Gideon

1. Oktober

Wohin führt uns das, Dr. Rose? Ich soll jetzt nicht nur meine Erinnerungen betrachten, sondern auch meine Träume, und ich frage mich, ob Sie wissen, was Sie tun. Ich soll einfach aufschreiben, was mir dazu einfällt, sagen Sie, und nicht darüber nachdenken, wo die Verbindungen sein könnten, wohin sie vielleicht führen oder wie ich mit ihrer Hilfe den Schlüssel zu dem verbotenen Zimmer in meiner Seele finden könnte. Um ehrlich zu sein, mir geht allmählich die Geduld aus.

Mein Vater sagt, in New York hätten Sie vor allem mit Patienten mit Essstörungen gearbeitet. Er hat sich gründlich über Sie informiert - ein paar Anrufe in den Staaten waren genug -, weil er keinen Fortschritt sieht und sich allmählich fragt, wie viel Zeit ich noch damit verschwenden will, in der Vergangenheit herumzuwühlen, anstatt mich auf die Gegenwart zu konzentrieren.

»Herrgott noch mal, sie hat noch nie mit Musikern gearbeitet«, sagte er, als ich heute mit ihm sprach, »Sie hat überhaupt keine Erfahrung mit Künstlern. Du kannst ihr weiterhin die Taschen füllen, ohne etwas dafür zu bekommen - denn so ist es doch, Gideon! -, oder du versuchst endlich etwas anderes!«

»Und was?«, fragte ich zurück.

»Wenn du so fest davon überzeugt bist, dass Psychotherapie die Lösung ist, dann such dir wenigstens einen Therapeuten, der das Problem direkt anpackt. Und das Problem ist die Geige, Gideon, nicht die Frage, was du von der Vergangenheit noch im Kopf hast und was nicht.«

Ich sagte: »Raphael hat es mir gesagt.«

»Was?«

»Dass Katja Wolff Sonia ertränkt hat.«

Daraufhin wurde es still, und da wir am Telefon miteinander sprachen und nicht von Angesicht zu Angesicht, konnte ich nur versuchen, mir das Gesicht meines Vaters vorzustellen. Ich vermute, es erstarrte vor Anspannung, und der Blick verdüsterte sich. Raphael hatte einen zwanzig Jahre alten Pakt gebrochen, als er mir die Wahrheit über Sonias Tod verriet. Es war klar, dass meinem Vater das nicht gefiel.

»Was ist damals passiert?«, fragte ich.

»Ich will darüber nicht sprechen.«

»Es ist der Grund, warum Mutter uns verlassen hat, nicht wahr?«

»Ich habe gesagt -«

»Nichts! Gar nichts hast du mir gesagt. Wenn dir wirklich so viel daran liegt, mir zu helfen, warum lässt du mich dann jetzt einfach hängen?«

»Weil diese Geschichte mit deinem Problem überhaupt nichts zu tun hat. Das alles wieder auszugraben, jedes Detail unter die Lupe zu nehmen und ad infinitum hin und her zu drehen, ist eine geniale Methode, den wahren Fragen auszuweichen, Gideon.«

»Für mich ist es die einzige Möglichkeit, die Sache anzugehen.«

»Blödsinn! Du lässt dich an der Nase herumführen wie ein Tanzbär.«

»Das ist nun wirklich nicht fair.«

»Ach ja? Was soll ich denn sagen! Glaubst du, ich finde es fair, einfach auf die Seite geschoben zu werden und untätig zusehen zu müssen, wie mein Sohn sein Leben wegwirft, erleben zu müssen, wie er beim ersten kleinen Problem in seiner Karriere völlig aus dem Gleichgewicht gerät, nachdem ich fünfundzwanzig Jahre meines Lebens dafür geopfert habe, ihm zu helfen, der große Musiker zu werden, der er immer werden wollte? Glaubst du, ich finde es fair, wenn die Liebe und das Vertrauen, die mein Sohn mir dank der einzigartigen Beziehung zwischen uns jahrelang entgegenbrachte, nun an eine beliebige Psychotherapeutin verschleudert wird, die als Empfehlung nicht mehr vorzuweisen hat, als dass sie es geschafft hat, den Machu Picchu aus eigener Kraft zu besteigen.«

»Du lieber Gott! Du hast offensichtlich gründlich geschnüffelt!«

»Gründlich genug, um dir sagen zu können, dass du deine Zeit verschwendest. Verdammt noch mal, Gideon - «, aber seine Stimme war nicht hart, als er das sagte: »Hast du's auch nur versucht?«

Zu spielen, meinte er natürlich. Das war das Einzige, was ihn interessierte. Es war, als wäre ich für ihn nur noch eine Musik produzierende Maschine.

Als ich schwieg, erklärte er nicht ohne eine gewisse Berechtigung: »Siehst du denn nicht, dass das vielleicht nichts weiter war als ein vorübergehender Blackout? Aber weil es in deiner Karriere bisher nie auch nur die kleinste Panne gegeben hat, bist du sofort in Panik geraten. Nimm die Geige zur Hand, um Gottes willen. Tu es für dich, bevor es zu spät ist.«

»Zu spät wofür?«

»Um die Angst zu überwinden. Lass dich nicht von ihr überwältigen, Gideon. Halte nicht an ihr fest.«

Das alles klang nicht unlogisch. Im Gegenteil, es schien einen Weg zu weisen, der vernünftig und praktisch war. Vielleicht machte ich wirklich aus einer Mücke einen Elefanten und versteckte mich in meinem gekränkten beruflichen Stolz hinter einem eingebildeten »seelischen Leiden«.

Ich nahm also die Guarneri zur Hand, Dr. Rose. Ich hob sie zum Kinn. Ich erlaubte mir, vom Blatt zu spielen, und nahm mir allen Druck, indem ich ein Violinkonzert von Mendelssohn wählte, das ich schon tausendmal gespielt hatte. Ich spürte meinen Körper, wie Miss Orr befohlen hätte. Ich konnte ihre Stimme hören: »Oberkörper gerade, Schultern locker. Den Aufstrich mit dem ganzen Arm. Nur die Fingerspitzen bewegen sich.«

Ich hörte alles, aber ich konnte es nicht umsetzen. Der Bogen kratzte über die Saiten, und meine Finger am Griffbrett waren plump und unsensibel.

Nerven, dachte ich, nichts als die Nerven.

Ich versuchte es ein zweites Mal. Es war noch schlimmer. Was ich hervorbrachte, war Geräusch, Dr. Rose, mit Musik hatte es nichts zu tun. Und gar Mendelssohn spielen - ebenso gut hätte ich versuchen können, vom Musikzimmer aus zum Mond zu fliegen. Ein Ding der Unmöglichkeit!

Wie war es denn, den Versuch zu wagen?, fragen Sie.

Wie war es, den Sarg über Tim Freeman zu schließen?, entgegne ich, über Ihrem Ehemann und Gefährten und was er Ihnen sonst noch war, Dr. Rose. Wie war es, als Ihr Mann starb? Ich sehe hier dem Tod ins Auge, und wenn es eine Wiederauferstehung gibt, dann muss ich wissen, wie sie ausgerechnet dadurch bewerkstelligt werden soll, dass ich in der Vergangenheit herumstochere und meine verdammten Träume aufschreibe. Verraten Sie mir das, bitte!

2. Oktober

Ich habe es meinem Vater nicht gesagt.

Warum nicht?, fragen Sie.

Es wäre mir unerträglich gewesen.

Was wäre Ihnen unerträglich gewesen?

Seine Enttäuschung zu sehen, vermute ich. Seine Reaktion auf mein Versagen. Sein ganzes Leben dreht sich um mich, und mein ganzes Leben dreht sich um mein Spiel. Im Augenblick rasen wir beide dem Abgrund entgegen, und ich finde, es ist eine Gnade, wenn es nur einer von uns weiß.

Als ich die Geige wieder in den Kasten legte, stand mein Entschluss fest. Ich verließ das Haus.

Aber auf der Vortreppe stieß ich auf Libby. Sie saß da, ans Geländer gelehnt, und hatte einen aufgerissenen Beutel Marshmallows auf dem Schoß. Sie hatte offenbar noch keine Marshmallows gegessen, aber ihrer Miene nach zu urteilen, schien sie gute Lust dazu zu haben.

Ich hätte gern gewusst, wie lange sie schon da saß. Mit ihren ersten Worten sagte sie es mir.

»Ich hab dich gehört.« Sie stand auf, sah zu dem Beutel mit den Marshmallows hinunter und schob ihn dann unter den Latz ihrer Hose. »So ist das also, hm? Darum spielst du nicht mehr. Warum hast du mir nie was gesagt? Ich dachte, wir wären Freunde.«

»Sind wir doch!«

»Ach ja? Freunde helfen einander.«

»In diesem Fall kannst du mir nicht helfen. Ich weiß ja selbst nicht, was los ist, Libby.«

Sie starrte niedergeschlagen auf die Straße. »Ach, Scheiße! Was soll das alles, Gid? Wir ziehen miteinander los und lassen deine Drachen steigen, wir sausen in deinem Segelflieger durch die Luft, wir schlafen in einem Bett. Und da kannst du nicht mal mit mir reden?«

Das Gespräch war eine Reprise unzähliger ähnlicher Diskussionen mit Beth, allerdings mit einer Themaverschiebung. Bei Beth hatte es immer geheißen, Gideon, wenn wir nicht einmal mehr miteinander schlafen…

In der Beziehung mit Libby war das noch nicht zum Thema geworden, weil sie noch nicht weit genug gediehen war, und darüber war ich froh. Ich ließ Libby ausreden, ohne etwas darauf zu sagen. Als sie merkte, dass sie keine Antwort bekommen würde, lief sie mir zum Auto nach. »Hey!«, rief sie. »Warte doch mal. Ich rede mit dir. Warte, verdammt noch mal!« Sie packte mich beim Arm.

»Ich muss los«, sagte ich.

»Wohin?«

»Victoria.«

»Wozu?«

»Libby -«

»Na gut.« Und als ich den Wagen aufgesperrt hatte, stieg sie einfach ein. »Dann komme ich eben mit.«

Um sie loszuwerden, hätte ich sie eigenhändig aus dem Wagen zerren müssen. Die entschlossene Miene und der trotzige Blick verrieten, dass sie zum Widerstand bereit war. Für eine Rangelei fehlten mir die Energie und die Lust, ich startete deshalb ohne ein Wort den Wagen, und wir fuhren zum Victoria-Bahnhof.

Die Räume der Press Association sind gleich um die Ecke vom Bahnhof in der Vauxhall Bridge Road. Dorthin fuhr ich. Unterwegs zog Libby die Marshmallows heraus und begann zu essen.

»Ich dachte, du machst gerade die >Kein-Weiß-Diät<«, bemerkte ich.

»Die Dinger sind rosa und grün, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte.«

»Aber du hast doch mal gesagt, alles, was künstlich gefärbt ist, zählt als weißes Nahrungsmittel.«

»Ich rede viel, wenn der Tag lang ist.« Sie knallte sich den Beutel mit Marshmallows auf die Oberschenkel und schien einen Entschluss zu fassen. »Ich möchte wissen, wie lange«, sagte sie. »Und ich würde dir raten, mir die Wahrheit zu sagen.«

»Wie lang was?«

»Seit wann spielst du schon nicht mehr? Oder spielst so wie eben, mein ich. Seit wann?« Und mit einer Sprunghaftigkeit, die nicht ganz untypisch für sie war, fügte sie hinzu: »Okay, lass nur. Ich hätt's viel früher merken müssen. Aber Rock, dieser Mistkerl - daran ist nur er schuld.«

»Also, man kann ja wohl kaum deinem Mann -«

»Ex, bitte.«

»Noch nicht.«

»Aber nah dran.«

»Na gut. Aber man kann wohl kaum ihm die Schuld daran geben -«

»Auch wenn er noch so widerlich ist.«

»- dass ich im Moment Schwierigkeiten habe.«

»Davon red ich doch überhaupt nicht«, entgegnete sie mit einem gereizten Unterton. »Es gibt außer dir noch andere Menschen auf der Welt, Gideon. Ich hab von mir geredet. Ich hätte viel früher gecheckt, was mit dir los ist, wenn ich nicht so auf Rock fixiert gewesen wäre -«

Doch ich hörte kaum, was sie über ihren Mann sagte. Mich beschäftigte der Satz, den sie davor gesagt hatte:… außer dir noch andere Menschen auf der Welt, Gideon. Sie klangen wie ein Echo dessen, was Sarah-Jane Beckett vor so vielen Jahren zu mir gesagt hatte: Du bist nicht mehr der Nabel der Welt. Und ich sah nicht Libby, die neben mir im Auto saß, sondern ich sah Sarah-Jane Beckett. Ich sehe sie jetzt noch, wie sie sich zu mir herunterbeugt und mich mit zusammengekniffenen Augen mustert. Das ganze Gesicht ist verzerrt, die Augen sind Schlitze, hinter kurzen Wimpern verborgen.

Was meint sie, wenn sie das sagt?, fragen Sie.

Ja, das eben ist die Frage.

Ich war ungezogen in der Zeit, als ich mich unter ihrer Obhut befand. Es blieb ihr überlassen, mich angemessen zu bestrafen, und sie hat mir eine gründliche Standpauke gehalten, wie das ihre Art ist. In Großvaters Schrank steht ein Holzkasten mit Schuhputzzeug, und über den habe ich mich hergemacht. Im ganzen oberen Korridor habe ich die Wände mit brauner und schwarzer Schuhcreme beschmiert. So was Langweiliges, dachte ich die ganze Zeit, während ich die Tapete ruinierte und mir die Hände an den Vorhängen abwischte. Aber in Wirklichkeit geht es nicht um Langeweile, und Sarah-Jane weiß das. Ich habe es nicht aus Langeweile getan.

Wissen Sie denn, warum Sie es getan haben?, fragen Sie.

Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher. Aber ich glaube, ich bin wütend und habe Angst. Das ist sehr deutlich, ja, diese starke Angst.

In Ihren Augen blitzt Interesse auf, Dr. Rose. Ah, jetzt geht es vorwärts. Wut und Angst. Emotionen. Leidenschaft, Etwas, womit Sie arbeiten können.

Aber ich habe kaum mehr dazu zu sagen. Nur dies: Als Libby mir das von den anderen Menschen auf der Welt vorhielt, bekam ich Angst. Ganz eindeutig. Und diese Angst hatte mit der anderen Angst, vielleicht nie wieder auf meiner Geige spielen zu können, nichts zu tun. Sie war klar von ihr getrennt und hatte auch keinen Bezug zu dem Gespräch, das Libby und ich führten. Trotzdem überfiel sie mich mit einer solchen Macht, dass ich unwillkürlich »Nicht!« rief. Dabei war es die ganze Zeit über gar nicht Libby, mit der ich sprach.

Und wovor haben Sie Angst?, fragen Sie.

Das dürfte doch wohl offensichtlich sein.

3. Oktober, 15.30 Uhr

Wir wurden ins Archiv hinaufgeschickt. Das ist ein riesiges Lager mit endlosen Rollregalen voller Zeitungsausschnitte, die in großen braunen Umschlägen gesammelt und nach Sachgebieten katalogisiert sind. Kennen Sie das? Da sitzen professionelle Leser, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als sämtliche größeren Zeitungen zu durchforsten und Artikel auszuschneiden und zu kennzeichnen, die dann der Archivbibliothek einverleibt werden. In einer Ecke gibt es einen Tisch und ein Kopiergerät für Leute, die hier irgendetwas recherchieren wollen.

Ich erklärte einem schlecht gekleideten jungen Mann mit langen Haaren, was ich suchte.

»Sie hätten vorher anrufen sollen«, sagte er. »Das wird gut zwanzig Minuten dauern. Die Sachen liegen nicht hier oben.«

Ich sagte, ich würde warten, aber als der junge Mann gegangen war, um sich um meinen Auftrag zu kümmern, wurde mir bewusst, wie nervös ich war. Ich konnte unmöglich bleiben. Das Atmen bereitete mir Mühe, und mir war so heiß, dass ich schwitzte wie Raphael. Ich erklärte Libby, ich brauche frische Luft. Sie ging mit mir zur Vauxhall Bridge Road hinaus. Aber auch draußen konnte ich kaum atmen.

»Das ist der Verkehr«, sagte ich zu Libby. »Die Abgase.« Ich keuchte wie ein ausgepumpter Langstreckenläufer. Und dann meldeten sich auch noch Magen und Darm mit solcher Heftigkeit, dass ich eine demütigende Entladung mitten auf der Straße fürchtete.

»Du siehst aus wie frisch gekotzt, Gid«, sagte Libby.

»Nein, nein. Es geht mir gut«, versicherte ich.

»Wenn's dir gut geht, bin ich die Jungfrau Maria«, entgegnete sie. »Komm, weg hier von der Straße.«

Sie führte mich in ein Café und suchte uns einen Tisch. »Du rührst dich jetzt nicht von der Stelle«, sagte sie zu mir, nachdem sie mich auf einen Stuhl gedrückt hatte, »außer dir wird schlecht oder so was. Dann steckst du den Kopf zwischen die Knie, okay?«

Sie ging zum Tresen und kehrte mit einem Orangensaft zurück.

»Wann hast du das letzte Mal was gegessen?«, fragte sie.

Und ich - Lügner und Feigling - ließ ihr ihren Glauben. »Ich weiß nicht mehr genau«, antwortete ich und kippte den Orangensaft hinunter, als wäre er ein Zaubertrank, der mir alles wiedergeben könnte, was ich bisher verloren habe.

Verloren?, wiederholen Sie, stets hellwach und aufmerksam.

Ja. Was ich verloren habe: die Musik, Beth, meine Mutter, meine Kindheit und Erinnerungen, die für andere Selbstverständlichkeiten sind.

Und Sonia?, fragen Sie. Sonia auch? Würden Sie sie zurückhaben wollen, wenn das möglich wäre, Gideon?

Ja, natürlich. Aber eine andere Sonia, antworte ich und verstumme unter der plötzlich hereinbrechenden Flut des Bedauerns über jene Besonderheit meiner Schwester, die ich völlig vergessen hatte.

3. Oktober, 18 Uhr

Als sich meine rebellischen Eingeweide beruhigt hatten und ich wieder normal atmen konnte, kehrten Libby und ich ins Zeitungsarchiv zurück. Dort erwarteten uns fünf dicke braune Umschläge, voll gestopft mit Presseausschnitten aus einer Zeit, die mehr als zwanzig Jahre zurücklag: eselsohrig, muffig riechend, vergilbt.

Während Libby sich einen Stuhl holte, um sich zu mir an den Tisch setzen zu können, griff ich nach dem ersten Umschlag und öffnete ihn.

Mörderisches Kindermädchen verurteilt, sprang es mir entgegen und vermittelte zugleich die Gewissheit, dass Schlagzeilen immer Schlagzeilen bleiben werden. Begleitet wurde der Titel von einem Bild, das mir die Mörderin meiner Schwester zeigte. Es schien gleich zu Beginn des Verfahrens aufgenommen worden zu sein, denn nicht in einem der Gerichtssäle des Old Bailey oder im Gefängnis war Katja Wolff von der Kamera eingefangen worden, sondern in der Earl's Court Road vor dem Polizeirevier Kensington, das sie gerade in Begleitung eines untersetzten Mannes in schlecht sitzendem Anzug verließ. Unmittelbar hinter ihm, vom Türpfosten teilweise verdeckt, befand sich eine Gestalt, die ich sicherlich nicht erkannt hätte, wären mir nicht die Statur und die allgemeine Erscheinung aus beinahe fünfundzwanzig Jahren täglicher Geigenstunden vertraut gewesen: Raphael Robson. Ich nahm die Anwesenheit der beiden Männer - der Untersetzte war vermutlich Katja Wolffs Anwalt - wahr, aber meine Aufmerksamkeit galt zunächst einzig Katja Wolff.

Sie hatte sich sehr verändert seit dem Tag, an dem das sonnige Foto im Garten aufgenommen worden war. Das Foto war gestellt gewesen; dieser Schnappschuss hingegen war offensichtlich in einem Moment der Hektik gemacht, wie er entsteht, wenn eine Person des öffentlichen Interesses aus einem Gebäude ins Freie tritt und, von Freunden oder Personal umgeben, zum wartenden Wagen eilt, in dem sie schnell verschwindet. Das Bild zeigte deutlich, dass das öffentliche Interesse - zumindest dieser Art - Katja Wolff nicht gut getan hatte. Sie wirkte abgemagert und krank. Auf dem Gartenfoto hatte sie offen in die Kamera gelächelt; hier versuchte sie, ihr Gesicht zu verstecken. Der Fotograf musste ihr sehr nahe gekommen sein, denn das Bild war nicht körnig, wie man das bei einem Telefoto erwarten würde; im Gegenteil, jedes Detail des Gesichts der jungen Frau war durch die Nähe der Kamera gnadenlos scharf gezeichnet.

Die Lippen waren so fest zusammengepresst, dass sie schmal wirkten. Schatten lagen wie dunkle Halbmonde unter den Augen. Die klar geschnittenen Züge hatten in dem abgemagerten Gesicht eine hässliche Schärfe bekommen. Die Arme waren streichholzdünn, und aus dem V-Ausschnitt der Bluse traten spitz die Schlüsselbeinknochen hervor.

Dem Artikel entnahm ich, dass der zuständige Richter, ein Mann namens St. John Wilkes, Katja Wolff - wie vom Gesetz bei Mord gefordert - zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt hatte, wobei er seinen Spruch durch die ungewöhnliche Empfehlung an das Innenministerium ergänzt hatte, man möge die Verurteilte keinesfalls weniger als zwanzig Jahre verbüßen lassen. Dem Berichterstatter zufolge, der im Gerichtssaal gewesen war, war die Angeklagte bei der Urteilsverkündung aufgesprungen und hatte angeblich laut gerufen: »Lassen Sie mich erklären, wie es wirklich war.« Aber ihr Angebot, nun endlich zu sprechen - sie hatte während der Ermittlungen und den ganzen Prozess hindurch hartnäckig geschwiegen -, war zu spät gekommen. Es hatte allgemein den Verdacht erregt, sie hoffe, von plötzlicher Panik getrieben, auf einen Handel mit der Kronanwaltschaft.

»Wir wissen, wie es war«, erklärte Bertram Cresswell- White, Vertreter der Kronanwaltschaft, später vor der Presse. »Wir wissen es von der Polizei und der Gerichtsmedizin, wir wissen es von der Familie und Miss Wolffs eigenen Freunden. Sie war in einer Lebenssituation gefangen, mit der sie nicht zurechtkam, sie war wütend, weil sie sich ungerecht behandelt fühlte, und als sie eine Gelegenheit sah, sich dieses Kindes zu entledigen, das ohnehin nicht gesund war, drückte sie mit böswilligem Vorsatz und aus Rachegefühlen gegenüber der Familie Davies das Kind in der Badewanne unter Wasser und hielt es trotz seiner kläglichen Versuche, sich zu wehren, dort so lange fest, bis es ertrank. Danach schlug sie Alarm. So war es. So ist es nachgewiesen. Und für diese Tat hat Richter Wilkes die vom Gesetzgeber geforderte Strafe verhängt.«

»Sie muss für zwanzig Jahre ins Gefängnis, Dad.« Ja. Ja. Das sagt mein Vater zu meinem Großvater, als er ins Zimmer tritt, wo wir auf Nachricht warten: Großvater, Großmutter und ich. Wir sitzen nebeneinander auf dem Sofa im Wohnzimmer, ich in der Mitte. Und ja, meine Mutter ist auch da. Sie weint wie immer, so kommt es mir vor, nicht erst seit Sonias Tod, sondern seit ihrer Geburt.

Die Geburt eines Kindes sollte ein freudiges Ereignis sein; aber an Sonias Geburt kann wenig Erfreuliches gewesen sein. Das begriff ich endlich, als ich den ersten Zeitungsausschnitt auf die Seite gelegt hatte und mir den zweiten ansah - eine Fortsetzung der Titelgeschichte -, der darunter lag. Hier stieß ich auf ein Bild des Opfers und blickte mit tiefer Beschämung dem ins Auge, was ich jahrzehntelang vergessen oder verdrängt hatte.

Libby, die inzwischen einen Stuhl gefunden hatte und ihn hinter sich herziehend wieder ins Archiv gekommen war, sah es sofort, als sie sich zu mir setzte. Sie wusste nicht, dass das Bild meine Schwester zeigte, denn ich hatte ihr nicht gesagt, was ich hier im Archiv suchte. Sie hatte mich nach Zeitungsausschnitten über den Wolff-Prozess fragen hören, aber mehr auch nicht.

Sie setzte sich also mit an den Tisch, drehte sich halb zu mir her und griff mit den Worten: »Na, was hast du aufgestöbert?«, nach dem Bild. Sobald ihr Blick darauf fiel, sagte sie, »Oh! Die Kleine leidet am Downsyndrom, nicht? Wer ist sie?«

»Meine Schwester.«

»Ehrlich? Aber du hast nie was davon gesagt…« Sie blickte hoch und sah mich an. Vorsichtig, vermutlich weil sie mir nicht zu nahe treten wollte, sagte sie: »Hast du dich - geschämt oder so was? Ihretwegen, meine ich. Mensch, Gid, das ist doch keine Schande! Das Downsyndrom, meine ich.«

»>Oder so was<«, erwiderte ich. »Absolut erbärmlich. Wirklich schlimm.«

»Wieso? Was hast du denn getan?«

»Ich habe sie einfach vergessen. Das alles hier.« Ich wies auf die Unterlagen. »Ich konnte mich an nichts erinnern. Ich war acht Jahre alt, jemand ertränkte meine Schwester-«

»Ertränkte deine -«

Ich packte sie am Arm, um sie zum Schweigen zu bringen. Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass das ganze Personal im Archiv erfährt, wer ich bin. Glauben Sie mir, ich habe mich auch so schon genug geschämt.

»Schau sie dir an«, sagte ich zu Libby. »Schau es dir selber an. Und ich hatte keine Erinnerung an sie, Libby. Ich habe mich an nichts erinnert.«

»Aber warum denn nicht?«, fragte sie.

Weil ich nicht wollte.

3. Oktober, 22.30 Uhr

Ich habe eigentlich erwartet, dass Sie sich mit Triumphgeheul auf dieses Bekenntnis stürzen würden, Dr. Rose, aber Sie hüllen sich in Schweigen. Sie begnügen sich damit, mich zu beobachten. Aber wissen Sie, auch wenn Sie sich darin geübt haben, ihre Gesichtszüge zu beherrschen, um nichts zu verraten, besitzen Sie doch keine Macht über das Licht, das in Ihren Augen aufzublitzen pflegt. Nur einen Wimpernschlag lang sehe ich es aufleuchten - dieses Fünkchen -, und es verrät mir, dass Sie wünschen, ich möge hören, was ich eben gesagt habe.

Ich hatte keine Erinnerung an meine Schwester, weil ich mich nicht erinnern wollte. So muss es sein. Wir wollen uns nicht erinnern, wir ziehen es vor zu vergessen. Aber ist es nicht in Wahrheit so, dass wir uns manchmal einfach nicht erinnern müssen und dass uns manchmal das Vergessen befohlen wird.

Trotzdem, eines kann ich nicht verstehen. Die so genannten Episoden meines Großvaters waren das große Familiengeheimnis, und doch habe ich sie klar im Gedächtnis, und ich weiß noch genau, was sie verursacht hat und dass meine Großmutter jedes Mal Musik auflegte, weil sie hoffte, sie damit verhindern zu können. Ich weiß noch, wie diese Episoden abgelaufen sind, von was für einem Chaos sie begleitet waren, und wie meine Großmutter weinte, wenn die Leute von der Anstalt kamen, um meinen Großvater wegzubringen. Aber gesprochen wurde bei uns nie über diese Episoden. Wieso also erinnere ich mich so deutlich an sie - und an meinen Großvater -, aber nicht an meine Schwester?

Ihr Großvater, erklären Sie mir, hat in Ihrem Leben eine weit größere Bedeutung als Ihre Schwester. Er spielt in der Geschichte Ihrer musikalischen Entwicklung eine der Hauptrollen, selbst wenn ein Teil dieser Geschichte Erfindung ist. Um die Erinnerung an ihn zu verdrängen, wie Sie sie offenbar an Sonia verdrängt haben…

Verdrängt? Wieso verdrängt? Meinen Sie auch, dass ich mich an meine Schwester nicht erinnern wollte, Dr. Rose?

Verdrängung ist ein unbewusster Vorgang, erklären Sie mir. Ihre Stimme ist leise, Ihr Ton ruhig und einfühlsam. Sie geschieht bei Ereignissen psychischer oder physischer Natur, die so überwältigend sind, dass wir sie nicht verarbeiten können, Gideon. Wenn wir als Kinder etwas erleben, das heftige Angst auslöst oder das wir nicht verstehen können - Geschlechtsverkehr zwischen den Eltern ist ein gutes Beispiel -, stoßen wir es aus unserem Bewusstsein aus, weil wir in diesem Alter nicht über das Instrumentarium verfügen, um uns mit dem Erlebten auseinander zu setzen und es so zu verarbeiten, dass wir es integrieren können. Auch bei Erwachsenen kommt das vor, beispielsweise bei Menschen, die einen schweren Unfall erleiden. Sie können sich hinterher nicht an das Ereignis erinnern, weil es so furchtbar war. Wir fassen nicht bewusst den Entschluss, etwas aus unserem Bewusstsein zu verdrängen, Gideon, wir tun es einfach. Mithilfe der Verdrängung schützen wir uns vor etwas, mit dem wir uns noch nicht auseinander setzen können.

Und was ist an meiner Schwester so schrecklich, dass ich ihm nicht ins Auge sehen kann, Dr. Rose? Denn erinnert habe ich mich ja an sie. Als ich über meine Mutter schrieb, kehrte die Erinnerung an Sonia zurück. Nur ein Detail habe ich ausgeblendet. Bis zu dem Moment, als ich das Foto sah, wusste ich nicht, dass sie am Downsyndrom litt.

Folglich spielt wohl ihre Krankheit eine wichtige Rolle in dieser ganzen unglückseligen Situation? Denn daran habe ich mich nicht von selbst erinnert. Ich musste mit der Nase darauf gestoßen werden.

Sie haben sich auch an Katja Wolff nicht von selbst erinnert, sagen Sie.

Also sind die Krankheit meiner Schwester und Katja Wolff miteinander verknüpft, richtig, Dr. Rose? Ja, so muss es sein.

5. Oktober

Nachdem ich das Foto meiner Schwester gesehen und Libby ausgesprochen hatte, was ich selbst nicht über die Lippen brachte, hielt ich es im Archiv nicht mehr aus. Ich wollte bleiben, denn ich hatte ja fünf Umschläge vor mir, die voll waren mit Informationen zu den Ereignissen, von denen meine Familie vor zwanzig Jahren überrollt worden war. Zweifellos hätte ich in diesen Umschlägen auch die Namen sämtlicher Personen gefunden, die an den polizeilichen Ermittlungen oder dem nachfolgenden Gerichtsverfahren beteiligt waren. Aber ich war nicht fähig weiterzulesen, nachdem ich dieses Foto von Sonia gesehen hatte, das es mir ermöglichte, mir meine kleine Schwester unter Wasser vorzustellen: wie der runde Kopf sich unablässig hin und her bewegt und wie sie mit diesen bemerkenswerten Augen, die selbst auf einem Zeitungsfoto erkennen lassen, dass sie kein normales Kind war, schaut und schaut und nicht aufhören kann, den Menschen anzustarren, der sie töten will. Ein Mensch, dem sie vertraut, den sie liebt und den sie braucht, drückt sie unter Wasser, und sie kann das nicht verstehen. Sie ist erst zwei Jahre alt, und selbst wenn sie ein normales Kind gewesen wäre, hätte sie nicht verstanden, was ihr geschah. Aber sie ist nicht normal. Sie ist nicht als normales Kind zur Welt gekommen. Nichts in den zwei kurzen Jahren ihres Lebens ist je normal gewesen.

Krankheit, die zur Krise führt. Genauso ist es, Dr. Rose. Mit meiner Schwester stürzen wir von einer Krise in die andere. Mutter weint morgens bei der Messe, und Schwester Cecilia weiß, dass sie Hilfe braucht. Sie braucht nicht nur seelischen Beistand, der ihr hilft, damit fertig zu werden, dass sie ein Kind zur Welt gebracht hat, das anders ist, nicht vollkommen, ungewöhnlich oder wie immer Sie es nennen wollen, sie braucht auch praktische Hilfe bei der Betreuung dieses Kindes. Denn das Leben muss weitergehen, auch wenn es ein Wunderkind zu fördern und ein krankes Kind zu betreuen gilt: Großmutter muss sich wie immer um Großvater kümmern, mein Vater muss seinen zwei Jobs nachgehen, und wenn ich weiterhin Geige spielen will, muss auch meine Mutter arbeiten.

Das Naheliegendste unter diesen Umständen wäre es, meine musikalische Ausbildung abzubrechen, Raphael Robson und Sarah-Jane Beckett zu entlassen und mich in eine öffentliche Schule zu schicken. Die Summe, die sich mit diesen einfachen und vernünftigen Maßnahmen einsparen ließe, würde es meiner Mutter erlauben, zu Hause zu bleiben, sich um Sonia zu kümmern und diese während der immer wieder auftretenden gesundheitlichen Krisen zu pflegen.

Aber ein solcher Schritt ist für alle aus der Familie undenkbar. Ich habe mit meinen sechseinhalb Jahren bereits meinen ersten öffentlichen Auftritt hinter mir, und es wäre in den Augen aller ein ungeheuerliches Banausentum, der Welt zu verweigern, was ich ihr zu geben habe. Aber zweifellos wurde eine solche Maßnahme zwischen meinen Eltern und meinen Großeltern erörtert.

Ja, ich erinnere mich. Meine Mutter und mein Vater führen im Wohnzimmer eine Diskussion, und mein Großvater mischt sich lautstark ein. »Der Junge ist ein Genie, verdammt noch mal! Ein Genie!«, brüllt er. Großmutter ist auch da. Ich höre ihr ängstliches »Jack, Jack!« und sehe sie vor mir, wie sie zur Stereoanlage läuft und Paganini auflegt, um das Wüten meines Großvaters zu besänftigen. »Er gibt bereits Konzerte! Wenn ihr seine Karriere abbrechen wollt, dann nur über meine Leiche!«, tobt Großvater.

»Tu mir also den Gefallen und triff wenigstens einmal in deinem Leben - nur ein einziges Mal, Dick - die richtige Entscheidung.«

Raphael und Sarah-Jane sind an der Debatte nicht beteiligt. Es geht um ihre Zukunft und um meine, aber sie werden ebenso wenig um ihre Meinung gefragt wie ich. Der Disput setzt sich über Stunden und Tage fort. Meine Mutter ist noch von Schwangerschaft und Entbindung geschwächt, und die schwierige Situation wird durch Sonias gesundheitliche Probleme verschärft.

Das Baby ist beim Arzt - im Krankenhaus - in der Notaufnahme. Wir alle befinden uns in einem Zustand ständiger Anspannung und ängstlicher Beklemmung. Die Nerven liegen blank. Immer steht die Frage im Raum: Was wird als Nächstes geschehen?

Krisen, nichts als Krisen. Ständig Unruhe und Tumult. Manchmal scheint kein Mensch zu Hause zu sein außer Raphael und mir, oder Sarah-Jane und mir. Alle anderen sind bei Sonia.

Warum?, fragen Sie. Was waren das für Krisen, die Sonia durchmachte?

Ich weiß nur noch: Er hat gesagt, er erwartet uns im Krankenhaus. Gideon, geh in dein Zimmer. Und ich erinnere mich an Sonias dünnes Weinen, das allmählich leiser wird, als sie sie mitten in der Nacht die Treppe hinuntertragen und mit ihr aus dem Haus eilen.

Ich gehe in ihr Zimmer, es liegt neben meinem. Das Kinderzimmer. Ein Licht brennt, und neben ihrem Bettchen steht irgendeine Maschine, an die sie während des Schlafs angeschlossen wird. Auf der Kommode steht eine Nachtlampe mit einem bunten Schirm, der sich dreht; dieselbe Lampe, die sich neben meinem Bettchen gedreht hat, demselben Bettchen, in dem Sonia jetzt schläft. Ich sehe die Kerben in den Gitterstäben, die meine Zähne hinterlassen haben, und ich sehe die Abziehbilder mit den Arche-Noah-Motiven, die ich immer angestarrt habe. Und obwohl ich schon sechseinhalb bin, klettere ich in das Gitterbett, rolle mich zusammen und warte, was geschehen wird.

Und was geschieht?

Nach einer Weile kommen sie wieder nach Hause, wie immer, mit Medikamenten, mit dem Namen eines Arztes, den sie am Morgen aufsuchen sollen, mit Verhaltensvorschriften oder einem Diätplan, an den sie sich halten sollen. Manchmal kommen sie mit Sonia nach Hause. Manchmal ohne sie, weil man sie im Krankenhaus behalten hat.

Darum weint meine Mutter morgens bei der Messe. Und darüber wird sie mit Schwester Cecilia gesprochen haben, an jenem Tag, an dem wir im Kloster waren und ich das Bücherregal ins Wanken brachte und die Figur der Heiligen Jungfrau zerbrach. Die Nonne spricht fast immer leise murmelnd, ich vermute, um meine Mutter zu trösten, die gewiss an vielerlei leidet - an Schuldgefühlen, ein Kind geboren zu haben, das nahezu ununterbrochen krank ist; an der Angst vor dem, was als Nächstes hinter der Tür lauert; am Zorn über die Ungerechtigkeit des Lebens und an purer seelischer und körperlicher Erschöpfung.

In dieser bedrängenden Situation wird vermutlich die Idee geboren, eine Kinderfrau zu engagieren. Das wäre die ideale Lösung für alle. Mein Vater könnte seine zwei Arbeitsplätze behalten; meine Mutter könnte wieder arbeiten gehen; Raphael und Sarah-Jane könnten sich weiterhin um mich kümmern; und die Kinderfrau könnte bei Sonias Betreuung helfen. Man könnte vielleicht einen zweiten Untermieter ins Haus nehmen, um die Einnahmen aufzustocken.

So kommt Katja Wolff zu uns. Aber sie ist keine ausgebildete Kinderschwester. Sie hat weder Kurse noch eine Schule besucht, um die Kinderpflege zu erlernen. Aber sie ist eine gebildete junge Frau, und sie ist hilfsbereit, anhänglich, dankbar und - auch das muss gesagt werden - preiswert. Sie liebt Kinder und braucht dringend Arbeit. Und die Familie Davies braucht dringend Hilfe.

6. Oktober

Noch am selben Abend besuchte ich meinen Vater. Wenn überhaupt jemand den Schlüssel zur Erinnerung besitzt, nach dem ich suche, dann mein Vater.

Er war bei Jill. Ich traf die beiden auf der Vortreppe ihres Hauses an. Sie steckten mitten in einer jener höflichen, aber geladenen Auseinandersetzungen, die sich unter liebenden Paaren entzünden, wenn durchaus vernünftige Wünsche der Partner kollidieren. Hier ging es offenbar darum, ob Jill in ihrem hochschwangeren Zustand noch Auto fahren sollte oder nicht.

»Das wäre gefährlich und absolut unverantwortlich«, sagte mein Vater gerade. »Der Wagen ist doch nur noch ein Schrotthaufen. Herrgott noch mal, ich rufe dir ein Taxi. Oder ich fahre dich selbst.«

Und Jill versetzte hitzig: »Würdest du bitte aufhören, mich wie ein Zuckerpüppchen zu behandeln. Ich habe das Gefühl, ich bekomme überhaupt keine Luft mehr, wenn du so bist.«

Sie wollte ins Haus gehen, aber er hielt sie am Arm fest.

»Schatz! Bitte!«, sagte er, und ich hörte seiner Stimme an, wie groß seine Angst um sie war.

Ich konnte ihn verstehen. Er war, was seine Kinder anging, nicht vom Glück gesegnet. Virginia tot. Sonia tot. Zwei von drei Kindern tot. Kein Wunder, dass er Angst hatte.

Zu Jills Verteidigung muss gesagt werden, dass auch sie dafür Verständnis zu haben schien. Sie sagte, ruhiger jetzt: »Ach komm, das ist doch albern«, aber ich glaube, gleichzeitig war sie gerührt von seiner Besorgtheit um ihr Wohlbefinden.

Dann sah sie mich unten auf dem Bürgersteig, wo ich unschlüssig dastand und überlegte, ob ich mich unbemerkt wieder davonmachen oder mit großem Hallo, das nur falsches Getue gewesen wäre, zu ihnen gehen sollte.

»Hallo!«, rief sie mir zu. »Da ist Gideon, Schatz.«

Mein Vater drehte sich herum. Dabei ließ er ihren Arm los, und sie sperrte die Haustür auf und ging uns beiden voraus nach oben.

Ihre Wohnung, in einem Altbau, der vor einigen Jahren von einem geschäftstüchtigen Unternehmer entkernt und völlig renoviert worden ist, entspricht in jeder Beziehung dem letzten Schrei: überall Teppichböden, in der Küche Kupfergeschirr, das von der Decke baumelt, in Küche und Bad modernste Geräte, die auch tatsächlich funktionieren, und an den Wänden Gemälde, bei denen man das Gefühl hat, sie werden gleich von der Leinwand rutschen und irgendwas Zweifelhaftes aufführen. Kurz, die Wohnung ist ganz Jill. Ich bin gespannt, wie mein Vater mit ihrem Geschmack zurechtkommen wird, wenn die beiden zusammenleben. Obwohl sie ja schon jetzt praktisch zusammenleben. So wie mein Vater ständig um Jill herumtanzt, kann man beinahe von Obsession sprechen.

Ich überlegte, ob ich ihn gerade jetzt, da seine Ängste wegen des Kindes, das er und Jill erwarten, täglich wachsen, überhaupt auf Sonia ansprechen sollte. Mein Körper sagte klar Nein: beginnendes Kopfweh und stechende Magenschmerzen, die eindeutig Nervosität waren.

»Ich lasse euch allein«, sagte Jill. »Ich habe sowieso noch zu arbeiten, und du bist ja sicher nicht meinetwegen gekommen, nicht wahr?«

Es war wahr, ich hätte daran denken sollen, Jill hin und wieder zu besuchen, zumal sie, so merkwürdig die Vorstellung auch war, bald meine Stiefmutter werden würde. Aber an der Art, wie sie fragte, merkte man, dass es ihr wirklich nur um die Information ging und nicht darum, eine Spitze anzubringen.

Ich sagte: »Ich wollte ein, zwei Dinge -«

»Natürlich«, unterbrach sie. »Ich bin im Arbeitszimmer.« Sie entfernte sich durch den Flur.

Mein Vater ging mit mir in die Küche. Er schob Jills beeindruckende Kaffeemaschine in die Mitte der Arbeitsplatte und kippte Espressobohnen hinein. Die Kaffeemaschine ist - ganz Jills Vorliebe für alles Zeitgemäße entsprechend - ein erstaunliches Gerät, das in weniger als einer Minute jede Art von Kaffee zubereitet, die das Herz begehrt: Kaffee, Cappuccino, Espresso, Latte macchiato. Die Maschine schäumt die Milch auf und kocht das Wasser und würde vermutlich auch noch abspülen, Wäsche waschen und Staub saugen, wenn man sie entsprechend programmierte. Mein Vater, der anfangs nur spöttische Geringschätzung für dieses Wunderwerk der Technik übrig gehabt hatte, bediente sie wie ein Profi.

Er holte zwei Espressotassen aus dem Schrank und nahm eine Zitrone aus der Obstschale. Während er nach dem richtigen Messer suchte, um ein Stück Schale abzuschneiden, begann ich zu sprechen.

»Dad«, sagte ich, »ich habe ein Foto von Sonia gesehen. Besser als das, das du mir gezeigt hast. Ein Zeitungsfoto, das damals zur Zeit des Prozesses veröffentlicht wurde.«

Er drehte einen Knopf an der Kaffeemaschine, ersetzte den Einzelhahn durch einen Doppelhahn, den er aus einer Schublade holte, und stellte die beiden Tassen darunter. Dann schaltete er das Gerät ein, das leise surrend zu arbeiten begann. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Zitrone zu und schnitt ein Ringelschwänzchen Schale ab, das dem Barkeeper des Savoy Ehre gemacht hätte. »Aha«, sagte er nur und setzte das Messer zum zweiten Mal an.

»Warum hat mit mir nie jemand darüber gesprochen?«, fragte ich.

»Worüber?«

»Das weißt du genau. Über den Prozess. Über Sonias Tod. Über die ganze Situation. Warum wurde nie darüber gesprochen?«

Er schüttelte den Kopf. Er hatte die zweite Schalenspirale abgeschnitten, und als der Espresso fertig war, gab er ein Stück Schale in jede Tasse und reichte mir meine.

»Wollen wir hinausgehen?«, fragte er und wies mit einer Kopfbewegung zum Balkon vor dem Wohnzimmer.

Viel Wohlbehagen versprach der Balkon an diesem grauen Tag nicht, aber er bot immerhin die Ungestörtheit, die ich suchte, und darum folgte ich meinem Vater nach draußen.

Wir waren, wie ich erwartet hatte, völlig allein dort draußen. Die anderen Balkone ringsherum waren leer. Jills Terrassenmöbel waren schon zugedeckt, aber mein Vater nahm die Plastikhülle von zwei Stühlen ab, und wir setzten uns. Er stellte die Tasse mit dem Espresso auf sein Knie und schloss den Reißverschluss seines Parkas.

»Ich habe die Zeitungen von damals nicht aufgehoben«, sagte er. »Ich habe sie mir gar nicht angesehen. Ich wollte nur vergessen. Mir ist klar, dass darüber heute sämtliche Seelenspezialisten entsetzt die Augenbrauen hochziehen würden, ihrer Meinung nach sollen wir uns ja ständig in der Erinnerung suhlen, aber zu meiner Zeit war das nicht Mode, Gideon. Ich habe es durchlebt - die Tage, Wochen und Monate -, und als es vorbei war, wollte ich nur eines: Vergessen, dass es je geschehen war.«

»Hat Mutter auch so empfunden?«

Er hob seine Tasse, aber er ließ mich nicht aus den Augen, während er trank. Dann sagte er: »Das weiß ich nicht. Wir konnten nicht darüber sprechen. Keiner von uns konnte darüber sprechen. Denn dann hätte man es ja alles noch einmal durchmachen müssen.«

»Aber ich muss jetzt darüber sprechen.«

»Ist das auch eine der Empfehlungen deiner teuren Dr. Rose? Sonia liebte die Geige, falls dich das interessiert. Genauer gesagt, sie liebte dich und dein Spiel. Sie sprach sehr wenig - Kinder mit dieser Krankheit lernen das Sprechen im Allgemeinen erst spät -, aber sie konnte deinen Namen sagen.«

Es war wie eine bewusste Verletzung, ein feiner, aber gezielter Stich mitten in mein Herz. »Vater -«

Er fiel mir ins Wort. »Vergiss es. Das war unfair.«

»Warum hat später nie jemand von ihr gesprochen? Nachdem sie - nach dem Prozess«, fragte ich, obwohl die Antwort auf der Hand lag: In unserer Familie wurde nie über Unerfreuliches gesprochen. Großvater tobte von Zeit zu Zeit wie ein Wahnsinniger, wurde bei helllichtem Tag oder bei Nacht und Nebel aus dem Haus geführt, gezerrt oder gekarrt und blieb mehrere Wochen lang weg, aber keiner von uns verlor je ein Wort darüber. Meine Mutter verschwand eines Tages und nahm nicht nur jedes einzelne Stück mit, das ihr gehörte, sondern auch alles, was daran hätte erinnern können, dass sie einmal Teil der Familie gewesen war, aber es fiel uns gar nicht ein, auch nur einmal Mutmaßungen darüber anzustellen, warum sie fortgegangen war und wohin. Und da wunderte ich mich, auf dem Balkon der Geliebten meines Vaters sitzend, darüber, dass niemals über Sonia gesprochen worden war! Dabei war es doch in unserer Familie schon immer so gewesen, dass man nie über etwas gesprochen hatte, das schmerzhaft, tragisch, grausam oder traurig war.

»Wir wollten vergessen, dass es geschehen war.«

»Ihr wolltet Mutter vergessen? Und Sonia?«

Er beobachtete mich, und ich sah, wie sich sein Gesicht verschloss und jenen Ausdruck bekam, der mir immer schon eine Landschaft gespiegelt hat, die nichts anderes war als Eis, kalter Wind und endloser trüber Himmel. »Das ist deiner unwürdig«, sagte er. »Ich denke, du weißt genau, wovon ich spreche.«

»Aber niemals auch nur ihren Namen auszusprechen! Nicht ein Mal in all den Jahren. Niemals die Worte >deine Schwester< zu sagen…«

»Meinst du, damit wäre irgendetwas gewonnen gewesen? Hätte es dir in irgendeiner Weise genützt, wenn Sonias Ermordung ein Thema unseres Alltags gewesen wäre?«

»Ich verstehe ganz einfach nicht -«

Er trank den letzten Rest seines Espressos und stellte die Tasse neben seinen Stuhl auf den Boden. Sein Gesicht war so grau wie sein Haar, das er zurückgebürstet trägt wie ich und das den gleichen Ansatz hat wie meines, zur Mitte der Stirn spitz zulaufend, mit tiefen Geheimratsecken an den Seiten.

»Deine Schwester ist in der Badewanne ertränkt worden«, sagte er, »von einer Deutschen, die wir bei uns aufgenommen hatten -«

»Ich weiß -«

»Nein! Gar nichts weißt du. Du weißt vielleicht, was die Zeitungen berichtet haben, aber du weißt nicht, wie es wirklich war. Du weißt nicht, dass Sonia ermordet wurde, weil es immer schwieriger wurde, sie zu versorgen, und weil die Deutsche -«

Katja Wolff. Warum will er ihren Namen nicht aussprechen?

»- schwanger war.«

Schwanger. Das Wort wirkte wie ein Fingerschnalzen direkt vor meiner Nase. Es riss mich zurück in die Welt meines Vaters, erinnerte mich wieder daran, was er durchgemacht hatte und was er jetzt in dieser Situation von neuem durchmachen musste. Ich dachte an die Fotografie, auf der Katja Wolff mit Sonia auf dem Arm im Garten des Hauses am Kensington Square saß und träumerisch in die Kamera lächelte. Ich dachte an das Bild, das sie zeigte, wie sie abgemagert und krank aussehend, mit harten Gesichtszügen, das Polizeirevier verließ. Schwanger.

»Auf dem Foto hat man ihr das aber nicht angesehen«, murmelte ich und blickte von meinem Vater weg zu einem der anderen Balkone, wo ein Altenglischer Schäferhund uns neugierig beäugte. Als er sah, dass ich ihn bemerkt hatte, stellte er sich auf die Hinterbeine, die Vorderpfoten auf das Balkongeländer gestützt, und begann zu bellen. Es war ein schreckliches Geräusch. Man hatte ihm die Stimmbänder entfernen lassen. Was blieb, war ein hoffnungsvolles, aber jämmerliches Jaulen, nichts als Luft und Muskeln und vor allem Grausamkeit.

»Auf was für einem Foto?«, fragte mein Vater, und dann begriff er wohl, dass ich von einem Foto sprach, das ich in der Zeitung gesehen hatte, denn er fügte hinzu: »Nein, natürlich sah man es ihr nicht an. Es ging ihr zu Beginn der Schwangerschaft sehr schlecht, sie hat kein Gramm zugenommen, sondern ist immer dünner geworden. Als uns auffiel, dass es ihr nicht gut ging und sie kaum noch aß, glaubten wir zunächst, es wäre Liebeskummer. Sie und der Untermieter -«

»Das muss James gewesen sein.«

»Richtig. James. Sie waren befreundet. Offensichtlich viel enger, als wir ahnten. Er lernte mit ihr Englisch, wenn sie freihatte. Dagegen hatten wir nichts einzuwenden. Bis sie schwanger wurde.«

»Und dann?«

»Wir haben ihr gekündigt. Wir führten schließlich kein Heim für ledige Mütter, und wir brauchten jemanden, der sich um Sonia kümmern konnte und nicht ausschließlich mit sich selbst beschäftigt war - dem eigenen Unwohlsein, den eigenen Schwierigkeiten, der Schwangerschaft. Wir haben sie nicht auf die Straße gesetzt, wir haben sie auch nicht fristlos entlassen. Aber wir sagten ihr natürlich, dass sie sich eine andere Stellung suchen müsse, und da geriet sie völlig außer sich, weil es die Trennung von James bedeutete.«

»Wie hat sich das denn geäußert?«

»Tränen, Wut, Hysterie. Sie war restlos überfordert, von der Schwangerschaft und dem andauernden Unwohlsein, von der Notwendigkeit, sich eine neue Bleibe suchen zu müssen, und natürlich von den Ansprüchen, die deine Schwester an sie stellte. Sonia war damals gerade aus dem Krankenhaus wieder nach Hause gekommen und brauchte ständige Betreuung. Die Deutsche drehte durch.«

»Ich erinnere mich.«

»Woran?« Ich hörte das Widerstreben hinter der Frage, Ausdruck des Konflikts zwischen dem Wunsch meines Vaters, diese quälenden Erinnerungen wieder zu verdrängen, und seinem Bestreben, den Sohn, den er liebte, aus dessen innerer Gefangenschaft zu befreien.

»An Krisen. Wie Sonia zum Arzt gebracht wurde oder ins Krankenhaus oder - ich weiß nicht, wohin noch.«

Er ließ sich in seinen Gartenstuhl zurücksinken und blickte wie ich zu dem Hund hinüber, der so eifrig um unsere Aufmerksamkeit buhlte. »Kein Platz für Geschöpfe mit eigenen Bedürfnissen«, sagte er, und ich konnte nicht sagen, ob er von dem Tier sprach oder von sich selbst, von mir oder meiner Schwester. »Zuerst war es das Herz. Einen atriospektalen Defekt, nannten sie es. Wir merkten sehr schnell - gleich nach der Geburt - an ihrer Hautfarbe und ihrem Puls, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie wurde sofort operiert, und wir dachten, gut, damit ist das Problem erledigt. Aber dann kam schon das nächste, ihr Magen - duodenale Stenose. Kommt bei Kindern mit Downsyndrom häufig vor, erklärte man uns. Als wäre die Tatsache, dass sie am Downsyndrom litt so harmlos wie meinetwegen ein Schielauge. Es folgte also die nächste Operation. Danach stellte man fest, dass sie keine Afteröffnung hatte. Man sagte zu uns, diese Kleine scheint ja so ziemlich alles zu haben, was das Downsyndrom so mit sich bringt. Ein Extremfall. Da werden wir sie wohl noch einmal aufmachen müssen. Und noch einmal. Und noch einmal. Sie bekam ein Hörgerät. Und Medikamente en masse. Wir können nur hoffen, hieß es, dass es nicht zu schlimm für sie ist, so oft operiert werden zu müssen, bis wir sie endlich richtig hinkriegen.«

»Dad -« Ich wollte ihm den Rest ersparen. Er hatte genug gesagt. Er hatte genug durchgemacht. Er hatte nicht nur ihr Leiden, sondern auch ihren Tod miterleben müssen, und vor diesem Tod seinen eigenen Schmerz und den meiner Mutter und zweifellos auch den seiner Eltern getragen .

Ehe ich ihm sagen konnte, was mir auf der Zunge lag, hörte ich auf einmal wieder meinen Großvater. Mir verschlug es den Atem wie nach einem harten Schlag in den Magen, trotzdem musste ich die Frage stellen. »Dad«, sagte ich, »wie ist Großvater mit der Situation fertig geworden?«

»Fertig geworden? Er ist gar nicht erst zum Prozess gegangen. Er-«

»Ich meine nicht den Prozess. Ich spreche von Sonia. Von ihrer - ihrer Krankheit.«

Ich kann ihn hören, Dr. Rose. Ich kann ihn wirklich hören. Er brüllt. Er brüllt, wie er immer brüllt - wie der alte Lear, nur dass der Sturm, gegen den er anbrüllt, nicht draußen auf dem Moor tobt, sondern in seinem eigenen Inneren. Krüppel, schreit er. Du bist nicht fähig, etwas anderes als Krüppel zu produzieren. Speichel sammelt sich in seinen Mundwinkeln. Meine Großmutter packt ihn beim Arm und spricht leise seinen Namen, aber er nimmt nichts wahr als Sturm und Donnerwetter in seinem eigenen Kopf.

Mein Vater sagte: »Dein Großvater war ein gequälter Mensch, Gideon, aber ein großer und guter Mensch. So grimmig wie die Dämonen, die ihn geplagt haben, war sein Kampf gegen sie.«

»Hat er sie geliebt?«, fragte ich. »Hat er sie auf den Arm genommen? Mit ihr gespielt? Sie als sein Enkelkind betrachtet?«

»Sonia war in der Zeit, die sie bei uns war, sehr oft krank. Sie war zart. Ein Notfall löste den anderen ab.«

»Er wollte also nichts von ihr wissen«, stellte ich fest.

Mein Vater antwortete nicht. Er stand auf und trat ans Geländer des Balkons. Der Altenglische Schäferhund jaulte keuchend, beinahe lautlos, und sprang mit dem Eifer der Verzweiflung am Balkongitter hoch.

»Warum tut man Tieren so etwas an?«, sagte mein Vater. »Es ist doch völlig unnatürlich. Wenn jemand unbedingt ein Haustier haben will, dann sollte er angemessen dafür sorgen. Wenn das nicht möglich ist, sollte er es weggeben, verdammt noch mal.«

»Du sagst es mir nicht, stimmt's?«, insistierte ich. »Wie Großvater zu Sonia stand. Du sagst es mir nicht.«

»Dein Großvater war eben dein Großvater«, antwortete mein Vater, und damit war der Fall für ihn erledigt.

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