Ich protestiere, Dr. Rose. Ich meide nichts. Sie können meine Suche nach der Wahrheit über den Tod meiner Schwester mit Skepsis betrachten. Sie können behaupten, es diene dem übermächtigen Wunsch, abzulenken, wenn ich den halben Tag damit zubringe, nach Cheltenham und wieder zurück zu fahren, und Sie können meine Gründe dafür hinterfragen, dass ich noch einmal drei Stunden im Pressearchiv gesessen und die Bericht über Katja Wolffs Festnahme und den Prozess gelesen und kopiert habe. Aber Sie können mich nicht bezichtigen, eben das zu meiden, was zu tun Sie mir ans Herz gelegt haben.
Ja, Sie haben mir aufgetragen, niederzuschreiben, woran ich mich erinnere, und das habe ich getan. Mir scheint aber, dass mir die Geschichte über den Tod meiner Schwester den Zugang zu anderen Erinnerungen versperren wird, solange ich mich nicht gründlich mit ihr auseinander gesetzt habe. Und deshalb werde ich das alles durcharbeiten. Deshalb werde ich mir Gewissheit darüber verschaffen, was damals geschehen ist. Wenn dieses Bemühen nichts weiter ist als ein ausgeklügeltes Manöver meines Unterbewusstseins, das zu verschleiern, woran ich mich eigentlich erinnern sollte - was, zum Teufel, auch immer das ist -, so werden wir das früher oder später merken, meinen Sie nicht? Und unterdessen werden Sie durch die zahllosen Sitzungen mit mir immer reicher. Vielleicht werde ich sogar Ihr Patient auf Lebenszeit.
Sagen Sie mir jetzt bitte nicht, dass Sie meine Frustration spüren! Es ist doch klar, dass ich frustriert bin, wenn Sie mich genau in dem Moment, wo ich meine, eine Spur gefunden zu haben, auffordern, über den Prozess der Rationalisierung nachzudenken und zu überlegen, was für eine Bedeutung er bei meinen derzeitigen Bestrebungen haben könnte.
Ich werde Ihnen sagen, was Rationalisierung heißt: Es heißt dass ich bewusst oder unbewusst der Ursache meines Versagens als Musiker ausweiche. Es heißt, dass ich die raffiniertesten Haken schlage, um Ihre Bemühungen, mir zu helfen, zu vereiteln.
Sehen Sie, mir ist absolut bewusst, was ich vielleicht tue. Und jetzt bitte ich Sie, es mich tun zu lassen.
Ich war bei meinem Vater. Er war nicht zu Hause, als ich kam aber Jill war da. Sie hat beschlossen, seine Küche zu streichen, und hatte ein ganzes Sortiment Farbkarten mitgebracht, die sie auf dem Küchentisch ausgelegt hatte. Ich erklärte, ich sei gekommen, um verschiedene alte Unterlagen durchzusehen, die mein Vater im Großvaterzimmer aufbewahrt. Sie sah mich mit einem jener Verschwörerblicke an, die unterstellen, dass zwei Menschen sich stillschweigend über eine bestimmte Sache einig sind, und ich schloss daraus, dass das Museum zum Gedenken an meinen Großvater für immer geschlossen werden wird, wenn die beiden zusammenziehen. Das wird sie meinem Vater natürlich nicht gesagt haben. Solche Direktheit ist nicht Jills Art.
Zu mir sagte sie: »Hoffentlich hast du deine Gummistiefel mit.«
Ich lächelte, ohne etwas zu erwidern, und zog mich ins Großvaterzimmer zurück.
Ich betrete diesen Raum selten. Es flößt mir Unbehagen ein, mich von derart erdrückenden Beweisen der Verehrung meines Vaters für seinen Vater umgeben zu sehen. Ich finde die Inbrunst, mit der mein Vater die Erinnerung an seinen Vater pflegt, ehrlich gesagt ziemlich fehl am Platz. Gewiss, mein Großvater hat Schweres durchgemacht - Kriegsgefangenschaft, schreckliche Entbehrungen, Zwangsarbeit, Folter - und unter Bedingungen leben müssen, die eher einem Tier als einem Menschen angemessen gewesen wären, aber sowohl vor dem Krieg als auch danach hat er meinen Vater mit Hohn und Spott tyrannisiert, und ich verstehe bis heute nicht, warum mein Vater am Gedenken an ihn festhält, anstatt ihn endlich ein für allemal zu begraben. Denn schließlich war mein Großvater schuld an diesem Leben, zu dem wir damals am Kensington Square gezwungen waren. Mein Vater musste schuften wie ein Sklave, weil mein Großvater nicht fähig war, sich und seine Frau zu ernähren und den Lebensstandard aufrechtzuerhalten, den die beiden gewöhnt waren. Meine Mutter musste nur deshalb arbeiten gehen - obwohl sie ein behindertes Kind hatte! -, weil das Einkommen meines Vaters nicht ausreichte, um das Leben seiner Eltern, den Unterhalt des Hauses, meine Musikstunden und meinen Privatunterricht zu finanzieren; mein Studium der Musik wurde vor allem deshalb gefördert - ohne Rücksicht auf die finanziellen Opfer -, weil mein Großvater es so wollte… Und als reichte das alles nicht, musste mein Vater sich ständig die höhnischen Beschimpfungen meines Großvaters anhören, die mir noch heute in den Ohren dröhnen: Krüppel, Dick, du produzierst nichts als Krüppel.
Ich gönnte daher der Devotionalienausstellung keinen Blick, als ich ins Zimmer kam, sondern ging direkt zu dem Schreibtisch, aus dem mein Vater das Foto von Katja Wolff und Sonia geholt hatte. Ich zog die oberste Schublade auf, die randvoll mit Papieren und Ordnern war.
Was suchten Sie denn?, fragen Sie mich.
Irgendetwas, das mir Klarheit über die Geschehnisse geben würde. Denn für mich ist nichts klar, Dr. Rose, und mit jeder neuen Tatsache, die ich ausgrabe, wird alles nur noch unklarer.
Mir ist etwas eingefallen, das meine Eltern und Katja Wolff betrifft. Die Erinnerung wurde durch mein Gespräch mit Sarah-Jane Beckett ausgelöst und durch den zweiten Besuch im Pressearchiv, zu dem mich dieses Gespräch veranlasste. Ich entdeckte unter den vielen Zeitungsausschnitten eine bildliche Darstellung, Dr. Rose, so etwas wie eine Karte aller zum Zeitpunkt des Todes bereits verheilten Verletzungen, die Sonia im Lauf der Zeit erlitten hatte. Es waren viele: unter anderem eine Schlüsselbeinfraktur, eine Hüftluxation, ein gebrochener Zeigefinger, der wieder geheilt war, und an einem Handgelenk waren Spuren einer Fissur zu erkennen. Mir wurde übel, als ich das alles las, und eine Frage stellte sich mir klar und deutlich: Wie hatte Katja Wolff - oder irgendeine andere Person - meiner Schwester derartige Verletzungen beibringen können, ohne dass jemand aus der Familie etwas davon merkte?
Die Zeitungen berichteten, dass der sachverständige Zeuge der Anklage - ein Mediziner, der auf dem traurigen Gebiet der Kindesmisshandlung Spezialist war - im Kreuzverhör einräumte, dass es bei Kleinkindern nicht nur leichter zu Knochenbrüchen kommt als bei Erwachsenen, sondern dass solche Frakturen auch leichter verheilen, sogar ohne das Zutun eines Arztes. Er räumte ferner ein, dass er, auf dem Gebiet der Knochenanomalien bei Down- Syndrom-Patienten nicht bewandert, die Möglichkeit nicht ausschließen könne, dass die Knochenbrüche und Luxationen, die Sonia davongetragen hatte, in direktem Zusammenhang mit ihrer Krankheit standen. Erneut von der Anklage befragt, trug er jedoch mit allem Nachdruck das entscheidende Argument seiner Aussage vor: Ein Kind, dessen Körper ein Trauma widerfährt, wird auf dieses Trauma reagieren. Wenn so eine Reaktion unbemerkt und so ein Trauma unbehandelt bleiben, so liegt dem schwere Pflichtverletzung zugrunde.
Und immer noch sagte Katja Wolff kein Wort. Als sich ihr die Gelegenheit bot, aufzustehen und sich zu verteidigen - sogar über Sonias Zustand zu sprechen, die Operationen und all die krankheitsbedingten Probleme, die aus ihr ein so schwieriges Kind machten, das beinahe ständig quengelte und weinte -, blieb Katja Wolff stumm, während der Ankläger ihre »herzlose Gleichgültigkeit dem Leiden eines Kindes gegenüber« und ihren »rücksichtslosen Egoismus« anprangerte und von der »Feindschaft« sprach, die »zwischen der Deutschen und ihren Arbeitgebern ausbrach«.
Das war die Stelle, an der ich mich plötzlich erinnerte, Dr. Rose.
Wir sitzen beim Frühstück in der Küche, nicht im Esszimmer. Nur wir vier: mein Vater, meine Mutter, Sonia und ich. Ich mache Spielchen mit meinem Weetabix, stapele Bananenstücke darauf wie Ladegut auf einen Lastkahn, obwohl mir gerade gesagt worden war, ich solle essen und nicht spielen. Sonia sitzt in ihrem Babystühlchen, und Mutter füttert sie.
Mutter sagt: »Wir können das nicht länger hinnehmen, Richard«, und ich hebe erschrocken den Kopf von meinem Weetabix-Schiffchen. Ich denke, dass sie böse ist, weil ich immer noch nicht esse, und mich gleich ausschimpfen wird. Aber Mutter fährt fort:
»Sie war wieder bis halb zwei weg. Wenn sie sich nicht an die vereinbarten Zeiten halten kann -«
»Sie muss ab und zu mal einen Abend frei haben«, sagt Vater.
»Aber dann nicht auch noch den nächsten Morgen. Wir hatten eine klare Vereinbarung, Richard.«
Dem entnehme ich, dass Katja eigentlich mit uns beim Frühstück sitzen und Sonia füttern müsste. Aber sie ist nicht aus dem Bett gekommen und hat sich nicht um meine Schwester gekümmert. Darum hat Mutter ihre Arbeit übernommen.
»Wir bezahlen sie dafür, dass sie sich um Sonia kümmert«, sagt Mutter, »nicht dafür, dass sie zum Tanzen oder ins Kino geht oder vor dem Fernseher sitzt. Und ganz bestimmt nicht dafür, dass sie unter unserem Dach ihr Liebesleben pflegt.«
Das war es, was mir wieder einfiel, Dr. Rose, diese Bemerkung über Katjas Liebesleben. Und ich weiß jetzt auch wieder, wie das Gespräch zwischen meinen Eltern weiterging.
»Sie interessiert sich für niemanden in diesem Haus, Eugenie.«
»Du erwartest doch hoffentlich nicht, dass ich dir das glaube.«
Ich schaue sie an, erst Vater, dann Mutter, und spüre, dass etwas in der Luft liegt, was ich nicht fassen kann, vielleicht Unbehagen oder Verlegenheit. Mittenhinein in dieses Gespräch platzt Katja mit fliegenden Haaren und tausend Entschuldigungen, weil sie verschlafen hat.
»Ich bitte, lassen Sie mich die Kleine füttern«, sagt sie in ihrem ungeschickten Englisch, das vermutlich noch holpriger wird, wenn sie unter Stress steht.
Meine Mutter sieht mich an und sagt: »Gideon, würdest du mit deinem Müsli bitte ins Esszimmer gehen?«
Ich gehorche, weil ich die Spannung in der Küche wahrnehme. Aber gleich hinter der Tür bleibe ich stehen, um zu lauschen, und höre meine Mutter sagen: »Muss ich Sie schon wieder an Ihre Pflichten erinnern, Katja?«
»Ich bitte, lassen Sie mich die Kleine füttern«, erwidert Katja darauf klar und bestimmt.
Es ist die Stimme einer Person, die vor ihrem Arbeitgeber keine Angst hat, das weiß ich jetzt, Dr. Rose. Und das wiederum legt doch nahe, dass Katja aus gutem Grund keine Angst hatte.
Ich suchte also, wie gesagt, die Wohnung meines Vaters auf. Ich begrüßte Jill, wie es sich gehört, ignorierte Urkunden, Schaukästen und Truhen voll großväterlicher Andenken und ging schnurstracks zum Schreibtisch meines Großvaters, den mein Vater seit Jahren benutzt.
Ich suchte nach irgendetwas, was die Verbindung zwischen Katja und dem Mann, der sie geschwängert hatte, bestätigen würde. Ich hatte nämlich endlich begriffen, dass Katja Wolff damals nur aus einem Grund so beharrlich geschwiegen haben kann: um jemanden zu schützen. Und diese Person muss mein Vater sein, der ihr Foto mehr als zwanzig Jahre lang aufgehoben hat.
Ich kam nicht weit bei meiner Suche.
In der Schublade, die ich aufzog, fand ich eine Akte mit Korrespondenz. Unter den Briefen - die meisten hatten irgendwie mit meiner beruflichen Laufbahn zu tun - war einer von einer Rechtsanwältin mit einer Adresse im Norden Londons. Ihre Mandantin Katja Veronika Wolff habe sie, die Rechtsanwältin Harriet Lewis, beauftragt, sich mit Richard Davies bezüglich der ihr geschuldeten Gelder in Verbindung zu setzen. Da die Bewährungsauflagen ihr verböten, persönlich mit der Familie Davies Kontakt aufzunehmen, bediene sich Miss Wolff dieses Wegs über die Anwältin, um die oben erwähnte Angelegenheit zu regeln. Mr. Davies möge doch so freundlich sein, Miss Lewis möglichst umgehend in ihrer Kanzlei anzurufen, damit diese Angelegenheit so rasch wie möglich und zur beiderseitigen Zufriedenheit geklärt werden könne. Miss Lewis verbleibe mit vorzüglicher Hochachtung undsoweiter undsofort.
Der Brief war keine zwei Monate alt. Er war klar in der Sprache und schien mir nicht jene Art versteckter Drohung zu enthalten, die man von einem Anwalt erwartet, der bereits an eine gerichtliche Auseinandersetzung denkt. Das Schreiben war direkt, freundlich und professionell. Und löste prompt eine Frage aus: Warum?
Während ich noch über mögliche Antworten nachdachte, kam mein Vater zurück. Ich hörte ihn die Wohnung betreten. Ich hörte seine und Jills Stimmen aus der Küche. Und wenig später hörte ich ihn durch den Flur zum Großvaterzimmer kommen.
Als er die Tür öffnete, saß ich immer noch vor dem Schreibtisch, die Korrespondenzakte aufgeschlagen vor mir auf dem Boden, den Brief von Harriet Lewis in der Hand. Ich bemühte mich nicht, irgendwie zu vertuschen, dass ich die Sachen meines Vaters durchgesehen hatte, und als er mit einem scharfen »Gideon, was tust du da?« durch das Zimmer auf mich zu kam, reichte ich ihm zur Antwort den Brief und fragte: »Was hat das zu bedeuten, Dad?«
Er überflog das Schreiben. Dann legte er es in die Akte zurück und diese wieder in die Schreibtischschublade.
»Sie wollte für die Zeit bezahlt werden, während der sie vor dem Prozess in Untersuchungshaft saß«, sagte er schließlich. »Der erste Monat Untersuchungshaft fiel noch in die Kündigungsfrist, die wir ihr eingeräumt hatten, und sie wollte das Geld für diesen Monat haben, und zwar mit Zinsen.«
»Nach so vielen Jahren?«
»Angebrachter wäre vielleicht die Frage: Nachdem sie Sonia ermordet hatte?« Er stieß die Schublade zu.
»Sie war sich ihrer Stellung bei uns sehr sicher, nicht wahr? Sie hat nie im Leben damit gerechnet, entlassen zu werden, richtig?«
»Was redest du da für einen Unsinn?«
»Hast du den Brief eigentlich beantwortet? Hast du die Anwältin angerufen?«
»Ich habe nicht die geringste Absicht, diese Zeit wieder aufleben zu lassen, Gideon.«
Ich wies mit einer Kopfbewegung auf die Schublade, in der der Brief lag. »Da möchte dir aber anscheinend jemand einen Strich durch die Rechnung machen. Und nicht nur das. Diese Person hat offenbar trotz allem, was sie dir angeblich angetan hat, überhaupt keine Skrupel, wieder in dein Leben zu treten, wenn auch über ihre Anwältin. Ich verstehe nicht, warum sie das tut, es sei denn, zwischen euch bestand mehr als ein Arbeitsverhältnis. Oder findest du nicht, dass ein Brief wie dieser ein Selbstvertrauen ausdrückt, das jemand in Katja Wolffs Lage sich dir gegenüber eigentlich nicht erlauben dürfte?«
»Worauf, zum Teufel, willst du hinaus?«
»Ich habe mich wieder erinnert, wie meine Mutter mit dir über Katja gesprochen hat. Mir ist wieder eingefallen, was für einen Verdacht sie hatte.«
»Nichts als Unsinn.«
»Sarah-Jane Beckett behauptet, James Pitchford hätte sich nicht für Katja interessiert. Sie behauptet, er hätte generell kein Interesse an Frauen gehabt. Damit ist er raus, Dad, und es bleiben du und Großvater, die beiden einzigen anderen Männer im Haus. Oder Raphael vielleicht, obwohl ich denke, du weißt so gut wie ich, wem Raphaels Zuneigung wirklich galt.«
»Was soll das heißen?«
»Sarah-Jane hat mir erzählt, dass Großvater ein Faible für Katja hatte und sich immer in ihrer Nähe aufhielt, wenn es ging. Aber irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass es bei Großvater zu mehr gereicht hat als zu Schwärmerei und ein bisschen Tätscheln. Und damit bleibst nur du.«
»Sarah-Jane Beckett war eine eifersüchtige Gans«, entgegnete mein Vater. »Sie hat James Pitchford von dem Tag an angepeilt, als er das erste Mal zu uns ins Haus kam. Dem Kerl brauchte nur eine einzige Silbe von den Lippen zu tropfen, und sie bildete sich ein, er wäre ihr Märchenprinz. Sie war eine Streberin, die unbedingt Karriere machen wollte, Gideon, und bevor Katja auf der Bildfläche erschien, gab es kein Hindernis auf dem Weg zu den gesellschaftlichen Höhen, die dieser lächerliche Pitchford für sie verkörperte. Ist doch klar, dass sie niemals zugeben würde, dass eine andere dort Erfolg hatte, wo sie scheiterte. Und du kennst dich ja wohl in der elementaren menschlichen Psychologie gut genug aus, um mal darüber nachzudenken.«
Es blieb mir gar nichts anderes übrig. Ich rief mir den Besuch in Cheltenham ins Gedächtnis, um das, was Sarah- Jane mir erzählt hatte, gegen das abzuwägen, was mein Vater jetzt behauptete. Hatten Sarah-Janes Bemerkungen über Katja Wolff so etwas wie rachsüchtige Genugtuung enthalten? Oder hatte sie sich lediglich bemüht, eine Frage zu beantworten, die ich ihr gestellt hatte? Hätte ich sie einzig mit dem Wunsch aufgesucht, die alte Verbindung zu ihr aufzufrischen, hätte sie sicher nicht aus eigenem Antrieb das Gespräch auf Katja oder jene Zeit damals gelenkt. Aber verlangte nicht das, was der Eifersucht zu Grunde lag, danach, dass das Objekt dieses negativen Gefühls bei jeder Gelegenheit schlecht gemacht und verhöhnt wurde? Wenn sie also tatsächlich von gemeiner Eifersucht getrieben wäre, hätte sie dann nicht von sich aus das Thema Katja Wolff zur Sprache gebracht? Und einmal abgesehen davon, was für Gefühle sie Katja Wolff vor zwanzig Jahren entgegengebracht hatte, weshalb sollte sie noch heute von diesen Gefühlen beherrscht sein? So, wie sie da in ihrem schicken kleinen Häuschen in Cheltenham saß, gut situierte Ehefrau, Mutter, Puppensammlerin, Malerin ordentlicher, wenn auch nicht genialer Aquarelle, hatte sie doch kaum Anlass, bei der Vergangenheit zu verweilen.
In meine Überlegungen hinein sagte mein Vater schroff: »Das geht jetzt weiß Gott lange genug, Gideon«, und setzte damit meinen Spekulationen ein abruptes Ende.
»Was meinst du?«, fragte ich.
»Dieses ganze Theater. Diese Nabelbeschau. Ich bin am Ende meiner Geduld. Du kommst jetzt mit. Wir werden den Stier endlich bei den Hörnern packen.«
Ich glaubte, er wollte mir etwas sagen, was ich noch nicht gehört hatte, darum folgte ich ihm. Ich erwartete, er werde mich in den Garten führen, um unter vier Augen mit mir zu sprechen, außer Hörweite von Jill, die zufrieden in der Küche zurückblieb und ihre Farbmuster auf dem Fensterbrett auslegte. Aber statt dessen ging er zur Straße hinaus und rannte beinahe zu seinem Wagen, der auf halbem Weg zwischen den Cornwall Gardens und der Gloucester Road geparkt war.
»Steig ein!«, befahl er mir, nachdem er aufgesperrt hatte. Und als ich zögert: »Verdammt noch mal, Gideon. Du sollst einsteigen!«
»Wohin fahren wir?«, fragte ich, als er den Motor anließ.
Er legte krachend den Rückwärtsgang ein, manövrierte den Wagen aus der Lücke und gab Gas. Wir schossen die Gloucester Road hinauf, direkt auf das schmiedeeiserne Tor am Eingang der Kensington Gardens zu.
»Dorthin, wo wir jetzt fahren, hätten wir gleich fahren sollen«, antwortete er.
In der Kensington Road hielt er sich in östlicher Richtung und raste, wie ich das noch nie bei ihm erlebt hatte, im Slalom zwischen Taxis und Bussen hindurch, und einmal, als in der Nähe der Albert Hall zwei Frauen über die Straße rannten, hupte er, als wollte er überhaupt nicht mehr aufhören. Scharf links an der Exhibition Road, und wir waren im Hyde Park. Auf dem South Carriage Drive legte er noch an Tempo zu und behielt die WahnSinnsgeschwindigkeit dann die ganze Park Lane hinunter bei Erst als wir Marble Arch hinter uns gelassen hatten, erkannte ich wohin es ging. Aber ich sagte nichts.
Als er den Wagen schließlich in der Tiefgarage am Portman Square abstellte, wo er immer parkte, wenn ich in der Nähe ein Konzert gab, fragte ich: »Was soll das, Dad?«, und versuchte, Geduld zu zeigen, obwohl ich Angst bekam.
»Du wirst jetzt endlich aufhören mit diesem Quatsch«, sagte er.
»Bist du Manns genug, mitzukommen, oder hast du mit den Nerven auch den Mut verloren?«
Er stieß seine Tür auf, stieg aus und blieb stehen, um auf mich zu warten. Mir wurde heiß und kalt bei dem Gedanken daran, was die nächsten Minuten mir vielleicht bringen würden. Aber ich stieg aus dem Wagen. Und Seite an Seite gingen wir die Wigmore Street hinauf zur Wigmore Hall.
Was war das für ein Gefühl?, fragen Sie mich. Was haben Sie dabei empfunden, Gideon?
Es war wie damals, am Abend des Konzerts. Nur war ich an dem Abend allein, weil ich direkt vom Chalcot Square gekommen war.
Ich gehe die Straße hinunter und habe keine Ahnung, was auf mich wartet. Ich bin nervös, aber nicht mehr als sonst vor einem Auftritt. Davon habe ich ja schon gesprochen, nicht wahr? Von meiner Nervosität. Merkwürdig, ich kann mich nicht erinnern, nervös gewesen zu sein, als das eigentlich völlig normal gewesen wäre: Bei meinem ersten öffentlichen Konzert, sechs Jahre alt war ich damals, oder bei den nachfolgenden Auftritten als Siebenjähriger, oder als ich Perlman vorspielte, als ich Menuhin traf… Was hatte ich damals, was ich heute nicht mehr habe? Wieso fiel es mir so leicht, die Dinge ganz einfach so zu nehmen, wie sie kamen? Irgendwann habe ich dieses naive Vertrauen verloren.
Dieser Abend also, an dem ich mich auf dem Weg zur Wigmore Hall befinde, unterscheidet sich nicht von den vielen anderen Abenden, die ich erlebt habe, und ich erwarte, dass die Nervosität vor dem Konzert vorbeigehen wird wie immer, sobald ich die Guarneri und den Bogen hebe.
Im Gehen vergegenwärtige ich mir noch einmal die Musik, spiele sie im Kopf durch, wie das meine Gewohnheit ist. Bei keiner Probe ist es mir gelungen, das Stück makellos zu spielen - ich habe es noch nie perfekt gespielt -, aber ich sage mir, dass das Körpergedächtnis mir über die Passagen hinweg helfen wird, die mir Schwierigkeiten gemacht haben.
Bestimmte Passagen?, fragen Sie. Jedes Mal dieselben?
Nein. Nein, das ist es ja, was beim Erzherzog-Trio immer schon so seltsam war. Ich weiß nie, an welcher Stelle ich stolpern werde. Es ist, als ginge ich über ein Minenfeld, und ganz gleich, wie langsam und vorsichtig ich mich über das gefährliche Terrain bewege, immer schaffe ich es, auf eine Mine zu treten.
Ich gehe also die Straße hinunter, nehme beiläufig das Lärmen der Leute in einem Pub wahr, an dem ich vorüberkomme, und bin in Gedanken bei meiner Musik. Ich suche sogar die Töne, obwohl ich die Guarneri in ihrem Kasten natürlich bei mir habe, und indem ich das tue, legt sich meine Nervosität ein wenig, was ich irrtümlich als Zeichen dafür nehme, dass alles gut gehen wird.
Ich bin zwanzig Minuten zu früh da. Kurz bevor ich auf dem Weg zum Künstlereingang hinter der Konzerthalle um die Ecke biege, sehe ich vor mir das Portal zur Halle, dessen Glasdach den Bürgersteig überspannt. Um diese Zeit sind dort nur Passanten auf dem Heimweg von der Arbeit zu sehen. Ich gehe die ersten zehn Takte des Allegro durch. Ich sage mir, wie schön und einfach es doch ist, mit zwei Freunden wie Beth und Sherill zu musizieren. Ich habe nicht die leiseste Vorahnung, was in diesen neunzig Minuten, die von meiner Karriere als Geiger noch übrig sind, geschehen wird. Ich bin, könnte man sagen, das unschuldige Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank, das die Gefahr nicht wittert und den Geruch des Bluts in der Luft nicht wahrnimmt.
All das erinnerte ich, als ich mich mit meinem Vater auf dem Weg zum Konzerthaus befand. Aber meine Beklommenheit hatte nichts wirklich Unmittelbares, weil ich schon wusste, wie sich die kommenden Minuten gestalten würden.
Wie an jenem anderen Abend bogen wir in die Welbeck Street ein. Seit wir aus der Tiefgarage herausgekommen waren, hatten wir kein Wort miteinander gesprochen. Ich legte das Schweigen meines Vaters als ein Zeichen grimmiger Entschlossenheit aus. Er sah in meinem wahrscheinlich Zustimmung zu seinem Plan, sicher nicht Resignation angesichts der Gewissheit des Ausgangs dieses Unternehmens.
Am Welbeck Way bogen wir noch einmal ab und gingen auf die zweiflügelige rote Tür zu, über der in ein steinernes Giebelfeld das Wort >Künstlereingang< gemeißelt war. Mein Vater, sagte ich mir, hatte seinen Plan nicht richtig durchdacht. Vorn im Vestibül an den Kartenschaltern waren wahrscheinlich Leute, aber der Künstlereingang würde um diese Tageszeit sicher geschlossen sein, und es würde auch niemand in der Nähe sein, um uns zu öffnen, wenn wir klopften. Wenn also mein Vater mich dazu zwingen wollte, den Abend meines Scheiterns noch einmal zu durchleben, dann hatte er die Sache falsch angefangen, und der Erfolg würde ihm auf jeden Fall versagt bleiben.
Gerade wollte ich ihn darauf aufmerksam machen, da konnte ich plötzlich nicht mehr weiter, Dr. Rose. Erst stockte ich, dann erstarrte ich, und nichts auf der Welt hätte mich dazu bewegen können, nur einen Schritt weiter zu gehen.
Mein Vater nahm mich beim Arm und sagte: »Davonlaufen hilft gar nichts, Gideon.«
Er glaubte natürlich, ich hätte Angst und wäre in meiner Angst nicht bereit, mich dem Risiko auszusetzen, das vermeintlich die Musik für mich repräsentierte. Aber nicht die Angst lahmte mich, sondern das, was ich vor mir sah, das Bild, das ich unglaublicherweise bis zu diesem Moment nicht hatte einordnen können, obwohl ich in der Vergangenheit unzählige Male in der Wigmore Hall gespielt hatte.
Ich sah die blaue Tür, Dr. Rose. Ja, die blaue Tür, deren Bild gelegentlich in meinen Erinnerungen und Träumen aufgeblitzt ist. Sie befindet sich am Ende einer Treppe mit zehn Stufen, gleich neben dem Künstlereingang der Wigmore Hall.
Sie stimmt in allen Einzelheiten mit der Tür überein, deren Bild ich gesehen habe: leuchtend blau, so blau wie ein Sommerhimmel in den Highlands. Sie hat zwei Sicherheitsschlösser und in der Mitte einen silbernen Ring. Über ihr ist ein fächerförmiges Oberlicht, unter dem zentral über der Tür eine Lampe angebracht ist. Die Treppe hat ein Geländer in der gleichen Farbe wie die Tür - in diesem klaren, leuchtenden, unvergesslichen Blau, das ich dennoch vergessen hatte.
Die Tür schien zu einer Wohnung zu führen. Neben ihr waren Fenster mit Vorhängen, und von meinem Standort unten im Welbeck Way aus konnte ich erkennen, dass hoch an den Wänden Bilder hingen. Eine Erregung packte mich wie seit Monaten - vielleicht seit Jahren - nicht mehr, als mir klar wurde, dass hinter dieser Tür möglicherweise die Erklärung für das lag, was mir widerfahren war, der Ursprung meiner Qual und die Erlösung.
Ich riss mich von meinem Vater los und rannte diese Treppe hinauf. Genau so, wie Sie mir rieten, es in der Phantasie zu tun, Dr. Rose, versuchte ich, die Tür zu öffnen, obwohl ich gleich sah, dass sie von außen nur mit einem Schlüssel zu öffnen war. Ich klopfte. Ich trommelte dagegen.
Und mit einem Schlag waren alle meine Hoffnungen dahin. Die Tür wurde von einer Chinesin geöffnet. Sie war so klein, dass ich im ersten Moment glaubte, ein Kind vor mir zu haben. Gleichzeitig hatte ich den Eindruck, sie trüge Handschuhe, bis ich erkannte, dass ihre Hände mit Mehl bestäubt waren. Ich hatte die Frau nie zuvor gesehen.
»Ja?«, fragte sie höflich. Als ich nichts sagte, schweifte ihr Blick zu meinem Vater hinunter, der am Fuß der Treppe auf mich wartete. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«, fragte sie und bewegte sich, während sie sprach, vorsichtig zur Seite, so dass sie hinter der Tür zu stehen kam.
Ich hatte keine Ahnung, wonach ich fragen sollte. Ich hatte keine Ahnung, was für eine Bedeutung ihre Wohnungstür für mich hatte. Ich hatte keine Ahnung, wieso ich mit solcher Zuversicht diese Treppe hinaufgelaufen war, so sicher, vor dem Ende meiner Schwierigkeiten zu stehen.
»Entschuldigen Sie vielmals«, sagte ich schließlich. »Ein Irrtum.« Und trotzdem, obwohl ich wusste, dass es sinnlos war, fügte ich hinzu: »Leben Sie allein hier?«
Natürlich war mir im selben Augenblick klar, dass das die falsche Frage war. Welche Frau, die auch nur einen Funken Verstand besitzt, wird einem unbekannten Mann an ihrer Tür verraten, ob sie allein lebt? Doch noch ehe sie auf meine Frage überhaupt antworten konnte, hörte ich von drinnen die Stimme eines Mannes. »Wer ist da, Sylvia?«, fragte er, und ich hatte meine Antwort.
Unmittelbar nach seiner Frage zog der Mann die Tür ein Stück weiter auf und schaute zu mir heraus. Ich kannte ihn so wenig wie Sylvia - ein massiger, kahlköpfiger Mensch mit Händen wie Wagenräder.
»Es tut mir Leid. Ich habe mich in der Adresse geirrt«, sagte ich.
»Zu wem wollten Sie denn?«, fragte er.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich.
Wie Sylvia blickte er von mir zu meinem Vater hinunter. »Na, so wie Sie eben an die Tür gedonnert haben, klang das aber anders«, sagte er.
»Ja. Ich dachte…« Was hatte ich überhaupt gedacht? Dass ich endlich Klarheit erhalten würde? Wahrscheinlich.
Aber am Welbeck Way gab es keine Klarheit für mich. Und als ich später, nachdem die blaue Tür sich wieder geschlossen hatte, zu meinem Vater sagte: »Das ist ein Teil der Antwort. Ich schwöre es!«, entgegnete er wütend: »Blödsinn! Du weißt ja nicht mal die gottverdammte Frage.«