Die Erinnerung an eine Berührung trieb Ted Wiley in die Nacht hinaus. Er hatte sie von seinem Fenster aus beobachtet, obwohl er eigentlich gar nicht hatte spionieren wollen. Die Zeit: kurz nach ein Uhr nachts. Der Ort: die Friday Street in Henley-on-Thames, sechzig Meter vom Fluss entfernt, direkt vor ihrem Haus, aus dem die beiden erst Augenblicke zuvor auf die Straße hinausgetreten waren, die Köpfe eingezogen, um sich nicht an dem Türsturz zu stoßen, der aus einer Zeit stammte, als Männer und Frauen kleiner und ihre Rollen klarer definiert waren.
Ted Wiley hatte nichts gegen eine klare Rollenverteilung alten Stils. Aber sie hatte etwas dagegen. Und wenn er bisher nicht begriffen hatte, dass Eugenie sich nicht einfach und bequem als »seine« Frau würde einordnen lassen, so hatte er das spätestens in dem Moment erkennen müssen, als er die beiden - Eugenie und den groß gewachsenen, hageren Fremden - draußen auf dem Bürgersteig in inniger Umarmung sah.
Deutlicher geht's nicht, hatte er gedacht. Sie will, dass ich das sehe. Sie will, dass ich sehe, wie sie ihn umarmt und dann ihre Hand an seine Wange legt, als sie sich von ihm löst. Zum Teufel mit dieser Frau! Sie will, dass ich sie sehe.
Natürlich war das nur seine Interpretation. Hätten sich Umarmung und Berührung zu einer unverfänglicheren Zeit zugetragen, so hätte sich Ted die bedrohlichen Gedanken, die in seinem Kopf Gestalt anzunehmen begannen, sofort ausgeredet. Es kann überhaupt nichts zu bedeuten haben, da sie es auf offener Straße tut, hätte er sich gesagt; am helllichten Tag, in der Öffentlichkeit, im Herbstsonnenschein vor sämtlichen Nachbarn und vor mir… Nein, diese Berührung kann nichts zu bedeuten haben, da sie doch weiß, wie leicht ich sie dabei beobachten kann… Aber stattdessen dachte Ted an alles, was es bedeuten kann, wenn ein Mann nachts um ein Uhr das Haus einer Frau verlässt, und diese Gedanken breiteten sich aus wie ein giftiges Gas, das in den folgenden sieben Tagen immer mehr Raum gewann, während er - voll ängstlicher Nervosität jede ihrer Gesten und Bemerkungen interpretierend - auf ein Wort wartete. Etwa: »Ach Ted, habe ich dir übrigens erzählt, dass mein Bruder« - oder mein Vetter, mein Vater, mein Onkel, der homosexuelle Architekt, der den Anbau am Haus machen will - »mich neulich abends besucht hat? Er ist bis nach Mitternacht geblieben, ich dachte schon, er würde überhaupt nicht mehr gehen. Vielleicht hast du uns draußen vor meinem Haus gesehen, wenn du hinter deiner Jalousie gelauert hast, wie du das ja in letzter Zeit zu tun pflegst.« Nur wusste Ted nichts von einem Bruder, Vetter, Onkel oder Vater, und wenn es einen homosexuellen Architekten gab, so hatte Eugenie ihn bisher mit keinem Wort erwähnt.
Sie hatte allerdings erklärt, sie habe ihm etwas Wichtiges zu sagen. Als er gefragt hatte, worum es gehe, und sich dabei gedacht hatte, es wäre ihm lieber, sie würde es ihm rundheraus sagen, falls es der tödliche Schlag sein sollte, hatte sie erwidert: Bald, so ganz bin ich noch nicht bereit, meine Sünden zu beichten. Dabei hatte sie ihm leicht die Hand an die Wange gelegt. Ja. Ja, genau. Die gleiche Berührung!
Und darum legte Ted Wiley nun an einem regnerischen Abend Mitte November gegen neun Uhr seinem Hund, einer alten Golden-Retriever-Hündin, die Leine an, um ihn auszuführen. Sie würden, erklärte er der Hündin, die, von Arthritis und einer Aversion gegen Regen geplagt, nicht gerade ein Ausbund an Temperament war, bis zum Ende der Friday Street und danach noch die paar Meter bis zur Albert Road marschieren, wo sie vielleicht ganz zufällig Eugenie treffen würden, die jetzt noch im Sixty Plus Club saß und mit den anderen Mitgliedern des Festausschusses um den Speiseplan für das große Silvestermenü rang. Vielleicht würde sie genau in dem Moment aus dem Haus des Altenklubs treten, wenn sie - Herr und Hund - dort vorbeikamen… Ja, wirklich, es wäre ein rein zufälliges Zusammentreffen und eine günstige Gelegenheit für einen Schwatz. Denn jeder Hund brauchte schließlich seinen Abendspaziergang. Von Planung konnte da keine Rede sein.
Die Hündin - von Teds verstorbener Frau auf den bei aller Liebe ziemlich albernen Namen Precious Baby getauft und von Ted kurz PB genannt - verharrte unschlüssig an der Tür und starrte zur Straße hinaus, wo es eintönig rauschend regnete. Dann setzte sie sich hin und wäre zweifellos sitzen geblieben, hätte nicht Ted, grimmig entschlossen, seine Pläne nicht durchkreuzen zu lassen, sie auf die Straße hinausgezerrt.
»Los, komm jetzt, PB«, herrschte er das Tier an und riss an der Leine, dass sich das Würgehalsband um den Hundehals zusammenzog. PB sah ein, dass Widerstand sinnlos war. Mit einem tiefen Seufzer trottete sie verdrossen in den Regen hinaus.
Das Wetter war ein Elend, aber das ließ sich nicht ändern. PB brauchte Auslauf. Sie war in den vergangenen fünf Jahren seit dem Tod ihrer Herrin faul geworden, und Ted hatte nicht viel getan, um sie auf Trab zu halten. Aber das würde sich jetzt ändern. Er hatte Connie versprochen, sich um den Hund zu kümmern, und das wollte er auch tun, von heute Abend an mit neuer Konsequenz. »Schluss mit den kleinen Schnupperrunden im Garten«, teilte er PB mit. »Ab heute wird jeden Abend stramm gelaufen.«
Er vergewisserte sich noch einmal, dass die Tür der Buchhandlung sicher abgeschlossen war, und klappte den Kragen seiner alten Wachsjacke hoch. Ich hätte einen Schirm mitnehmen sollen, dachte er, als er aus dem Schutz der Türnische trat und die ersten Regentropfen klatschend seinen Nacken trafen. Eine Schirmmütze reichte als Schutz nicht aus, auch wenn sie ihn noch so gut kleidete. Aber was machte er sich überhaupt Gedanken darüber, was ihn kleidete? Hölle und Teufel, wenn einer ihm in den Kopf sehen könnte, würde er nichts als Spinnweben und Hirngespinste darin finden.
Er räusperte sich einmal kräftig, spie den Schleim auf die Straße, und während er mit dem Hund an der Royal Marine Reserve vorbeistapfte, wo aus einem großen Loch in der Dachrinne das Regenwasser in Kaskaden herabstürzte, begann er, sich Mut zuzusprechen. Ich bin eine gute Partie, sagte er sich. Ted Wiley, Major a.D. und Witwer nach zweiundvierzig Jahren glücklicher Ehe, wäre für jede Frau ein ausgesprochen guter Fang. Ungebundene Männer waren in Henley-on-Thames so rar wie ungeschliffene Diamanten. Ungebundene Männer, die sich weder hässlicher Nasen- und Ohrenhaare noch wild wuchernder Augenbrauen zu schämen brauchten, waren noch seltener. Und Männer, die auf Sauberkeit und Ordnung hielten, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und bei bester Gesundheit waren, die in der Küche nicht gerade zwei linke Hände hatten und die eheliche Treue hochhielten, waren in dieser Stadt eine solche Rarität, dass sich die Frauen wie Vampire auf sie stürzten, sobald sie sich auf irgendeiner gesellschaftlichen Veranstaltung sehen ließen. Und er gehörte zu diesen Männern. Das wussten alle.
Einschließlich Eugenie!
Mehr als einmal hatte sie zu ihm gesagt, Ted, du bist ein großartiger Mann! Sie hatte seine Gesellschaft in den vergangenen drei Jahren gern und mit Vergnügen genossen, das wusste er. Und er erinnerte sich, wie sie errötend gelächelt und dann hastig weggesehen hatte, als seine Mutter, die sie gemeinsam im Pflegeheim besucht hatten, in der für sie typischen, irritierenden und gebieterischen Art gesagt hatte: Ich möchte vor meinem Tod noch eine Hochzeit erleben, ihr beiden!
Das alles bedeutete doch ungleich mehr als diese eine flüchtige Berührung, mit der sie eines Nachts ihre Hand an die Wange eines Fremden gelegt hatte. Warum haftete dieser Moment wie eingebrannt in seinem Gedächtnis, obwohl er nichts weiter war als eine unerfreuliche Erinnerung, die er nicht einmal ertragen müsste, wenn er es sich nicht angewöhnt hätte, ständig zu beobachten und zu spekulieren, zu lauern und auf der Hut zu sein, die Schotten dicht zu machen, als wäre sein Leben ein schlingerndes Schiff, das Gefahr lief, seine Fracht zu verlieren, wenn er nicht jeden Moment Acht gab?
Eugenie war schuld daran. Eugenie, deren zerbrechlich dünner Körper danach verlangte, in den Arm genommen und gehalten zu werden; deren ordentlich frisiertes, grau gesprenkeltes Haar danach verlangte, von Nadeln und Spangen befreit zu werden; deren blaugrüne Augen nie ohne Vorsicht waren; deren unauffällige und dennoch aufregende Weiblichkeit bei Ted Gefühle und Empfindungen weckte, die er seit Connies Tod nicht mehr gekannt hatte. Ja. Eugenie war schuld daran.
Und er war der Mann für Eugenie, der Mann, der sie beschützen und ihr das Leben wieder schenken konnte. Sie hatte sich, wer weiß wie lange schon, den ganz gewöhnlichen Umgang mit anderen Menschen so radikal verwehrt, dass es ihm, obwohl sie es nie angesprochen hatte, sofort aufgefallen war, als er sie das erste Mal zu einem Glas Sherry im Catherine Wheel eingeladen hatte.
Ach Gott, hatte er angesichts ihrer Verwirrung bei seiner Einladung gedacht, sie ist wohl schon seit Jahren nicht mehr mit einem Mann ausgegangen. Und er hatte sich gefragt, warum das so war.
Möglich, dass er jetzt die Antwort erhielt. Sie hatte Geheimnisse vor ihm. Ich muss dir etwas Wichtiges sagen, Ted, Sünden habe sie zu beichten, hatte sie erklärt.
Nun, dann sollte sie ihm jetzt sagen, was sie zu sagen hatte.
Am Ende der Friday Street hielt Ted mit der vor Kälte zitternden PB an seiner Seite vor der Ampel an, um auf Grün zu warten. Tag und Nacht donnerte der Verkehr durch die Duke Street, die Hauptdurchgangsstraße nach Reading und Marlow. Selbst an einem regnerischen Abend wie diesem ließ er kaum nach, was kein Wunder war, da sich die Leute in deprimierender Weise ja immer stärker auf das Auto verließen und in immer größerer Zahl ein Pendlerleben nach dem Motto »arbeiten in der Stadt und wohnen auf dem Land« führten. Sogar um neun Uhr abends brausten Personenautos und Lastwagen in beinahe unverminderter Zahl über die nasse Straße und erleuchteten mit ihren Scheinwerfern, deren Licht sich in Fensterglas und Pfützen spiegelte, die Nacht.
Zu viele Menschen, die ständig kreuz und quer unterwegs sind, dachte Ted trübsinnig. Zu viele Menschen, die keine Ahnung haben, warum sie wie gejagt durch das Leben hetzen.
Die Ampel schaltete um. Ted überquerte die Fahrbahn und legte das kurze Stück in die Greys Road im Laufschritt zurück. Die alte Hündin japste jämmerlich, obwohl sie höchstens fünfhundert Meter gegangen war, und Ted trat in die Türnische von Mirabelles Antiques, dem kleinen Antiquitätengeschäft, um dem armen Tier eine Verschnaufpause zu gönnen. »Gleich sind wir da«, sagte er tröstend. »Das kurze Stück bis zur Albert Road schaffst du schon noch.«
Dort war, mit einem großen Parkplatz vor dem Haus, der Sixty Plus Club, eine Organisation, die sich der sozialen Bedürfnisse der wachsenden Gemeinde von Rentnern und Pensionären in Henley annahm. Dort war Eugenie in der Organisationsleitung tätig. Und dort hatte Ted sie kennen gelernt, nachdem er von Maidstone, wo die Erinnerungen an das lange Sterben seiner Frau ihm unerträglich geworden waren, nach Henley umgezogen war.
»Major Wiley, das ist ja nett! Sie wohnen in der Friday Street«, hatte Eugenie zu ihm gesagt, als sie sein Mitgliedschaftsformular durchgesehen hatte. »Da sind wir Nachbarn. Ich wohne in Nummer 65. Das rosarote Haus, kennen Sie es?Doll Cottage. Ich lebe seit Jahren dort. Und Sie?«
»Mir gehört die Buchhandlung«, hatte er geantwortet. »Gleich gegenüber. Die Wohnung ist darüber. Aber ich hatte keine Ahnung… Ich meine, ich habe Sie nie gesehen.«
»Ach, ich gehe immer in aller Frühe aus dem Haus und komme meist erst spät zurück. Ich kenne Ihre Buchhandlung. Ich habe oft dort eingekauft. Jedenfalls, als Ihre Mutter sie noch führte. Vor dem Schlaganfall, meine ich. Und es geht ihr zum Glück immer noch gut. Sie ist deutlich auf dem Weg der Besserung, nicht wahr?«
Erst glaubte er, Eugenie wolle sich erkundigen; als ihm klar wurde, dass das nicht der Fall war, dass sie vielmehr nur bekräftigte, was sie bereits wusste, fiel ihm auch ein, wo er sie früher schon gesehen hatte: im Quiet Pines- Pflegeheim, wo er dreimal wöchentlich seine Mutter besuchte. Eugenie half dort morgens ehrenamtlich aus und wurde von den Patienten nur »unser Engel« genannt. So jedenfalls hatte Teds Mutter es ihrem Sohn einmal erzählt, als sie beide zufällig beobachteten, wie Eugenie mit einer Erwachsenenwindel über dem Arm ein Zimmer betreten hatte.
»Sie hat keinen Angehörigen hier, Ted, und das Heim zahlt ihr keinen Penny.«
Warum sie diese Arbeit dann übernommen habe, hatte Ted damals wissen wollen.
Geheimnisse, dachte er jetzt. Stille Wasser und Geheimnisse.
Er sah zu PB hinunter, die sich gegen sein Bein hatte sinken lassen und hier, vom Regen geschützt, ein Nickerchen hielt.
»Komm, gehen wir«, sagte er. »Es ist nicht mehr weit.« Er blickte zwischen den kahlen Ästen der Bäume hindurch zur anderen Straßenseite und sah, dass auch nicht mehr viel Zeit war.
Eben traten die Mitglieder des Festausschusses aus dem Haus, in dem derSixty Plus Club seine Räume hatte. Mit aufgespannten Schirmen über Pfützen springend, riefen sie einander Gutenachtwünsche zu, und dem vergnügten Klang ihrer Stimmen war zu entnehmen, dass sie endlich eine Einigung über die Zusammenstellung des Silvestermenüs erzielt hatten. Eugenie würde erfreut sein. Und erfreut würde sie gewiss aufgeschlossener Stimmung und bereit sein, mit ihm zu sprechen.
Die widerspenstige Hündin im Schlepptau, eilte Ted über die Straße, um Eugenie nicht zu verpassen. Er erreichte das niedrige Mäuerchen zwischen Bürgersteig und Parkplatz, als die letzten Ausschussmitglieder davonfuhren. Im Sixty Plus Club gingen die Lichter aus, die Haustür unter dem Vordach versank im Schatten. Einen Augenblick später trat, mit einem schwarzen Schirm ausgerüstet, Eugenie in das dunstige Halbdunkel zwischen Haus und Parkplatz. Ted hob den Arm, um ihr zu winken, öffnete den Mund, um ihr zu rufen und anzubieten, sie nach Hause zu begleiten. An einem solchen Abend sollte eine hübsche Frau nicht allein unterwegs sein. Gestattest du, dass ein heißer Verehrer dich nach Hause bringt? Leider mit Hund. PB und ich machen gerade unseren Abendspaziergang.
All dies hätte er sagen können und wollte in der Tat schon zum Sprechen ansetzen, als er plötzlich eine Männerstimme Eugenies Namen rufen hörte. Eugenie wandte sich ruckartig nach links, und Teds Blick flog an ihr vorbei zu einer schattenhaften Gestalt, die soeben einer dunklen Limousine entstieg. Es war nicht viel zu erkennen, da keine der auf dem Parkplatz verteilten Straßenlampen die Gestalt direkt beleuchtete, aber an der Kopfform und der gebogenen Nase, die wie ein Möwenschnabel hervorsprang, sah Ted, dass Eugenies nächtlicher Besucher von neulich wieder da war.
Der Fremde ging ihr entgegen. Sie blieb, wo sie war. In der veränderten Beleuchtung konnte Ted etwas mehr erkennen: ein älterer Mann - vielleicht in seinem eigenen Alter - mit vollem weißen Haar, das er glatt aus der Stirn gestrichen und so lang trug, dass es an den hochgeschlagenen Kragen seines Burberry stieß.
Sie begannen miteinander zu sprechen. Er nahm ihr den Schirm ab und hielt ihn über beide, während er drängend auf sie einredete. Er war gut zwanzig Zentimeter größer als Eugenie und stand daher leicht gebeugt, während sie mit erhobenem Kopf zu ihm hinaufsah. Ted versuchte zu hören, worum es bei dem Gespräch ging, aber er fing nur einige Wortfetzen auf: »Du musst…« und »… auf die Knie fallen, Eugenie?« und schließlich, laut und heftig: »Warum willst du nicht einsehen -« An dieser Stelle unterbrach Eugenie den Fremden mit einem Schwall gedämpft gesprochener Worte und legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Das sagst du mir?«, war das Letzte, was Ted hörte, bevor der Mann Eugenies Hand abschüttelte, ihr zornig den Schirm zurückgab und zu seinem Wagen lief. Ted sandte einen Stoßseufzer der Erleichterung zum Abendhimmel.
Seine Freude jedoch war von kurzer Dauer. Eugenie lief dem Fremden nach und holte ihn ein, als er die Tür zu seinem Wagen aufriss. Durch die Tür von ihm getrennt, begann sie von neuem zu sprechen. Doch der Mann wandte sich ab. »Nein! Nein!«, rief er, und da hob sie den Arm, um ihm die Hand an die Wange zu legen. Der Autotür zum Trotz, die wie eine Schranke zwischen ihnen stand, schien sie ihn zu sich ziehen zu wollen.
Aber die Schranke wirkte, der Fremde entzog sich der Liebkosung, die Eugenie ihm zugedacht hatte. Er tauchte in seinen Wagen hinunter, knallte die Tür zu und ließ den Motor an, dessen Aufheulen sich an den Häuserfassaden rund um den Parkplatz brach.
Eugenie trat zurück. Der Wagen wendete. Die Gangschaltung krachte. Die Reifen drehten auf dem nassen Pflaster ein paar Mal durch, ehe sie mit einem Kreischen, das wie Verzweiflung klang, griffen.
Dann raste der Wagen zur Ausfahrt. Keine sechs Meter von dem jungen Liquidambar entfernt, in dessen Schutz Ted stand und die Szene beobachtete, schoss der Audi - Ted erkannte die vier Ringe auf der Motorhaube - auf die Straße hinaus, ohne dass der Fahrer sich auch nur einen Moment Zeit genommen hätte, zu prüfen, ob sie frei war. Ted sah flüchtig das Profil eines von Emotionen verzerrten
Gesichts, bevor der Wagen nach links einbog, in Richtung zur Duke Street, und kurz danach auf die Straße nach Reading abbog. Mit zusammengekniffenen Augen sah Ted ihm nach, versuchte das Kennzeichen zu erkennen, überlegte, ob dies nicht vielleicht doch der falsche Moment für ein Zusammentreffen mit Eugenie war.
Ihm blieb nicht viel Zeit, zu entscheiden, was klüger war - nach Hause zu verschwinden oder so zu tun, als wäre er eben erst gekommen. Gleich würde Eugenie auf den Bürgersteig gehen und ihn sehen.
Er blickte zu der alten Hündin hinunter, die sich, die Pause nutzend, unter dem Baum zusammengerollt hatte, offenbar entschlossen, lieber im strömenden Regen zu nächtigen, als noch einen Schritt zu tun. Ted fragte sich, ob überhaupt Hoffnung bestand, den Hund so schnell hochzujagen, dass sie aus dieser Ecke verschwunden wären, bevor Eugenie den Bürgersteig erreichte. Wohl eher nicht. Also würde er ihr eben erklären, er wäre gerade erst hier angekommen.
Er straffte die Schultern und zog einmal kurz an der Leine. Aber im selben Augenblick sah er, dass Eugenie gar nicht auf dem Weg zu ihm war, sondern die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen hatte und einem Fußweg folgte, der zwischen Häusern hindurch zur Market Place führte. Wohin, zum Teufel, wollte sie?
Ted lief ihr nach, in einem Tempo, das PB gar nicht behagte, dem sie sich aber nicht widersetzen konnte, ohne Gefahr zu laufen, von ihrem Halsband erdrosselt zu werden. Eugenie ging vor ihnen, eine dunkle Gestalt - schwarzer Regenmantel, schwarze Stiefel, schwarzer Schirm.
Sie bog in die Market Place ein, und zum zweiten Mal fragte sich Ted, was sie vorhaben könnte. Die Läden waren um diese Zeit alle geschlossen, und es war nicht Eugenies Art, sich allein in ein Pub zu setzen.
Er machte einen qualvollen Moment durch, als PB sich zum Pinkeln niederließ, war sicher, dass er in der Zeit, die die Hündin brauchte, um eine dampfende Urinpfütze aufs Pflaster zu setzen, Eugenie, die jetzt entweder in die Market Place Mews oder die Market Lane abbiegen konnte, aus den Augen verlöre. Aber nach einem schnellen Blick nach rechts und nach links setzte Eugenie ihren Weg in gerader Richtung fort, hinunter zum Fluss. An der Duke Street vorbeigehend, nahm sie die Hart Street, und Ted sagte sich, dass sie trotz des Wetters vielleicht aus irgendwelchen Gründen lediglich den längeren Weg nach Hause ging. Aber dann schwenkte sie zum Portal der Marienkirche ein, deren schöner, mit Zinnen versehener Turm zu dem Flusspanorama gehörte, für das Henley berühmt war.
Aber Eugenie war nicht hergekommen, um die Aussicht zu bewundern, sie eilte vielmehr ohne zu zögern in die Kirche hinein.
»Verdammt«, brummte Ted. Was sollte er jetzt tun? Mit dem Hund konnte er ihr nicht in die Kirche folgen. Und draußen im Regen herumzulungern, bis sie wieder herauskam, war keine verlockende Vorstellung. Er konnte den Hund natürlich irgendwo anbinden und hineingehen und mit ihr beten - wenn sie überhaupt betete -, aber der Schein einer Zufallsbegegnung ließ sich dann nicht aufrechterhalten. Eugenie wusste, dass er kein Kirchgänger war. Was also blieb ihm jetzt anderes übrig, als kehrtzumachen und sich nach Hause zu trollen wie ein liebeskranker Trottel? Und dabei ständig den Moment auf dem Parkplatz vor Augen zu haben, als sie diesem Kerl die Hand an die Wange gelegt hatte, wieder! Wieder diese Berührung…
Ted schüttelte heftig den Kopf. So konnte es nicht weitergehen. Er musste Gewissheit haben. Noch heute Abend.
Links neben der Kirche lag der Friedhof, ein Dreieck regennasser Bäume und Sträucher, von einem Fußweg durchschnitten, der zu einer Reihe alter Gemeindehäuser aus dunklem Backstein führte. Die Fenster der niedrigen Häuser leuchteten hell in der Dunkelheit, und mit PB an der Leine folgte Ted dem Weg, während er sich überlegte, was er Eugenie sagen wollte, wenn sie aus der Kirche herauskam.
Schau dir diesen Hund an, fett wie ein Mastschwein, würde er sagen. Sie muss unbedingt dünner werden. Sonst streikt demnächst ihr Herz, meint der Tierarzt. Tja, und nun machen wir also jeden Abend einen großen Rundgang um die Stadt. Hast du etwas dagegen, wenn wir dich begleiten, Eugenie? Du gehst nach Hause? Wäre das nicht die Gelegenheit zum Reden? Du hast doch gesagt, bald. Ich weiß nämlich, ehrlich gesagt, nicht, wie ich das noch länger aushalten soll, mir ständig Gedanken darüber zu machen, was du mir zu »beichten« hast, wie du es formuliert hast.
Das Problem war, dass er sich für sie entschieden hatte, ohne zu wissen, ob sie sich auch für ihn entschieden hatte. In den fünf Jahren seit Connies Tod hatte er es nicht nötig gehabt, um eine Frau zu werben; die Frauen warben um ihn, und das mit einer Aggressivität, die ihm widerwärtig war und durch die er sich einem Leistungsdruck ausgesetzt fühlte, unter dem er regelmäßig versagte. Dennoch war es natürlich sehr befriedigend, zu erleben, dass er auch in seinem Alter noch das gewisse Etwas besaß und dieses gewisse Etwas höchst begehrt war.
Nur Eugenie hatte bisher kein Begehren gezeigt. Und darum fragte sich Ted, ob er vielleicht Manns genug für alle anderen Frauen war - zumindest oberflächlich gesehen -, aber aus irgendeinem Grund nicht Manns genug für Eugenie.
Ach, verdammt, woher rührten diese ängstlichen Zweifel? Das war ja wie bei einem Halbwüchsigen, der noch nie mit einer Frau zusammen gewesen war! Sie hatten ihren Ursprung natürlich in seinem kläglichen Versagen bei den anderen Frauen, einem Versagen, das er in der Ehe mit Connie nicht gekannt hatte.
»Du solltest dich mal mit einem Arzt über dieses kleine Problem unterhalten«, hatte Georgia Ramsbotton gesagt, dieser Piranha in Menschengestalt. Sie hatte ihre knochigen Beine aus seinem Bett geschwungen und seinen Flanellmorgenrock übergezogen. »Das ist nicht normal, Ted, bei einem Mann deines Alters. Wie alt bist du - sechzig? Das ist einfach nicht normal.«
Achtundsechzig, hatte er gedacht, mit einem Geschlechtsorgan zwischen den Beinen, das sich trotz inbrünstiger An- und Zuwendungen nicht rührt.
Aber daran waren einzig diese aggressiven Frauen schuld. Wenn sie ihm die Rolle gelassen hätten, die die Natur dem Mann zugedacht hatte - die des Jägers und nicht die des Wildes -, dann hätte sich alles von selbst geregelt. Oder vielleicht doch nicht? Er musste unbedingt Gewissheit haben.
Eine plötzliche Bewegung hinter einem der erleuchteten Fenster der Gemeindehäuser lenkte ihn von seinen Gedanken ab. Er hob den Kopf und sah, dass eine Frau das Zimmer betreten hatte. Während er noch neugierig hinschaute, zog sie zu seiner Überraschung den roten Pulli, den sie anhatte, über den Kopf und ließ ihn zu Boden fallen.
Er spähte nach rechts und nach links. Seine Wangen brannten plötzlich trotz des eiskalten Regens. Merkwürdig, dass manche Leute anscheinend nicht wussten, wie verräterisch erleuchtete Fenster in der Nacht waren. Sie konnten nicht hinaussehen, also glaubten sie, man könne auch nicht hineinsehen. Kinder waren so. Teds drei Töchter waren von klein auf dazu angehalten worden, die Vorhänge zuzuziehen, bevor sie sich entkleideten. Aber wenn einem Kind das nicht beigebracht wird - wirklich merkwürdig, dass manche Leute nie gescheit wurden.
Verstohlen warf er noch einen Blick zu dem erleuchteten Fenster. Die Frau hatte ihren Büstenhalter abgelegt. Ted schluckte. PB, die er immer noch an der Leine hielt, begann im Gras zu schnüffeln, das den Fußweg begrenzte, und zog in aller Unschuld zu den Gemeindehäusern hinüber.
Lass sie von der Leine, sie läuft nicht weg. Stattdessen folgte Ted dem Zug der Leine.
Die Frau hinter dem Fenster begann sich das Haar zu bürsten. Bei jedem Bürstenstrich hoben sich ihre Brüste und sanken wieder herab, volle runde Brüste mit tiefbraunen Aureolen um die Brustwarzen. Ted starrte wie gebannt dorthin, als hätte er den ganzen Abend und alle Abende, die diesem hier vorausgegangen waren, nur auf dieses Schauspiel gewartet, und während er schaute und schaute, spürte er ein leises Ziehen und dann dieses befriedigende Aufwallen des Bluts und den Puls des Lebens.
Er seufzte. Gesundheitlich fehlte ihm nichts. Gar nichts. Gejagt zu werden, das war das Problem. Selbst zu jagen - und danach das Besitzrecht geltend zu machen und zu verteidigen - war die sichere Lösung.
Er nahm PB kurz, damit sie nicht noch weiterlaufen konnte, und blieb stehen, wo er war, um die Frau hinter dem Fenster zu beobachten und auf Eugenie zu warten.
Eugenie war nicht in die Marienkirche gegangen, um zu beten, sondern um abzuwarten. Sie hatte seit Jahren keine Kirche mehr betreten und war an diesem Abend einzig hierher gekommen, um dem Gespräch, das sie Ted versprochen hatte, aus dem Weg zu gehen.
Sie wusste, dass er ihr folgte. Nicht zum ersten Mal hatte sie ihn beim Verlassen des Sixty Plus Club drüben unter den Bäumen stehen sehen, aber zum ersten Mal hatte sie das Gespräch mit ihm meiden wollen. Darum war sie nicht, wie es normal gewesen wäre, auf ihn zugegangen, um ihm eine Erklärung für die Szene zu geben, die er auf dem Parkplatz beobachtet hatte, sondern hatte ohne einen bestimmten Plan den Weg zur Market Place eingeschlagen.
Beim Anblick der Kirche hatte sie sich kurzerhand entschlossen, hineinzugehen und einen Moment der Andacht einzulegen.
Zuerst kniete sie sogar auf einem der verstaubten Betkissen nieder und wartete, den Blick auf die Heilige Jungfrau gerichtet, darauf, dass ihr die alten frommen Worte von selbst wieder in den Sinn kämen. Aber das geschah nicht. Zu vieles bewegte sie, das sich dem Gebet entgegenstellte: alte Konflikte und Anklagen, Loyalitäten noch älteren Ursprungs und die Sünden, die in ihrem Namen begangen worden waren; gegenwärtige Bedrängnisse mit all ihren Auswirkungen; künftige Konsequenzen, wenn sie jetzt einen falschen Schritt machte.
Sie hatte in der Vergangenheit genug falsch gemacht und mehr als einen Menschen ins Verderben gestürzt. Und sie hatte lange schon begriffen, dass es sich mit allem, was man tat, ähnlich verhielt wie mit dem Steinchen, das man ins Wasser warf: Die konzentrischen Kreise, die durch den Steinwurf auf der Wasseroberfläche entstehen, werden nach und nach schwächer, aber sie existieren.
Als ihr kein Gebet über die Lippen kam, erhob sich Eugenie von den Knien und setzte sich, die Füße flach auf dem Boden. Schweigend betrachtete sie das Antlitz der Heiligen Jungfrau. Du hast dich ja nicht selbst für den Verlust deines Sohnes entschieden, nicht wahr?, fragte sie stumm. Wie also kann ich verlangen, dass du mich verstehst? Und selbst wenn du verstündest, um welche Art des Eingreifens sollte ich dich bitten? Du kannst die Zeit nicht zurückdrehen. Du kannst nicht ungeschehen machen, was geschehen ist. Du kannst nicht zum Leben erwecken, was tot ist; denn wenn du das könntest, dann hättest du es getan, um dir die Qual seiner Ermordung zu ersparen.
Aber es spricht ja niemand von Mord, nicht wahr? Immer ist nur die Rede von einem Opfer für etwas Höheres, von der Hingabe des Lebens an etwas, das weit bedeutender ist als das Leben selbst. Als ob es das wirklich gäbe…
Eugenie stützte die Ellbogen auf ihre Oberschenkel und presste ihre Stirn in die geöffneten Handflächen. Wenn dem zu glauben war, was ihre Religion sie einst gelehrt hatte, dann hatte die Jungfrau Maria von Anfang an genau gewusst, was von ihr gefordert wurde. Sie hatte klar verstanden, dass das Kind, das sie nährte, in der Blüte seines Mannesalters dem Leben entrissen werden würde. Geschmäht, beschimpft, geschlagen und geopfert.
Dass er in Schande sterben würde und sie es mitansehen müsste. Und die Gewissheit, dass sein Tod von höherer Bedeutung war als aus der Tatsache ersichtlich wurde, dass er angespien und zwischen zwei gemeinen
Verbrechern ans Kreuz geschlagen wurde, bot ihr einzig der Glaube. Zwar behauptete die christliche Überlieferung, ihr sei ein Engel erschienen, um ihr von zukünftigen Ereignissen zu künden, aber war so etwas mit dem Verstand überhaupt fassbar?
Sie hatte sich daher in blindem Glauben darauf verlassen, dass irgendwo etwas Höheres existierte. Nicht in ihrer Lebenszeit und nicht in der Lebenszeit der Enkel, die sie niemals haben würde. Aber dort. Irgendwo. Ganz real. Dort.
Natürlich hatte es sich noch nicht gezeigt. Zweitausend Jahre der Gewalt später wartete die Menschheit immer noch auf die Ankunft des Guten. Und was dachte die heilige Mutter bei sich, während sie auf ihrem Thron in den Wolken saß und das Treiben beobachtete, während sie wartete? Wie wollte sie auch nur versuchen den Nutzen gegen den Preis aufzurechnen?
Jahrelang hatte sich Eugenie auf die Zeitungen verlassen, um sich zu vergewissern, dass der Nutzen - das Gute - schwerer wog als der Preis, den sie bezahlt hatte. Aber jetzt war sie nicht mehr sicher. Das höhere Gute, dem sie zu dienen geglaubt hatte, drohte, sich vor ihren Augen aufzulösen wie ein gewirkter Teppich, der durch seinen allmählichen Zerfall dem Fleiß und der Arbeit spottet, die aufgewendet worden waren, um ihn zu schaffen. Und nur sie konnte diesen Zerfall aufhalten, wenn sie es wollte.
Das Problem war Ted. Sie hatte nicht beabsichtigt, eine engere Beziehung zu ihm zu haben. Seit Jahren hatte sie keinen Menschen so nahe an sich herangelassen, dass sich in irgendeiner Form Vertrauen hätte bilden können. Und jetzt das Gefühl zu haben, einer Beziehung zu einem anderen Menschen fähig zu sein - ja, sie zu verdienen -, schien ihr eine Art von Hybris, die ohne Zweifel ihr
Verhängnis werden würde. Trotzdem wollte sie die Nähe zu ihm, als wäre er das Heilmittel für eine Krankheit, die zu benennen ihr der Mut fehlte.
Und darum saß sie jetzt in der Kirche. Einerseits, weil sie Ted Wiley nicht gegenübertreten konnte, bevor der Weg geebnet war, und andererseits, weil sie nicht über die Worte verfügte, den Weg zu ebnen.
Bitte, Gott, betete sie, sag mir, was ich tun soll. Sag mir, was ich sagen soll.
Aber Gott schwieg, wie er seit Ewigkeiten geschwiegen hatte. Eugenie warf ein Geldstück in den Opferstock und ging.
Draußen regnete es immer noch ohne Unterlass. Sie spannte ihren Schirm auf und schlug den Weg zum Fluss ein. An der Ecke frischte der Wind plötzlich auf, und sie blieb einen Moment stehen, um sich gegen ihn zu stemmen, als er ungestüm ihren Schirm packte und nach hinten riss.
»Warte, Eugenie. Lass mich dir helfen.«
Sie sah sich um. Seite an Seite mit seinem müden alten Hund stand Ted hinter ihr. Regenwasser tropfte ihm von Nase und Kinn, seine Wachsjacke glänzte feucht, und die Schirmmütze klebte ihm durchweicht am Kopf.
»Ted!« Sie lächelte mit geheuchelter Überraschung. »Du bist ja völlig durchnässt. Und die arme PB! Was tut ihr denn bei diesem Wetter hier draußen, ihr beiden?«
Er richtete ihren Schirm und hielt ihn hoch, sodass sie beide geschützt waren. Sie hakte sich bei ihm ein.
»Wir haben ein neues Fitnessprogramm«, erklärte er. »Bis zur Market Place, dann runter zum Friedhof und wieder zurück. Das ganze viermal am Tag. Und was tust du hier? Du warst doch nicht in der Kirche?«
Du weißt, dass ich dort war, hätte sie gern geantwortet. Du weißt nur nicht, warum. Stattdessen sagte sie in leichtem Ton: »Ich muss mich von der Ausschusssitzung erholen - du weißt schon, der Festausschuss, der über das Silvestermenü beschließen sollte. Ich hatte den Leuten einen Termin gegeben, um zu einer Einigung zu kommen. Der Partyservice kann schließlich nicht bis in alle Ewigkeit auf eine feste Bestellung warten.«
»Und jetzt gehst du nach Hause?«
»Ja.«
»Darf ich -?«
»Aber natürlich, das weißt du doch!«
Wie absurd, dieses Geplänkel, da so vieles, was endlich gesagt werden musste, unausgesprochen zwischen ihnen stand.
Du vertraust mir nicht, Ted. Warum nicht? Wie soll Liebe zwischen uns gedeihen, wenn nicht die Grundlage gegenseitigen Vertrauens da ist? Ich weiß, du bist beunruhigt, weil ich dir zwar gesagt habe, dass ich mit dir sprechen möchte, dies jedoch bis heute nicht getan habe. Aber warum kannst du dich fürs Erste nicht einfach damit zufrieden geben?
Sie konnte jetzt nichts sagen, was womöglich alles aufdecken würde. Sie schuldete es denjenigen, zu denen viel ältere Bindungen bestanden als zu Ted, dass sie ihr Haus in Ordnung brachte, ehe sie es niederbrannte.
So gingen sie also unverfänglich plaudernd am Fluss entlang: Wie war sein Tag gewesen, wie ihrer, wer war in die Buchhandlung gekommen, wie ging es seiner Mutter. Er war herzlich und offen, sie freundlich, wenn auch etwas distanziert.
»Müde?«, fragte er, als sie ihr Haus erreicht hatten.
»Ein bisschen«, bekannte sie. »Es war ein langer Tag.«
Er reichte ihr den Schirm mit den Worten: »Dann will ich dich nicht aufhalten«, sah sie dabei aber mit so unverhohlener Erwartung an, dass sie wusste, er hoffte auf eine Einladung zu einem Gutenachttrunk.
Weil sie ihn wirklich gern hatte, sagte sie die Wahrheit: »Ich muss nach London, Ted.«
»Ach? Morgen in aller Frühe, hm?«
»Nein. Ich muss noch heute Abend fahren. Ich habe eine Verabredung.«
»Eine Verabredung? Aber bei dem Regen brauchst du doch mindestens eine Stunde - sagtest du Verabredung?«
»Ja.«
»Was für eine - Eugenie…« Er seufzte. Dann fluchte er leise. PB schien es zu hören. Sie hob den Kopf und sah Ted mit zusammengekniffenen Augen wie verdutzt an. Das arme Tier war klatschnass. Nun, zum Glück hatte es wenigstens ein dickes Fell.
»Dann lass mich dich fahren«, sagte Ted schließlich.
»Besser nicht.«
»Aber -«
Sie legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. Dann hob sie sie, um seine Wange zu berühren, aber er zuckte zurück, und sie trat einen Schritt von ihm weg. »Hast du Lust, morgen Abend mit mir zusammen zu essen?«, fragte sie.
»Das weißt du doch.«
»Gut. Dann komm zu mir zum Abendessen. Da können wir dann auch reden, wenn du möchtest.«
Er sah sie an. Sie wusste, dass er versuchte, in ihren Zügen zu lesen, und es ihm nicht gelang. Bemüh dich nicht, hätte sie am liebsten gesagt. Ich habe jahrelange Übung darin, eine bestimmte Rolle in einem Drama zu spielen, von dem du nichts weißt.
Sie erwiderte ruhig seinen Blick, während sie auf seine Antwort wartete. Das Licht aus ihrem Wohnzimmer fiel durch das Fenster und warf einen gelben Schein auf sein Gesicht, das vom Alter und von Ängsten, die er verschwieg, gezeichnet war. Sie war ihm dankbar dafür, dass er seine tiefsten Ängste ihr gegenüber nicht aussprach, denn das verlieh ihr den Mut, sich ihrerseits mit alldem auseinander zu setzen, was sie ängstigte.
Er nahm plötzlich die Mütze ab, eine Geste der Unterwürfigkeit, die sie niemals von ihm verlangt hätte. Das graue Haar kam zum Vorschein, das jetzt nass wurde, und die fleischige rote Nase, die bisher im Schatten des Mützenschirms verborgen geblieben war. Nun sah er aus wie das, was er war: ein alter Mann. Und sie fühlte sich als die, die sie war: eine Frau, die die Liebe eines so anständigen Mannes nicht verdiente.
»Eugenie«, sagte er, »wenn du denkst, du kannst mir nicht sagen, dass du - dass du und ich - das wir nicht…« Er schaute zur Buchhandlung gegenüber.
»Ich denke gar nichts«, erwiderte sie. »Außer an London und die Fahrt. Und der Regen ist natürlich lästig. Aber ich fahre vorsichtig. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
Er schien zufrieden und vielleicht eine Spur erleichtert über ihre Worte, die gedacht waren, ihn zu beruhigen. »Du bist mein Leben«, sagte er schlicht. »Eugenie, weißt du das? Du bist mein Leben. Und ich bin zwar die meiste Zeit ein ziemlicher Trottel, aber ich -«
»Ich weiß«, sagte sie. »Ich weiß. Und wir reden morgen.« »Ja, gut.« Er küsste sie ungeschickt und stieß mit dem Kopf gegen die Kante des Schirms, sodass er ihr beinahe aus der Hand gefallen wäre.
Regen schlug ihr ins Gesicht. Ein Auto raste durch die Friday Street, und Wasser spritzte über ihre Schuhe.
Ted fuhr ärgerlich herum. »Hey!«, schrie er dem Fahrzeug nach. »Können Sie nicht aufpassen!«
»Ist schon gut«, sagte sie. »Es ist ja nichts passiert, Ted.«
Er wandte sich ihr wieder zu. »Verdammt noch mal«, sagte er.
»War das nicht -« Aber dann brach er ab.
»Was?«, fragte sie. »Wer?«
»Niemand. Nichts.« Er scheuchte den Hund hoch, um das letzte Stück Weg zu seiner Haustür hinter sich zu bringen. »Und wir reden morgen?«, fragte er. »Nach dem Abendessen?«
»Ja«, antwortete sie. »Es gibt so vieles zu sagen.«
Große Vorbereitungen brauchte sie nicht zu treffen. Sie wusch sich das Gesicht und putzte die Zähne. Sie kämmte sich das Haar und band ein dunkelblaues Tuch um, trug einen farblosen Lippenbalsam auf und knöpfte das Winterfutter in ihren Trenchcoat, um gegen die Kälte der Nacht besser geschützt zu sein. Parkplätze waren in London immer knapp, und sie wusste nicht, wie weit sie nach Erreichen ihres Ziels noch zu Fuß durch Wind und Kälte würde gehen müssen.
Im Trenchcoat, die Handtasche am Arm, stieg sie die schmale Treppe hinunter. Vom Küchentisch nahm sie eine Fotografie in einem schlichten Holzrahmen, eine von dreizehn, die gewöhnlich im Haus verteilt standen. Zur
Auswahl hatte sie sie in Reih und Glied auf dem Tisch aufgestellt, und die anderen blieben nun dort stehen.
Das Bild an die Brust gedrückt, trat sie in die Dunkelheit hinaus.
Ihr Wagen stand ein paar Häuser weiter in einem abgeschlossenen Hof. Sie mietete den Platz monatlich. Der Hof war hinter einem Tor verborgen, das geschickt so gefertigt war, dass es aussah, als wäre es Teil der Fachwerkhäuser zu seinen beiden Seiten. Das bot Sicherheit, und Sicherheit war Eugenie wichtig. Die Illusion von Sicherheit, die Tore und Schlösser boten, sagte ihr zu.
In ihrem Wagen - ein Polo aus zweiter Hand, dessen Gebläse röchelte wie ein Asthmatiker - legte sie die gerahmte Fotografie auf den Beifahrersitz und ließ den Motor an. Sie hatte sich für diese Fahrt nach London gerüstet - Öl und Reifendruck des Wagens geprüft, den Tank aufgefüllt -, sobald sie Datum und Ort des Termins erfahren hatte. Die genaue Uhrzeit war ihr später angegeben worden, und sie war zunächst zurückgeschreckt, als ihr klar geworden war, dass das »zehn Uhr fünfundvierzig« sich auf den Abend bezog und nicht auf den Vormittag. Aber sie wusste, dass Proteste von ihr keine Chance hatten, darum hatte sie zugestimmt. Sie sah bei Dunkelheit nicht mehr so gut wie früher, aber sie würde es schon schaffen.
Mit dem Regen allerdings hatte sie nicht gerechnet. Als sie die Außenbezirke von Henley hinter sich gelassen hatte und die Straße nahm, die in nordwestlicher Richtung nach Marlow führte, kroch sie bald nur noch im Schneckentempo vorwärts. Die Hände um das Lenkrad gekrampft und den Oberkörper so weit vorgebeugt, dass sie mit dem Kopf beinahe die Windschutzscheibe berührte, suchte sie sich ihren Weg durch den peitschenden Regen, von dem das grelle Licht entgegenkommender Fahrzeuge in tausend glitzernde Pfeile gebrochen wurde, die auf ihre Windschutzscheibe hagelten.
Auf der M4O, wo Personenwagen und Lastzüge Sprühfontänen aufwirbelten, denen die Scheibenwischer des Polo kaum gewachsen waren, war es nicht viel besser. Die Markierungslinien, die nicht unter dem stehenden Wasser verschwunden waren, schienen sich unter Eugenies Blick bald zu Schlangenlinien zu krümmen, bald in plötzlichen Sprüngen auf eine andere Spur hinüberzuwechseln.
Als sich die Lichter von Wormwood Scrubbs näherten, wagte sie es, den Todesgriff, mit dem sie das Lenkrad umklammert hielt, etwas zu lockern, aber wirklich wohler wurde ihr erst, als sie von der schwimmenden Betonbahn der M4O abbog und bei Maida Hill in nördlicher Richtung weiterfuhr.
Sobald es möglich war, lenkte sie den Wagen an den Straßenrand und stieß mit einem Gefühl, als hätte sie während der ganzen Fahrt die Luft angehalten, einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Sie kramte in ihrer Handtasche nach der Wegbeschreibung, die sie sich anhand des Londoner Stadtplans notiert hatte. Zwar hatte sie nun die Fahrt auf der Schnellstraße heil überstanden, aber noch lag das letzte Viertel des Wegs vor ihr, der durch das Labyrinth der Londoner Straßen führte.
Es war zu jeder Zeit schwierig, sich in der Stadt zurechtzufmden. Bei Dunkelheit sorgten schlechte Straßenbeleuchtung und ein eklatanter Mangel an Hinweisschildern für zusätzliche Mühe. Und wenn es dann auch noch in Strömen regnete, war man so gut wie verloren. Drei Fehlversuche brachten Eugenie gerade bis Paddington Recreation Ground, bevor sie merkte, dass sie sich hoffnungslos verfahren hatte. Nicht bereit, ein Risiko einzugehen, fuhr sie genau den Weg zurück, den sie gekommen war, wie ein Taxifahrer, der in die Irre gefahren ist und unbedingt feststellen will, wo er sich unterwegs das erste Mal verfahren hat.
Es war beinahe zwanzig nach elf, als sie endlich auf die Straße im Nordwesten Londons stieß, die sie suchte. Und dann musste sie noch einmal sieben schweißtreibende Minuten lang in der Gegend herumkurven, ehe sie einen Parkplatz fand.
Sie nahm die gerahmte Fotografie an sich, holte ihren Regenschirm vom Rücksitz und stieg aus. Der Regen hatte zum Glück nachgelassen, aber es wehte immer noch ein starker Wind, der die wenigen noch an den Bäumen haftenden Blätter abriss und auf Bürgersteig, Straße und geparkte Autos hinunterfegte.
Das Haus, zu dem sie wollte, hatte die Nummer 32, und sie sah sogleich, dass es ein ganzes Stück weiter die Straße hinauf auf der anderen Seite lag. Mit schnellem Schritt ging sie die ersten fünfundzwanzig Meter auf dem Bürgersteig. Kaum eines der Häuser, an denen sie vorüberkam, war noch erleuchtet, und die ängstliche Nervosität, die sie angesichts des bevorstehenden Gesprächs ohnehin schon plagte, steigerte sich noch wegen der Dunkelheit und den Fantasien, was sich alles in dieser Dunkelheit verbergen könnte. Eugenie beschloss, vorsichtig zu sein, wie das einer Frau, die an einem regnerischen Herbstabend allein in der Stadt unterwegs war, zu raten war, und trat vom Bürgersteig herab, um in der Mitte der Straße weiterzugehen. So würde sie vielleicht noch rechtzeitig aufmerksam werden, sollte jemand sie überfallen wollen.
Sie hielt das zwar für unwahrscheinlich, denn dies war eine anständige Gegend. Dennoch war sie erleichtert, als die fächerförmigen Strahlen zweier Autoscheinwerfer über sie hinwegglitten und ihr sagten, dass hinter ihr ein Fahrzeug in die Straße eingebogen war. Es fuhr langsam, so langsam, wie auch sie gefahren war, offensichtlich wie sie selbst noch vor wenigen Minuten auf der Suche nach einem Parkplatz. Sie drehte sich kurz um und trat an das nächststehende Fahrzeug, um den Wagen vorbeizulassen. Aber der Fahrer zog zur Seite und gab ihr mit der Lichthupe Zeichen, dass sie weitergehen könne.
Irrtum, dachte sie, schulterte ihren Schirm und setzte ihren Weg fort. Der Fahrer suchte gar nicht nach einem Parkplatz, sondern wartete offenbar auf einen Bewohner des Hauses, vor dem er angehalten hatte. Sie warf noch einmal einen schnellen Blick über die Schulter zurück, und als hätte der fremde Fahrer ihre Gedanken gelesen, hupte er einmal kurz. Es klang, fand Eugenie, wie die ungeduldige Mahnung einer Mutter oder eines Vaters an ein widerspenstiges Kind.
Sie ging weiter und achtete auf die Nummern der Häuser, an denen sie vorüberkam. Sie war bei Nummer zehn und Nummer zwölf - kaum sechs Häuser von ihrem Auto entfernt -, als das bisher stetige Licht hinter ihr plötzlich zur Seite schwenkte und dann erlosch.
Seltsam, dachte sie, man kann doch nicht einfach mitten auf der Straße parken, und sah sich um.
Grelle Lichter flammten auf. Sie war augenblicklich geblendet. Und geblendet blieb sie wie gebannt stehen.
Ein Motor heulte auf, Reifen glitten quietschend über den Asphalt.
Mit weit ausgebreiteten Armen wurde sie in die Luft geschleudert, als der Wagen sie erwischte, und das Bild in seinem schlichten Rahmen schoss in die Höhe wie eine Rakete.