum Zerspringen. Sein Brustkorb hob und senkte sich in tiefen Atemzügen. Die Luft, die er einsog, war feucht und schal.

Er begann, die Stufen hinunterzusteigen. Er hielt sich am Geländer fest. Jill hatte sich nicht gerührt. Konnte sie? Würde sie? Es spielte kaum eine Rolle, solange Gideon auf der Flucht war.

»Mama? Hilfst du mir?« Ihre Stimme war schwach. Aber Mama war nicht da. Mama konnte nicht helfen.

Aber Daddy war da. Daddy konnte helfen. Er würde immer da sein. Nicht diese Gestalt der Vergangenheit, erfüllt von einem schlauen Wahnsinn, der kam und ging und den Weg versperrte zu Daddy. Ja, mein Sohn, du bist mein Sohn. Sondern der Daddy der Gegenwart, der nicht scheitern konnte, nicht wollte, nicht würde. Ja, mein Sohn, du bist mein Sohn. Alles, was du tust, alles, was du kannst. Das alles bist du. Mein Sohn.

Richard erreichte die breitere Zwischenstufe.

Er hörte, wie unten die Haustür geöffnet wurde.

Er rief: »Gideon!«

»Oh, Hölle und Verdammnis!«, antwortete die Stimme einer Frau.

Ein vierschrötiges Geschöpf in einer dunkelblauen Marinejacke stürzte sich auf Jill. Ihr folgte ein Mann im Regenmantel, den Richard Davies nur zu gut erkannte. Er hielt eine Kreditkarte in der Hand, das Werkzeug, mit dem er die verzogene alte Haustür von Braemar Mansions geöffnet hatte.

»Guter Gott!« sagte Lynley und kniete ebenfalls neben Jill nieder. »Rufen Sie einen Rettungswagen, Havers.« Dann hob er den Kopf.

Sein Blick traf sofort auf Richard Davies, der mit Jills Autoschlüsseln in der Hand auf der Treppe stand.

Barbara fuhr mit Jill Foster ins Krankenhaus. Lynley brachte Richard Davies zum nächsten Polizeirevier. Zufällig war es das in der Earl's Court Road, von dem aus an einem Abend vor mehr als zwanzig Jahren Malcolm Webberly aufgebrochen war, um den Tod der kleinen Sonia Davies zu untersuchen, die unter verdächtigen Umständen in der Badewanne ertrunken war.

Ob Richard Davies sich der Ironie dieses Zufalls bewusst war, war ihm nicht anzumerken. Er sprach, wie ihm das zustand, kein Wort mehr, nachdem Lynley ihn über seine Rechte aufgeklärt hatte. Der Bereitschaftsanwalt wurde geholt, um ihn zu beraten, aber das Einzige, was Davies wissen wollte, war, wie er seinem Sohn eine Nachricht zukommen lassen könne.

»Ich muss meinen Sohn sprechen«, erklärte er dem Anwalt.

»Gideon Davies. Sie haben sicher von ihm gehört. Der Geiger…«

Sonst hüllte er sich in Schweigen. Er würde an der Geschichte, die er Lynley bei früherer Gelegenheit erzählt hatte, festhalten.

Er kannte seine Rechte, und die Polizei hatte keine Beweise gegen Gideon Davies' Vater in der Hand.

Aber sie hatten den Humber. Lynley fuhr mit dem zuständigen Team noch einmal zu den Cornwall Gardens zurück, um die Beschlagnahmung des Fahrzeugs zu beaufsichtigen. Wie von Winston Nkata vorhergesagt, hatte der Wagen, mit dem zwei, wahrscheinlich sogar drei Menschen niedergefahren worden waren, vor allem an der vorderen Stoßstange Schaden genommen. Das Prachtstück aus Chrom war ziemlich übel zugerichtet. Aber ein geschickter Verteidiger würde so einen Beweis mühelos zerpflücken, darum wollte Lynley gar nicht erst darauf aufbauen. Er baute auf etwas anderes, was derselbe geschickte Verteidiger nicht so leicht würde aus der Welt schaffen können - Spuren unter der Stoßstange und am Fahrgestell des Humber. Es war wohl kaum möglich, dass Richard Davies Kathleen Waddington und Malcolm Webberly angefahren und seine geschiedene Frau dreimal überrollt hatte, ohne dass Blut, Hautpartikel oder ein Haar, wie sie es dringend brauchten - ein Haar mit Kopfhautspuren daran -, am Fahrgestell zu finden waren. Davies hätte an die Möglichkeit solcher Spuren denken müssen, um sie entfernen zu können. Und Lynley war ziemlich sicher, dass er das versäumt hatte. Er wusste aus langer Erfahrung, dass kein Verbrecher an alles denkt.

Er rief Leach an, berichtete seine Neuigkeiten und bat ihn, sie an Assistant Commissioner Hillier weiterzugeben. Er würde in Cornwall Gardens bleiben, sagte er, bis der Humber abgeschleppt war, und danach Eugenie Davies' Computer holen, wie er das ursprünglich vorgehabt hatte. Ob Chief Inspector Leach den Computer überhaupt noch haben wolle?

Aber selbstverständlich, sagte Leach. Lynley habe zwar eine Festnahme durchgeführt, aber das ändere nichts daran, dass die Unterschlagung des Computers nicht ordnungsgemäß gewesen sei; das Gerät müsse als Eigentum des Opfers registriert werden.

»Haben Sie vielleicht sonst noch was verschwinden lassen, da Sie schon mal dabei waren?«, erkundigte er sich argwöhnisch.

Außer dem Computer, beteuerte Lynley, habe er nichts an sich genommen, was Eugenie Davies gehört hatte. Und er fand seine Antwort völlig in Ordnung. Denn für ihn stand fest, dass aus Leidenschaft geborene Worte, die ein Mann zu Papier bringt und einer Frau sendet - ja selbst die Worte, die er spricht -, nur eine Leihgabe an sie sind, solange sie Gültigkeit besitzen. Die Worte selbst bleiben immer Eigentum des Mannes.


»Er hat mich nicht gestoßen«, sagte Jill Foster im Krankenwagen zu Barbara Havers. »Sie dürfen nicht glauben, dass er mich gestoßen hat.« Ihre Stimme war leise, nur ein schwaches Murmeln, und ihr Unterleib war beschmutzt von der Pfütze aus Urin, Fruchtwasser und Blut, die sich unter ihr ausgebreitet hatte, während sie am Fuß der Treppe gelegen hatte. Mehr sprechen konnte sie nicht, weil die Schmerzen sie überwältigten, diesen Eindruck jedenfalls hatte Barbara, als Jill laut aufschrie. Und als sie den Sanitäter, der ständig die Vitalfunktionen der Frau überwachte, zum Fahrer sagen hörte: »Schalt die Sirene ein, Cliff«, war ihr das Auskunft genug über Jill Fosters Zustand.

»Was ist mit dem Kind?«, fragte sie den Sanitäter leise.

Er sah sie nur an, ohne etwas zu sagen, und richtete seinen Blick dann auf den Tropf, den er über der Frau angebracht hatte.

Trotz der Sirenen erschien Barbara die Fahrt zum nächsten Krankenhaus mit einer Notaufnahme ewig zu dauern. Aber wie sie empfangen wurden, als sie endlich ankamen, das war höchst zufriedenstellend. Im Laufschritt schoben die Sanitäter die Trage mit ihrer Patientin in die Station, wo diese von einem Schwarm von Ärzten und Pflegepersonal übernommen wurde, die lauthals Geräte verlangten, mit der Gynäkologie telefonierten, geheimnisvolle Medikamente anforderten und rätselhafte Verfahren mit Namen, die nichts über ihren Zweck aussagten, einleiteten.

»Wird sie es schaffen?«, fragte Barbara jeden, der bereit war, ihr zuzuhören. »Sie hat Wehen, oder? Ist sie okay? Und das Kind?«

»So sollten Kinder eigentlich nicht zur Welt kommen«, war die einzige Antwort, die sie bekam.

Sie blieb in der Notaufnahme, lief unruhig im Warteraum hin und her, bis Jill Foster in rasendem Tempo in einen Operationssaal gebracht wurde. »Sie hat schon genug Traumata erlebt«, war die Erklärung, die sie erhielt. Jede genauere Auskunft wurde ihr verweigert, weil sie keine Familienangehörige war. Barbara hätte nicht sagen können, warum es ihr so wichtig war, zu wissen, dass der Frau nichts Schlimmes geschehen würde. Sie schrieb es einer ungewöhnlichen schwesterlichen Sympathie zu, die sie für Jill Foster empfand. Es war ja noch gar nicht so lange her, dass Barbara selbst nach einer Begegnung mit einem Killer mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht worden war.

Sie glaubte Jill Foster nicht, dass Richard Davies sie nicht die Treppe hinuntergestoßen hatte. Aber die Frage würde später geklärt werden müssen, wenn eine Zeit der Erholung der Frau Gelegenheit ließ, die Wahrheit über ihren Verlobten zu erfahren.

Und sie würde wieder gesund werden, wie Barbara eine Stunde später erfuhr. Sie hatte eine Tochter geboren. Das Kind war wohlauf, trotz seines überstürzten Eintritts in die Welt.

Barbara fand, jetzt könne sie beruhigt gehen, und sie war schon auf dem Weg hinaus - ja, sie stand vor dem Krankenhaus und versuchte herauszufinden, ob von hier aus Busse in die Fulham Palace Road fuhren -, als sie bemerkte, dass dies das Charing Cross Hospital war, wo Superintendent Webberly noch immer lag. Sie ging wieder hinein.

Oben im elften Stockwerk wartete sie vor der Intensivstation auf eine Schwester, die Webberlys Zustand als »kritisch und unverändert« beschrieb. Barbara schloss daraus, dass er immer noch im Koma lag, immer noch künstlich beatmet wurde und dass immer noch zahlreiche gefährliche Komplikationen drohten, dass man nicht wusste, ob man für sein Leben oder seinen Tod beten sollte. Menschen, die von Autos angefahren wurden und dabei Gehirnverletzungen erlitten, gingen sehr häufig völlig verändert aus der Krise hervor. Barbara wusste nicht, ob sie ihrem Chef eine solche Veränderung wünschte. Sie wollte nicht, dass er starb. Allein der Gedanke daran war schrecklich. Aber sie konnte ihn sich auch nicht als Invaliden vorstellen, der sich Monate und Jahre mit Rehabilitationsversuchen quälte.

Sie sagte zu der Schwester: »Sind seine Angehörigen bei ihm? Ich gehöre zum Ermittlungsteam der Polizei. Ich habe Neuigkeiten für sie. Natürlich nur, wenn sie sie hören wollen.«

Die Schwester musterte Barbara mit zweifelnder Miene. Barbara holte seufzend ihren Dienstausweis heraus, und nachdem die Schwester sich diesen mit zusammengekniffenen Augen angesehen hatte, sagte sie: »Dann warten Sie mal hier«, und ging.

Barbara erwartete, dass Assistant Commissioner Hillier herauskommen würde, aber stattdessen erschien Webberlys Tochter Miranda. Sie sah erschöpft aus, aber sie lächelte und sagte: »Barbara! Hallo! Das ist wirklich nett von Ihnen. Sie sind doch um diese Zeit bestimmt nicht mehr im Dienst.«

»Wir haben einen Verdächtigen festgenommen«, berichtete Barbara. »Würden Sie das Ihrem Vater sagen? Ich meine, ich weiß, dass er nichts hören kann, aber trotzdem, Sie wissen schon .«

»Oh, er kann hören«, sagte Miranda.

Barbara begann zu hoffen. »Er ist bei Bewusstsein?«

»Nein. Nein, das nicht. Aber die Arzte sagen, dass Menschen im Koma hören können, was um sie herum vorgeht. Und er wird sicher hören wollen, dass Sie den Autofahrer festgenommen haben, der ihn angefahren hat.«

»Wie geht es ihm?«, fragte Barbara. »Ich habe mit der Schwester gesprochen, aber die hat mir nicht viel gesagt. Nur dass es keine Veränderung gebe.«

Miranda lächelte, aber dieses Lächeln sollte wohl Barbaras Beruhigung dienen. Sicherlich spiegelte es nicht Mirandas Gefühle.

»Das stimmt leider. Aber wenigstens hat er keinen weiteren Herzinfarkt gehabt, und das betrachten alle als gutes Zeichen. Sein Zustand ist soweit stabil, und wir - na ja, wir hoffen das Beste. Ja, wir sind eigentlich ganz optimistisch.«

In ihren Augen lag ein zu starker Glanz, zu viel Angst. Barbara hätte ihr gern gesagt, dass sie ihr nichts vorzumachen brauche, aber sie verstand, dass Miranda mit ihrem Optimismus vor allem sich selbst aufrichten wollte. »Gut, dann werde ich auch optimistisch sein«, sagte sie. »Wir werden es alle sein. Brauchen Sie irgendetwas, Miranda?«

»O nein, danke, ich glaube nicht. Ich bin natürlich Hals über Kopf von Cambridge hierher gefahren und habe eine Arbeit liegen lassen, die eigentlich durchgesehen werden müsste. Aber der Termin ist erst nächste Woche, und vielleicht ist ja bis dahin… Na ja, vielleicht.«

Schritte im Korridor erregten ihre Aufmerksamkeit. Sie drehten sich beide um und sahen Assistant Commissioner Hillier und seine Frau kommen. Zwischen ihnen ging, von beiden gestützt, Frances Webberly.

»Mama!«, rief Miranda.

»Randie«, sagte Frances. »Randie, Liebes…«

Miranda sagte noch einmal: »Mama! Ach, ich bin ja so froh. Ach, Mama!« Sie nahm ihre Mutter in die Arme und drückte sie lang und fest. Und dann, vielleicht weil sie sich plötzlich von einer Last befreit fühlte, die man ihr allein gar nicht hätte aufbürden dürfen, begann sie zu weinen. »Die Ärzte haben gesagt, wenn er noch einen Herzinfarkt bekommt, dann wird er vielleicht - dann muss er vielleicht wirklich…«

»Ist ja gut, mein Schatz«, sagte Frances Webberly und drückte ihre Wange in das Haar ihrer Tochter. »Komm, bring mich jetzt zu Daddy. Wir setzen uns zusammen zu ihm.«

Als Miranda und ihre Mutter durch die Tür zur Intensivstation verschwunden waren, sagte Assistant Commissioner Hillier zu seiner Frau: »Bleib bei ihnen, Laura. Bitte. Achte darauf…«, und nickte vielsagend.

Laura Hillier folgte den beiden Frauen.

Der Assistant Commissioner betrachtete Barbara nur eine Spur weniger missbilligend als gewöhnlich, und sie wurde sich ihrer Kleidung peinlich bewusst. Sie gab sich nun schon seit Monaten die größte Mühe, ihm nicht unter die Augen zu kommen, und wenn sich eine Begegnung nicht vermeiden ließ, achtete sie stets darauf, möglichst korrekt gekleidet zu sein. Aber jetzt… Sie hatte das Gefühl, ihre roten Baseballstiefel leuchteten wie eine Neonreklame, und die grüne Hose, die sie am Morgen angezogen hatte, schien kaum weniger unpassend.

Sie sagte: »Wir haben einen Verdächtigen festgenommen, Sir. Ich dachte mir, ich komme her und sage es .«

»Leach hat mich schon angerufen.« Hillier trat zu einer Tür auf der anderen Seite des Korridors und nickte ihr auffordernd zu. Sie folgte ihm in einen Warteraum, wo er zu einem Sofa ging und sich setzte. Erst jetzt bemerkte Barbara, wie müde er aussah, vermutlich war er seit der vergangenen Nacht fast ununterbrochen von der Familie in Anspruch genommen worden. Ihre misstrauische Abwehr ließ ein wenig nach. Vielleicht war Hillier doch nicht der Unmensch, für den sie ihn immer gehalten hatte.

Er sagte: »Gute Arbeit, Barbara. Von Ihnen beiden.«

Sie erwiderte vorsichtig: »Danke, Sir«, und wartete, wie es weitergehen würde.

Er sagte: »Setzen Sie sich.«

Sie sagte: »Sir«, und setzte sich, obwohl sie sich viel lieber nach Hause verzogen hätte, in ihren Sessel von zweifelhaftem Komfort. In einer besseren Welt, dachte sie, würde Hillier in diesem Augenblick höchster emotionaler Erschütterung erkennen, wie sehr er sich in ihr geirrt hatte. Er würde sie ansehen, ihre edleren Qualitäten wahrnehmen - zu denen modisches Bewusstsein entschieden nicht gehörte - und ihnen samt und sonders seine Anerkennung schenken. Er würde sie auf der Stelle wieder in ihren früheren Rang hinaufstufen und damit die Strafe löschen, die er am Ende des Sommers über sie verhängt hatte.

Aber dies war keine bessere Welt, und Hillier tat nichts dergleichen. Er sagte nur: »Es ist möglich, dass er es nicht schafft. Wir tun so, als stünde das außer Frage - besonders vor seiner Frau -, aber man muss der Möglichkeit natürlich ins Auge sehen.«

Barbara, die nicht wusste, was sie darauf sagen sollte, murmelte:

»Ach, verdammt«, weil sie sich so fühlte, zur Hilflosigkeit und, zusammen mit dem Rest der Menschheit, zu endlosem Warten verdammt.

»Ich kenne ihn seit einer Ewigkeit«, sagte Hillier. »Es gab Zeiten, da konnte ich ihn überhaupt nicht leiden, und verstanden habe ich ihn nie. Aber er war immer da, eine vertraute Gestalt, bei der ich mich irgendwie darauf verlassen konnte, dass er - nun, dass er einfach da sein würde. Und der Gedanke, dass er nun vielleicht geht, ist mir gar nicht recht.«

»Vielleicht bleibt er ja«, sagte Barbara. »Vielleicht wird er wieder gesund.«

Hillier warf ihr einen kurzen Blick zu. »Nach so etwas wird man nicht wieder gesund. Er wird vielleicht am Leben bleiben. Aber gesund werden? Nein. Er wird nie mehr der Alte sein. Er wird nicht gesund werden.« Er schlug ein Bein über das andere, und zum ersten Mal nahm Barbara von seiner Kleidung Notiz, die er, in der Nacht zuvor hastig angezogen, seither offensichtlich nicht gewechselt hatte. Ausnahmsweise sah sie ihn nicht als Vorgesetzten, sondern als Mensch: Tweed und Hahnentritt und ein Pulli mit einem Loch im Ärmel. Hillier sagte: »Leach hat mir erzählt, dass der Mann das alles nur getan hat, um falsche Spuren zu legen.«

»Ja, das jedenfalls glauben Inspector Lynley und ich.«

»So ein Irrsinn.« Und dann sah er sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Was anderes steckt nicht dahinter?«

»Wie meinen Sie das?«

»Es gibt keinen anderen Grund für den Anschlag auf Malcolm?«

Sie erwiderte ruhig seinen Blick und las die Frage darin, die Frage, ob das, was Assistant Commissioner Hillier über die Webberlys und ihre Ehe vermutete, glaubte oder glauben wollte, richtig war. Barbara hatte nicht die Absicht, dem Assistant Commissioner diesbezüglich irgendeine Information zu liefern. Sie antwortete:

»Nein, es gibt keinen anderen Grund. Es war einfach so, dass der Superintendent für Davies leicht ausfindig zu machen war.«

»Das ist Ihre Vermutung«, stellte Hillier fest. »Leach hat mir erzählt, dass Richard Davies nicht redet.«

»Ich denke, er wird schon noch reden«, meinte Barbara. »Er weiß doch besser als die meisten, wohin es hinführen kann, wenn man den Mund nicht aufmacht.«

»Ich habe Lynley zum stellvertretenden Superintendent ernannt, bis diese Geschichte geklärt ist«, sagte Hillier. »Das wissen Sie, nicht wahr?«

»Dee Harriman hat uns informiert.« Barbara holte Luft und hielt sie an, während sie all ihr Hoffen, Wünschen und Träumen auf das richtete, was dann nicht geschah.

Hillier sagte lediglich: »Winston Nkata macht seine Sache insgesamt gesehen recht gut.«

Was heißt hier, insgesamt gesehen?, fragte sie sich, sagte aber:

»Ja, Sir. Er ist wirklich gut.«

»Ich denke, er kann mit einer baldigen Beförderung rechnen.«

»Da wird er sich freuen, Sir.«

»Ja, das denke ich auch.« Hillier sah sie lange an, dann schaute er weg. Die Augen fielen ihm zu, und sein Kopf sank zurück an die Sofalehne.

Barbara saß stumm da und überlegte, was jetzt von ihr erwartet wurde. Schließlich sagte sie: »Sie sollten nach Hause fahren und sich ausruhen, Sir.«

»Das habe ich vor«, antwortete Hillier. »Das sollten wir alle tun, Constable.«


Es war halb elf Uhr abends, als Lynley seinen Wagen in der Lawrence Street abstellte und das Stück Weg zum Haus der St. James zu Fuß ging. Er hatte sich bei seinen Freunden nicht angemeldet und auf der Fahrt von der Earl's Court Road hierher beschlossen, sie nicht zu stören, sollte bei seiner Ankunft im Haus kein Licht mehr brennen. Er wusste, dass hinter dieser Entscheidung hauptsächlich Feigheit steckte. Es wurde höchste Zeit, sich den Sünden und Versäumnissen der Vergangenheit zu stellen und endlich reinen Tisch zu machen, und vor diesem Schritt scheute er zurück. Dabei spürte er, wie seine Vergangenheit wie ein schleichendes Gift in die Gegenwart eindrang, und wusste, dass er der Zukunft eine Radikalkur schuldete, die nur durchgeführt werden konnte, wenn er redete. Trotzdem hätte er das gern noch eine Weile hinausgeschoben. Und als er um die Ecke bog,

hoffte er auf dunkle Fenster als Vorwand für weiteres Zögern.

Aber er hatte Pech. Das Licht über der Haustür brannte hell, und aus den Fenstern von St. James' Arbeitszimmer fielen gelbe Lichtstreifen auf den schmiedeeisernen Zaun, der das Grundstück umschloss.

Er ging die Treppe hinauf und klingelte. Drinnen bellte als Antwort der Hund. Er bellte immer noch, als Deborah St. James die Tür öffnete.

Sie sagte: »Tommy! Du meine Güte, du bist ja völlig durchnässt. Hast du deinen Schirm vergessen? - Peach, hierher!« Sie hob den kläffenden kleinen Dackel hoch und klemmte ihn unter den Arm. »Simon ist nicht da«, sagte sie, »und Dad schaut sich einen Film über Schlafmäuse an - frag mich nicht, warum. Da nimmt Peach seine Pflichten als Wachhund etwas ernster als sonst. Komm jetzt, Peach, hör auf zu knurren.«

Lynley trat ins Haus und zog seinen nassen Mantel aus. Er hängte ihn an die Garderobe rechts neben der Tür und streckte dem Hund die Hand hin, um ihn schnuppern zu lassen. Peach hörte auf, zu bellen und zu knurren, und zeigte sich bereit, Lynleys Huldigung in Form von ein paar Streicheleinheiten entgegenzunehmen.

»Er ist wahnsinnig verwöhnt«, bemerkte Deborah.

»Er tut nur seine Pflicht. Du solltest nicht jedem gleich die Tür aufmachen, jedenfalls nicht nach Einbruch der Dunkelheit, Deb. Das ist unvorsichtig.«

»Ich gehe immer davon aus, dass Peach einen Einbrecher am Hosenbein packen wird, bevor er das erste Zimmer betreten kann. Große Beute würde bei uns sowieso keiner machen, obwohl ich gar nichts dagegen hätte, dieses scheußliche Ding mit den Pfauenfedern, das im Esszimmer auf der Anrichte steht, loszuwerden.« Sie lächelte. »Wie geht's dir, Tommy? Komm mit, ich bin da drinnen.«

Sie führte ihn ins Arbeitszimmer, wo sie, wie er sah, dabei war, die Fotos zu verpacken, die sie für ihre Ausstellung im Dezember ausgewählt hatte. Überall auf dem Boden verteilt standen gerahmte Fotografien, die noch mit Plastik geschützt werden mussten, und mitten unter ihnen eine Flasche Glasreiniger, eine Rolle Küchenkrepp, Packpapier, Klebeband und Schere. Im offenen Kamin brannte ein Gasfeuer, und Peach steuerte sofort den Korb an, der davor stand, und rollte sich darin zusammen.

»Du musst einen Hindernislauf machen, wenn du einen Schluck von Simons Whisky willst«, sagte Deborah.

»Wo ist Simon überhaupt?«, fragte Lynley, während er sich zwischen den Fotos hindurch zum Barwagen schlängelte.

»Bei einem Vortrag in der Royal Geographie Society; irgendjemandes Reise irgendwohin, und hinterher eine Autogramm stunde. Ich glaube, es geht um Eisbären. In dem Vortrag, meine ich.«

Lynley lächelte. Er trank einen kräftigen Schluck von dem Whisky, um sich Mut zu machen, und sagte, damit der Alkohol erst einmal wirken konnte: »Wir haben übrigens in dem Fall, an dem wir gegenwärtig arbeiten, jemanden festgenommen.«

»Das ist aber schnell gegangen. Weißt du, Tommy, du bist wirklich ideal für die Arbeit bei der Polizei. Wer hätte das gedacht, so wie du aufgewachsen bist.«

Sie erwähnte seine Herkunft selten. In eine privilegierte Familie hineingeboren, hatte Lynley Abstammung und Familiengeschichte sowie die Pflichten, die diese mit sich brachten, lange als drückende Last empfunden. Jetzt daran erinnert zu werden - Familie, nutzlose Titel, die jedes Jahr weiter an Sinn und Bedeutung verloren, hermelinbesetzte Samtumhänge und mehr als zweihundertfünfzig Jahre Familientradition, die jeden seiner Schritte bestimmte - brachte ihm wieder mit aller Schärfe zu Bewusstsein, was er ihr sagen wollte und warum. Und dennoch schob er es weiter hinaus, indem er ihr erwiderte: »Ja, na ja. In einem Mordfall ist schnelles Handeln entscheidend. Wenn die Spur erst einmal kalt geworden ist, sind die Chancen, einen Täter zu schnappen, weit geringer. Ich bin übrigens wegen des Computers gekommen, den ich bei Simon gelassen habe. Steht er noch oben im Labor? Ist es dir recht, wenn ich ihn mir hole, Deb?«

»Natürlich«, antwortete sie, aber der Blick, den sie ihm zuwarf, zeigte Verwunderung, entweder über seine Erklärungen - aufgrund der Arbeit ihres Mannes war ihr völlig klar, wie wichtig bei einer Morduntersuchung schnelles Handeln war - oder über den übertrieben forschen Ton, in dem er darüber sprach. Sie sagte:

»Geh ruhig rauf. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich hier unten weitermache?«

»Überhaupt nicht«, versicherte er und floh. Er ließ sich Zeit auf dem Weg nach oben, knipste, im obersten Stockwerk des Hauses angekommen, das Licht im Labor an und fand den Computer dort, wo St. James ihn bei seinem Besuch abgestellt hatte. Er zog den Stecker heraus, nahm das Gerät in beide Arme und trug es hinunter. Unten stellte er es neben die Haustür und überlegte ernsthaft, ob er nicht einfach mit einem munteren »Gute Nacht« das Weite suchen sollte. Es war spät, und das Gespräch, das er mit Deborah St. James führen musste, konnte warten.

Aber noch während er über weiteren Aufschub nachdachte, kam Deborah an die Tür des Arbeitszimmers und betrachtete ihn aufmerksam. »Irgendetwas stimmt doch nicht, Tommy«, sagte sie.

»Ist mit Helen alles okay?«

Da wusste er, dass er nicht länger ausweichen konnte, auch wenn er es noch so sehr wünschte. Er sagte: »Mit Helen ist alles in Ordnung.«

»Da bin ich froh«, meinte sie. »Die ersten Schwangerschaftsmonate können scheußlich sein.«

Er öffnete den Mund, um zu antworten, fand aber einen Moment lang keine Worte. Als er sich wieder gefasst hatte, sagte er:

»Du weißt es also.«

Sie lächelte. »Weshalb denn nicht? Nach -wie viele sind es mittlerweile? - sieben Schwangerschaften? Ich habe ein ziemlich gutes Gespür für die Symptome entwickelt. Ich selbst bin ja nie weit gekommen - mit den Schwangerschaften, meine ich… nun, das weißt du ja -, aber doch so weit, dass ich das Gefühl hatte, die Übelkeit würde nie aufhören.«

Lynley schluckte. Deborah kehrte ins Arbeitszimmer zurück. Er folgte ihr, fand sein Whiskyglas, wo er es stehen lassen hatte, und suchte im Whisky Zuflucht. Dann aber gab es kein Ausweichen mehr, und er sagte: »Wir wissen, wie sehr ihr euch ein Kind wünscht… und was ihr alles versucht habt… du und Simon…«

»Tommy«, sagte sie ruhig, »ich freue mich für euch. Ihr dürft nicht glauben, dass meine Situation - Simons und meine . nein, doch nur meine - mich daran hindern würde, mich mit euch zu freuen. Ich weiß, was das für euch beide bedeutet, und dass ich kein Kind bekommen kann - na ja, natürlich tut es weh. Aber ich will doch nicht der ganzen Welt meine Enttäuschung aufbürden. Und ganz bestimmt wünsche ich keinem das gleiche, nur damit ich Gesellschaft habe.«

Sie kniete inmitten ihrer Fotografien nieder, als wäre das Thema damit für sie erledigt. Aber Lynley konnte es nicht dabei belassen, denn das für ihn entscheidende Thema hatten sie noch nicht berührt. Er setzte sich ihr gegenüber in den Ledersessel, den St. James zu benutzen pflegte, wenn er im Raum war, und sagte: »Deb?«

Sie blickte auf.

»Da ist noch etwas.«

Ihre grünen Augen verdunkelten sich. »Was denn?«

»Santa Barbara.«

»Santa Barbara?«

»Der Sommer, als du achtzehn warst. Als du dort am Institut gelernt hast. Das Jahr, als ich viermal hinübergeflogen bin, um dich zu sehen: im Oktober, Januar, Mai und Juli. Ich denke besonders an den Juli, als wir die Küstenstraße nach Oregon gefahren sind.«

Sie sagte nichts, aber ihr Gesicht wurde einen Hauch blasser, und das verriet ihm, dass sie wusste, worauf er hinaus wollte. Selbst jetzt noch wünschte er, es würde etwas geschehen, das ihn am Weitersprechen hinderte, damit er nicht vor ihr eingestehen müsste, was er sich selbst kaum eingestehen konnte.

»Du sagtest damals, es läge an der langen Fahrt«, fuhr er fort.

»Du wärst so viel Autofahren nicht gewöhnt. Oder vielleicht sei es das Essen, meintest du. Oder der Klimaunterschied. Oder die Hitze, wenn es draußen heiß war, oder die Kälte, wenn es drinnen kalt war. Du wärst dieses Hin und Her zwischen Klimaanlage und natürlicher Temperatur nicht gewöhnt, und es sei ja absurd, wie abhängig die Amerikaner von ihren Klimaanlagen sind. Ich hörte mir jede deiner Entschuldigungen an und gab mich mit ihnen zufrieden. Aber die ganze Zeit…« Er wollte es nicht aussprechen und hätte alles darum gegeben, es vermeiden zu können. Aber im letzten Moment zwang er sich, zuzugeben, was er lange Zeit einfach verdrängt hatte. »Ich wusste es.«

Sie senkte den Blick. Er sah, wie sie nach der Schere und dem Packpapier griff. Sie zog eines ihrer Fotos zu sich heran, aber sie arbeitete nicht weiter.

»Nach dieser Reise habe ich darauf gewartet, dass du es mir sagen würdest«, sprach er weiter. »Ich dachte, sobald du es mir sagtest, würden wir gemeinsam entscheiden, was wir wollten. Wir lieben uns, wir werden heiraten, sagte ich mir. Sobald Deb zugibt, dass sie schwanger ist.«

»Tommy .«

»Lass mich fortfahren. Das brodelt schon seit Jahren in mir, jetzt will ich es endlich loswerden.«

»Tornmy, du darfst nicht -«

»Ich habe es von Anfang an gewusst. Schon seit der Nacht, als es passierte, glaube ich. Damals in Montecito.«

Sie schwieg.

»Deborah, bitte sag es mir.«

»Es ist nicht mehr wichtig.«

»Für mich schon.«

»Nicht nach so langer Zeit.«

»Doch, nach so langer Zeit. Weil ich nichts getan habe. Verstehst du? Ich wusste es und habe nichts getan. Ich habe dich damit allein gelassen. Du warst die Frau, die ich liebte, die Frau, die ich haben wollte, und ich ignorierte einfach, was geschah, weil .«

Er merkte, dass sie ihn immer noch nicht ansah und den Kopf so hielt, dass ihre nach vorn fallenden Haare ihr Gesicht verbargen. Aber er hörte nicht auf zu sprechen, denn er verstand endlich, was ihn damals motiviert hatte und was die Ursache für sein schlechtes Gewissen war. »Weil ich selbst überhaupt nicht damit zurecht kam«, sagte er. »Weil ich es so nicht geplant hatte, und wehe all dem, was meinem genau festgelegten Lebensplan in die Quere kam! Solange du nichts sagtest, konnte ich die Dinge einfach laufen lassen, konnte mich treiben lassen, ohne irgendwelche Unbequemlichkeiten auf mich nehmen zu müssen. Und als du nichts sagtest, redete ich mir ein, ich hätte mich geirrt. Dabei wusste ich genau, dass es nicht so war. Ich sagte also nichts. Den ganzen Juli, den ganzen August und September. Und das, was auf dich zukam, als du den Entschluss fasstest, zu handeln, ließ ich dich ganz allein tragen.«

»Es war meine Verantwortung.«

»Unsere! Es war unser Kind. Es war unsere Verantwortung. Aber ich habe dich allein gelassen. Und das tut mir Leid.«

»Dazu besteht kein Anlass.«

»Doch. Denn als du Simon geheiratet hast, als du eine Fehlgeburt nach der anderen erlitten hast, musste ich immer denken, wenn du dieses Kind bekommen hättest, unser Kind, dann wäre vielleicht -«

»Tommy! Nein!« Sie hob ruckartig den Kopf.

»- das alles nicht geschehen.«

»So war es nicht«, entgegnete sie. »Glaube mir. So war es nicht. Du brauchst dich wegen damals nicht selbst zu bestrafen. Du hast mir gegenüber keine Verpflichtung.«

»Heute vielleicht nicht mehr. Damals schon.«

»Nein. Und es hätte sowieso nichts geändert. Du hättest darüber sprechen können, ja. Du hättest anrufen können. Du hättest gleich mit der nächsten Maschine zurückkommen und mir sagen können, was du vermutetest. Aber das alles hätte nichts geändert. Kann sein, dass wir in aller Eile geheiratet hätten oder so was. Vielleicht wärst du sogar bei mir in Santa Barbara geblieben, damit ich die Ausbildung am Institut hätte abschließen können. Aber ein Kind hätte es nicht gegeben und wird es nie geben, wie sich erwiesen hat.«

»Wie meinst du das?«

Sie hockte sich auf die Fersen, legte Schere und Klebeband aus der Hand. »Genau so, wie ich es sage«, antwortete sie. »Ganz gleich, was ich getan hätte, ein Kind hätte es nie gegeben. Ich wartete damals nur nicht lange genug, um das herauszufinden.« Sie zwinkerte hastig gegen die Tränen an und wandte sich ab, um mit starrem Blick das Bücherregal zu fixieren. Nach einem Moment sah sie ihn wieder an. »Ich hätte auch unser Kind verloren, Tommy. Man nennt es symetrische Translokation.«

»Was ist das?«

»Mein - wie soll ich es nennen? Problem? Defekt? Leiden?« Sie lächelte mit bebenden Lippen.

»Deborah, was sagst du mir da?«

»Dass ich keine Kinder bekommen kann. Niemals. Unvorstellbar, dass ein einzelnes kleines Chromosom solche Macht besitzen kann, aber so ist es.« Sie drückte sich einen Finger auf die Brust und sagte: »Phänotyp: normal in jeder Hinsicht. Genotyp… na ja, es besteht eine >exzessive Abortus-Neigung< - so wurde mir das gesagt -, klingt das nicht obszön? So was muss natürlich einen medizinischen Grund haben. Bei mir ist es ein genetischer Fehler: Das einundzwanzigste Chromosom ist verkehrt gebaut.«

»Mein Gott«, sagte er. »Deb, ich -«

»Simon weiß es noch nicht«, unterbrach sie ihn hastig. »Und im Moment ist es mir auch lieber so. Ich hatte ihm eigentlich versprochen, dass ich jetzt erst einmal ein Jahr warte, ehe ich mich neuen Untersuchungen unterziehe, und ich möchte ihn gern in dem Glauben lassen, dass ich mich an das Versprechen gehalten habe. Aber im letzten Juni… dieser Fall, in dem du ermittelt hast, als das kleine Mädchen ums Leben kam… Danach musste ich einfach Gewissheit haben, Tommy. Ich weiß nicht, warum - ich war einfach so erschüttert von ihrem Tod. Von der Sinnlosigkeit. Dieses Elend, diese Vergeudung von Leben… dass dieses unschuldige kleine Leben einfach so ausgelöscht worden war… Da bin ich noch einmal zum Arzt gegangen. Aber Simon weiß nichts davon.«

»Deborah«, sagte Lynley leise. »Es tut mir unendlich Leid.«

Ihre Augen wurden feucht. Energisch drängte sie die Tränen zurück und schüttelte ebenso energisch den Kopf, als er sie berühren wollte. »Nein. Es ist in Ordnung. Es geht mir gut. Ich meine, mir fehlt nichts. Die meiste Zeit denke ich nicht daran. Und wir versuchen ja, ein Kind zu adoptieren. Wir haben Unmengen von Formularen ausgefüllt… dieser ganze Papierkrieg… so dass wir auf jeden Fall ein Kind… früher oder später. Und wir versuchen es auch im Ausland. Ich wünschte um Simons willen, es könnte anders sein. Es ist selbstsüchtig, und ich weiß, es ist narzisstisch, aber ich habe mir so gewünscht, wir könnten zusammen ein Kind erschaffen. Ich glaube, er hat sich das auch gewünscht, aber er ist zu rücksichtsvoll, um das direkt zu sagen.« Und dann lächelte sie trotz einer Träne, die sie nicht zurückhalten konnte.

»Du darfst nicht glauben, es ginge mir nicht gut, Tommy. Es geht mir gut. Ich habe gelernt, dass alles stets so kommt, wie es kommen muss, ohne Rücksicht darauf, was wir uns wünschen. Darum ist es das Beste, wenn wir im Wünschen bescheiden sind und unserem guten Stern, dem Glück oder den Göttern danken, dass wir haben, was wir haben.«

»Aber das spricht mich nicht frei von meinem Anteil an dem, was geschah«, sagte er. »Damals. In Santa Barbara. Ich meine, dass ich ohne ein Wort abgereist bin. Von dieser Schuld spricht mich das nicht frei, Deb.«

»Nein, das nicht«, stimmte sie zu. »Aber ich, Tommy, glaub mir.«


Helen hatte auf ihn gewartet. Sie war schon im Bett, mit einem aufgeschlagenen Buch auf dem Schoß. Aber sie war beim Lesen eingeschlafen, und ihr Kopf ruhte auf den Kissen, die sie hinter sich aufgestapelt hatte, dunkles Haar auf weißem Grund.

Leise trat Lynley ans Bett und blickte auf sie hinunter. Sie war Licht und Schatten, unglaublich stark und rührend verletzlich. Er setzte sich auf die Bettkante.

Sie schreckte nicht hoch, wie manche das vielleicht getan hätten, wenn sie plötzlich durch die Nähe einer anderen Person aus dem Schlaf gerissen werden. Sie öffnete die Augen und war sofort wach, den Blick mit einer Art intuitiven Verstehens auf ihn gerichtet. »Frances ist endlich zu ihm gefahren«, sagte sie, als hätten sie sich die ganze Zeit unterhalten. »Laura Hillier hat mich angerufen, um es mir zu sagen.«

»Wie gut, da bin ich froh«, erwiderte er. »Das war notwendig für sie. Wie geht es ihm?«

»Unverändert. Aber sein Zustand ist stabil.«

Lynley seufzte und nickte. »Nun, es ist jedenfalls vorbei. Wir haben den Mann festgenommen.«

»Ich weiß. Barbara hat mich angerufen. Ich soll dir ausrichten, dass an ihrem Ende der Welt alles in Ordnung ist. Sie hätte dich auf dem Handy angerufen, aber sie wollte sich erkundigen, wie es mir geht.«

»Das war nett von ihr.«

»Sie ist überhaupt eine nette Person. Sie hat mir übrigens auch erzählt, dass Hillier vorhat, Winston zu befördern. Wusstest du davon, Tommy?«

»Ist das wahr?«

»Sie sagt, offensichtlich wollte Hillier es ihr unter die Nase reiben. Aber immerhin hat er sie vorher gelobt wegen ihrer Arbeit in diesem Fall. Er hat euch beide gelobt.«

»Tja, das ist typisch Hillier. Er schafft's nicht, einem etwas Nettes zu sagen, ohne einem gleichzeitig den Teppich unter den Füßen wegzuziehen, damit man nur ja nicht übermütig wird.«

»Sie hätte gern ihren früheren Rang wieder. Das weißt du ja.«

»Ja, und ich besäße gern die Macht, ihn ihr zurückzugeben.«

Er ergriff das Buch, in dem sie gelesen hatte, drehte es herum und sah sich den Titel an. Eine Lektion vor dem Tod, wie passend.

Sie sagte: »Ich habe es bei den Romanen in der Bibliothek entdeckt. Weit bin ich allerdings noch nicht gekommen. Ich bin eingeschlafen. Wieso bin ich ständig so müde? Wenn das neun Monate lang so weitergeht, werde ich am Ende der Schwangerschaft zwanzig Stunden am Tag schlafen. Und den Rest der Zeit werde ich über der Toilette hängen und spucken. Ich hatte mir das alles viel romantischer vorgestellt.«

»Ich habe es übrigens Deborah gesagt.« Er erklärte, warum er überhaupt nach Chelsea gefahren war, und fügte hinzu: »Aber sie wusste es schon, wie sich zeigte.«

Helen blickte ihm forschend ins Gesicht, vielleicht weil sie in seiner Stimme einen Unterton hörte, der der Situation nicht angemessen war. Ja, da war tatsächlich etwas. Er hörte es selbst. Aber mit Helen hatte es nichts zu tun und noch weniger mit der Zukunft, die Lynley mit ihr teilen wollte.

Sie sagte: »Und du, Tommy? Freust du dich denn? Ich weiß, ich weiß, du hast gesagt, dass du dich freust, aber du kannst ja wohl kaum etwas anderes sagen. Als Ehemann, Gentleman und Beteiligter kannst du schlecht in hellem Entsetzen aus dem Zimmer stürzen. Aber ich habe seit einiger Zeit das Gefühl, dass zwischen uns beiden etwas nicht stimmt. Ich hatte dieses Gefühl nicht, bevor ich schwanger war, darum hat sich bei mir der Verdacht eingeschlichen, dass du vielleicht doch nicht so bereit bist für ein Kind, wie du geglaubt hast.«

»Nein, so ist es nicht«, sagte er. »Es ist alles gut, Helen. Und ich freue mich wirklich. Mehr als ich sagen kann.«

»Eine längere Anpassungszeit hätte uns vielleicht trotzdem ganz gut getan«, meinte sie.

Lynley musste daran denken, was Deborah über das Glück gesagt hatte, das dem entspringt, was einem gegeben wird. »Wir haben den Rest unseres Lebens, um uns aufeinander einzustellen«, sagte er zu seiner Frau. »Wenn wir den Moment nicht genießen, ist er für immer vorbei.«

Er legte den Roman auf ihren Nachttisch, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Stirn. »Ich liebe dich, Darling«, sagte er, und sie zog ihn zu sich herunter und küsste ihn. Sie murmelte: »Weil wir gerade vom Genuss des Moments gesprochen haben…«, und dann erwiderte sie seinen KUSS auf eine Weise, die sie einander so nahe brachte, wie sie es seit dem Tag, an dem sie ihm gesagt hatte, dass sie schwanger war, nicht mehr gewesen waren.

Er spürte, wie sein Körper und seine Gefühle zu einer Mischung aus Lust und Liebe erwachten, die ihn stets schwach und gleichzeitig entschlossen machte, entschlossen, diese Gefühle zu beherrschen und sich zugleich völlig ihrer Macht zu unterwerfen.

Er küsste ihren Hals und ihre Schultern und fühlte ihr leichtes Beben, als er die Träger ihres Nachthemds behutsam über ihre Arme streifte. Als er seine Hände auf ihre Brüste legte und sich zu ihnen hinunterneigte, begann sie, seine Krawatte zu lösen und die Knöpfe seines Hemds zu öffnen.

Er sah abrupt hoch, alle Leidenschaft von Besorgnis gedämpft.

»Was ist mit dem Kind?«, fragte er. »Kann ihm auch nichts geschehen?«

Sie zog ihn lächelnd in ihre Arme. »Das Kind, mein Liebster, wird es überleben.«

Загрузка...