ImDoli Cottage, dem Häuschen, das Eugenie Davies bewohnt hatte, gab es einen Speicher, den Lynley und Barbara Havers ganz zuletzt aufsuchten. Durch eine Falltür im Flur neben dem Badezimmer zwängten sie sich in einen kleinen Raum unter dem Dach, in dem man sich nur kriechend fortbewegen konnte. Nirgends war ein Stäubchen zu entdecken; offenbar war jemand regelmäßig heraufgekommen, um sauber zu machen oder um die hier aufbewahrten Gegenstände durchzusehen.
»Was meinen Sie?«, fragte Barbara, als Lynley an einer Schnur zog, die von einer Glühbirne an der Decke herabhing. Ein gelber Lichtkegel hüllte ihn ein, und der Schatten seiner Stirn verdunkelte seine Augen. »Wiley behauptet, sie hätte mit ihm sprechen wollen. Aber er brauchte doch nur die Zeiten, die er uns angegeben hat, ein bisschen zu manipulieren, und schon ist die Sache geritzt.«
»Mit anderen Worten, Sie meinen, Wiley hat ein Motiv?«, fragte Lynley. »Hier ist nirgends auch nur eine Spinnwebe, Havers.«
»Ich weiß. Staub ist auch keiner da.«
Lynley strich mit der Hand über eine hölzerne Seekiste, die neben mehreren großen Kartons stand. Sie hatte eine Haspe zum Verschließen, aber kein Schloss. Er hob ihren Deckel an und warf einen Blick ins Innere, während Barbara zum ersten Karton robbte. »Drei Jahre lang bemüht er sich geduldig«, sagte er, »eine Beziehung aufzubauen, von der er sich mehr erhofft, als sie zu geben bereit ist. Sie bringt ihm widerstrebend bei, dass eine engere Bindung ausgeschlossen ist -«
»- weil ihr Herz einem anderen gehört, der einen dunkelblauen oder schwarzen Audi fährt und mit dem sie sich auf dem Parkplatz gestritten hat?«
»Möglich. Enttäuscht und wütend folgt er ihr nach London - Wiley, meine ich - und überfährt sie. Ja, so könnte es gewesen sein.«
»Aber Sie glauben es nicht?«
»Wir stehen noch ganz am Anfang, Havers. Was ist in dem Karton?«
Barbara prüfte den Inhalt. »Klamotten.«
»Von Eugenie Davies?«
Sie nahm das erste Kleidungsstück heraus und hielt es hoch: eine Kinderlatzhose aus pinkfarbenem Cord, mit gelben Blumen bestickt. »Das wird der Tochter gehört haben.« Sie grub tiefer und hob einen ganzen Stapel Kleidungsstücke aus dem Karton: Kleidchen, Pullis, Schlafanzüge, Shorts, T-Shirts, Strümpfchen und Schuhe. Den Farben und Mustern nach alles Kleinmädchensachen. Sie packte sie wieder ein und wandte sich dem nächsten Karton zu, während Lynley sich über die Seekiste beugte.
Im zweiten Karton fand sie Kinderbettwäsche und Spielsachen. Laken und Bezüge lagen ordentlich gestapelt zwischen einem Mobile, einer reichlich abgegriffenen Plüschente, sechs weiteren Stofftieren, deren Zustand verriet, dass sie entschieden weniger geliebt worden waren als die Ente, und der Seitenpolsterung eines Kindergitterbetts. Der dritte Karton enthielt Badeutensilien, von der Gummiente bis zum Kinderbademantel. Barbara wollte gerade eine Bemerkung darüber machen, wie makaber sie diese Andenken in Anbetracht des Schicksals des Kindes fand, als Lynley sagte: »Hier haben wir etwas Interessantes, Havers.«
Sie blickte auf und sah, dass er ein Bündel Zeitungsausschnitte in der Hand hielt, den obersten bereits auseinander gefaltet, um ihn zu lesen. Neben sich auf dem Boden hatte er aufgehäuft, was er sonst noch in der Kiste gefunden hatte, unter anderem eine Sammlung von Zeitschriften und Zeitungen sowie fünf in Leder gebundene Alben.
»Was denn?«, fragte sie.
»Sie hat hier das reinste Archiv über ihren Sohn Gideon.«
»Zeitungsausschnitte? Und weshalb?«
»Er ist Geiger.« Lynley ließ das Blatt sinken, das er in der Hand hielt, und sagte: »Gideon Davies, Havers.«
»Nie gehört.« Barbara, die einen Waschlappen in Form einer Katze in der Hand hielt, schüttelte den Kopf.
»Sie wissen nicht -? Okay, schon gut«, sagte Lynley. »Das hatte ich vergessen. Klassische Musik ist ja nicht unbedingt Ihre Stärke. Wäre er der Gitarrist der Faulenden Zähne -«
»Nehme ich da eine gewisse Verachtung für meinen Musikgeschmack wahr?«
»- oder irgendeiner anderen Gruppe, hätte es bei Ihnen wahrscheinlich sofort gefunkt.«
»Genau«, sagte Barbara. »Also, wer ist der Typ?«
Lynley erklärte: ein ehemaliges musikalisches Wunderkind, ein Geigenvirtuose von Weltruf, der sein erstes öffentliches Konzert gegeben hatte, noch bevor er zehn Jahr alt gewesen war. »Seine Mutter hat offenbar alles, was die Zeitungen über ihn geschrieben haben, aufgehoben.«
»Obwohl sie keinen Kontakt mehr zu ihm hatte?«, fragte Havers. »Das legt nahe, dass er die Verbindung abgebrochen hat. Oder vielleicht der Vater.« »Hm«, brummte Lynley zustimmend, während er die Papiere durchsah. »Das ist ja eine wahre Fundgrube. Alles über seine Auftritte, besonders über den letzten, sogar die Berichte der Boulevardpresse hat sie aufbewahrt.«
»Na ja, wenn er so berühmt ist…« Barbara fand unter den Badesachen einen kleinen Karton und öffnete ihn. Er enthielt ein Arsenal an verschreibungspflichtigen Medikamenten. Die Etiketten auf den Behältern lauteten alle auf denselben Namen: Sonia Davies.
»Nein, nein. Der Auftritt war eher ein Fiasko«, erklärte Lynley.
»In der Wigmore Hall. Ein Beethoven-Trio. Davies spielte keinen einzigen Ton. Er marschierte noch vor seinem Einsatz einfach vom Podium und hat seither nicht wieder in der Öffentlichkeit gespielt.«
»Starallüren?«
»Möglich.«
»Oder vielleicht Lampenfieber?«
»Kann auch sein.« Lynley hielt die Zeitungen hoch, Sensationsblätter und seriöse Tageszeitungen. »Sie scheint alles gesammelt zu haben, was über diesen Vorfall geschrieben wurde, und sei es auch nur die kleinste Meldung.«
»Sie war seine Mutter. Was ist in den Alben?«
Lynley schlug das erste Album auf. Barbara kroch näher, um ihm über die Schulter zu blicken. Die Alben enthielten weitere Zeitungsausschnitte, dazu Konzertprogramme, Fotos und Broschüren einer Institution mit Namen East London Conservatory.
»Es würde mich interessieren, was genau an dem Zerwürfnis der beiden schuld war«, bemerkte Barbara, als sie das alles sah.
»Das ist eine gute Frage«, meinte Lynley.
Sie sahen die restlichen Dinge in den Kartons und der Kiste durch. Es war nichts dabei, was nicht entweder mit Gideon oder Sonia Davies zu tun hatte. Als hätte sie, dachte Barbara, vor der Geburt ihrer Kinder nicht existiert und aufgehört zu existieren, als sie sie verloren hatte. Aber sie hatte natürlich nur eines von ihnen verloren.
»Wir werden wohl dem guten Gideon mal auf den Zahn fühlen müssen«, sagte Barbara.
»Er steht schon auf der Liste«, bestätigte Lynley.
Nachdem sie alles aufgeräumt hatten, ließen sie sich durch die Luke wieder in den Flur im ersten Stockwerk hinunter, und Lynley zog die Klappe zu. »Holen Sie die Briefe aus dem Schlafzimmer, Havers«, sagte er. »Und dann fahren wir in den Sixty Plus Club hinüber. Vielleicht bekommen wir da ein paar Auskünfte, die uns weiterhelfen.«
Auf dem Weg zurück durch die Friday Street kamen sie an der Buchhandlung gegenüber vorbei, wo, wie Barbara bemerkte, der Major hinter eine Auslage von Bilderbüchern am Schaufenster stand und sie ganz offen beobachtete. Er hob ein Taschentuch zum Gesicht, als sie vorübergingen. Weinte er? Oder tat er nur so? Oder schnauzte er sich vielleicht ganz einfach. Barbara konnte nicht umhin, sich Gedanken zu machen. Drei Jahre auf eine Entscheidung zu warten, die dann negativ ausfiel, das war hart.
Die Friday Street mündete in die Duke Street. Dort waren im Fenster eines großen Musikgeschäfts neben Gitarren, Mandolinen und Banjos auch Geigen und Bratschen ausgestellt.
»Einen Moment, Barbara«, sagte Lynley und trat näher, um sich die Instrumente anzusehen. Barbara zündete sich eine Zigarette an, während sie aus reiner Kollegialität ebenfalls ins Fenster blickte und sich fragte, was es da zu sehen gab.
»Was ist denn?«, fragte sie schließlich, als Lynley wie gebannt ins Fenster starrte und sich dabei nachdenklich über das Kinn strich.
»Er ist wie Menuhin«, erklärte er. »Es gibt da zu Beginn der beiden Karrieren eine Reihe von Ähnlichkeiten. Ob das allerdings auch auf die Familienbeziehungen zutrifft, ist die Frage. Menuhins Eltern standen von Beginn an voll hinter ihm. Wenn das bei Gideon Davies nicht -«
»Menu-wer?«
Lynley warf ihr einen Blick zu. »Auch ein Geiger, Havers. Auch ein ehemaliges Wunderkind.« Er verschränkte die Arme und stellte sich so hin, als hätte er vor, eine längere Diskussion über dieses Thema zu führen. »Das ist eine Frage, über die man vielleicht einmal nachdenken sollte: Wie gestaltet sich das Leben eine Paars, das entdeckt, dass es ein Genie in die Welt gesetzt hat? Solche Eltern sehen sich doch einer ganz anderen Art von Verantwortung gegenüber als die Eltern von Durchschnittskindern. Und wenn dann noch die Verantwortung für ein Kind hinzukommt, das auf andere Weise aus dem Durchschnitt herausfällt .«
»Ein Kind wie Sonia«, warf Barbara ein.
»Richtig. Da werden zusätzliche Forderungen an die Eltern gestellt, die ebenso anspruchsvoll sind, wenn auch auf eine andere Art.«
»Fragt sich nur, ob den Eltern der Einsatz in einem solchen Fall ebenso lohnend erscheint. Wenn nicht, wie gehen sie dann mit dem Problem um? Und wie wirkt sich das auf ihre Ehe aus?«
Lynley nickte und wandte sich wieder dem Schaufenster zu. Barbara fragte sich auf Grund seiner Bemerkungen, wie weit in die eigene Zukunft er zu sehen versuchte, während sein Blick auf die Instrumente gerichtet war. Sie hatte ihm noch nicht von dem Gespräch erzählt, das sie am vergangenen Abend mit seiner Frau geführt hatte. Und jetzt schien auch nicht der geeignete Moment, es zu erwähnen. Andererseits hatte er ihr einen Einstieg geliefert, den man eigentlich nicht ignorieren konnte. Und vielleicht täte es ihm ja ganz gut zu wissen, dass es in seiner Nähe jemanden gab, mit dem er in den Monaten von Helens Schwangerschaft über eventuelle Sorgen oder Ängste sprechen konnte. Denn mit seiner Frau würde er das wohl kaum tun wollen.
»So ganz wohl ist Ihnen nicht, hm, Sir?«, sagte sie und zog hastig an ihrer Zigarette, weil ihr selbst nicht ganz wohl war bei dieser Frage. Zwar arbeitete sie seit nunmehr drei Jahren mit Lynley zusammen, aber über persönliche Dinge sprachen sie nur sehr selten.
»Wieso soll mir nicht ganz wohl sein, Havers?«
Sie ließ den Rauch aus dem Mundwinkel entweichen, um nicht sein Gesicht einzunebeln, als er sich ihr wieder zuwandte. »Helen hat mir gestern Abend gesagt… Ach, Sie wissen schon. Ich könnte mir vorstellen, dass man sich da doch gewisse Sorgen macht. Hin und wieder überfallen die bestimmt jeden. Ich meine… Sie wissen schon.« Sie fuhr sich durch die Haare und machte den obersten Knopf ihrer Jacke zu, öffnete ihn aber gleich wieder, da es ihr die Kehle zudrückte.
»Ach so, das Kind«, sagte Lynley. »Ja.«
»Da gibt's doch sicher sorgenvolle Momente.«
»Momente, ja«, erwiderte er ruhig und sagte dann: »Kommen Sie, gehen wir weiter.« Damit setzte er sich wieder in Bewegung, ohne noch einmal auf das Thema
zurückzukommen.
Eigenartige Antwort, dachte Barbara, eigenartige Reaktion. Und sie wurde sich bewusst, wie sehr sie in ihrer Erwartung seiner Reaktion auf die bevorstehende Vaterschaft vom Stereotyp ausgegangen war. Der Mann stammte aus einer alten vornehmen Familie. Er war von Adel - auch wenn so ein Titel heute ein Anachronismus war -, und es gab einen Familienstammsitz, den er mit Anfang zwanzig geerbt hatte. Von so einem Zeitgenossen erwartete man doch, dass er möglichst umgehend nach der Eheschließung einen Erben produzierte, oder nicht? Und er müsste jetzt eigentlich froh und glücklich sein, seine Pflicht so prompt erfüllt zu haben.
Mit einem Stirnrunzeln warf sie den Stummel ihrer Zigarette auf die Straße, wo er in einer Pfütze landete und erlosch. Wahnsinn, was man alles über Männer nicht weiß, dachte sie.
Der Sixty Plus Club hatte seine Räume in einem bescheidenen kleinen Bau neben einem Parkplatz in der Albert Road, und Barbara und Lynley wurden bei ihrem Eintritt sofort von einer Rothaarigen mit Pferdegebiss in Empfang genommen, die irgendetwas Duftiges anhatte, das mehr einem Gartenfest entsprach als dem grauen Novembertag. Mit zähnefletschendem Lächeln stellte sie sich als Georgia Ramsbottom vor, Schriftführerin des Vereins, »im fünften Jahr in Folge gewählt und stets einstimmig«. Ob sie ihnen behilflich sein könne? Gehe es vielleicht um Vater oder Mutter, die sich scheuten, sich persönlich über das Angebot des Klubs zu informieren? Oder gehe es um einen Vater, der den Tod der geliebten Frau nicht verwinden könne? Oder eine kürzlich verwitwete Mutter?
»Die älteren Herrschaften« - zu denen sie sich selbst offensichtlich nicht zählte, wenn auch die straff gespannte, glänzende Haut ihres Gesichts Bände sprach über ihren erbitterten Kampf gegen das Alter - »lassen sich manchmal gern etwas Zeit, wenn es daran geht, gewisse Änderungen im Leben vorzunehmen, nicht wahr?«
»Nicht nur die älteren Herrschaften«, erwiderte Lynley charmant, zog seinen Dienstausweis heraus und nannte seinen und Barbaras Rang und Namen.
»Ach, du meine Güte. Entschuldigen Sie vielmals. Ich hatte ja keine Ahnung…« Georgia Ramsbottom senkte die Stimme. »Sie sind von der Polizei? Ich weiß gar nicht, ob ich da der richtige Ansprechpartner für Sie bin. Ich bin ja nur gewählt.«
»Fünf Jahre in Folge«, bemerkte Barbara. »Glückwunsch!«
»Gibt es denn etwas…? Aber da sprechen Sie am besten mit unserer Leiterin, denke ich. Sie ist nur leider noch nicht im Haus - ich weiß nicht, warum, ich kann nur sagen, dass Eugenie häufig auch anderweitig dringend gebraucht wird -, aber ich kann sie zu Hause anrufen, wenn Sie so freundlich wären, inzwischen im Spielzimmer zu warten.«
Sie zeigte auf die Tür, durch die sie selbst zur Begrüßung herausgekommen war. In dem Raum dahinter saßen an kleinen Tischen Vierergruppen beim Kartenspiel, Paare beim Schach oder Damespiel, und ein Mann saß allein da und legte Patience, und nach seinem unterdrückten Schimpfen zu urteilen, ganz ohne die Geduld, die das Spiel erfordert. Georgia Ramsbottom trat zu einer geschlossenen Tür mit einem Milchglasfenster, auf dem »Klubleitung« stand. »Ich geh nur rasch ins Büro und rufe sie an.«
»Ich nehme an, Sie sprechen von Mrs. Davies«, sagte Lynley.
»Eugenie Davies, ja. Wenn sie nicht in einem ihrer Pflegeheime zu tun hat, ist sie eigentlich immer hier. Sie ist die Güte selbst. So großherzig, wissen Sie. Ein Vorbild an…« Ihr schien nichts einzufallen, und sie fuhr fort: »Aber wenn Sie sie suchen, dann wissen Sie wohl schon . ? Ich meine, von dem Ruf der Wohltätigkeit, den sie genießt. Sonst .«
»Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Mrs. Davies tot ist«, sagte Lynley.
»Tot?« Georgia Ramsbottom starrte Lynley und Barbara fassungslos an. »Eugenie ist tot?«
»Ja. Es ist gestern Abend geschehen. In London.«
»In London? War sie…? Mein Gott, was ist denn passiert? Weiß Teddy schon Bescheid?« Ihr Blick flog zur Haustür. Man sah ihr an, dass sie am liebsten sofort losgerannt wäre, um Major Wiley die schlechte Nachricht zu überbringen. »Er und Eugenie«, erklärte sie hastig und leise, als fürchtete sie, die Kartenspieler im Zimmer nebenan könnten lauschen, »sie waren… Na ja, sie haben es beide nie direkt gesagt, aber das war typisch für Eugenie, wissen Sie. Die Diskretion in Person. Sie war nicht ein Mensch, der sich jedem gleich mitteilte. Aber wenn die beiden zusammen waren, konnte jeder sehen, dass Ted ganz bezaubert war von ihr. Und mich hat das für die beiden herzlich gefreut, das können Sie mir glauben. Ich war nämlich selbst eine Zeit lang mit Ted zusammen, gleich am Anfang, als er nach Henley kam, aber ich merkte, dass er nicht ganz der Richtige für mich war, und darum war ich, als ich ihn dann Eugenie überließ, überglücklich zu sehen, dass es bei den beiden sofort funkte. Tja, das ist eben die Chemie, nicht wahr? Dieses gewisse Etwas, das zwischen ihm und mir nicht gestimmt hat. Sie kennen das ja sicher.« Wieder zeigte sie ihre großen Zähne. »Der arme Ted. Er ist ein so reizender Mensch. Bei allen im Klub sehr beliebt.«
»Er weiß von Mrs. Davies' Tod«, sagte Lynley. »Wir haben mit ihm gesprochen.«
»Ach, der Arme. Zuerst seine Frau und jetzt das. Mein Gott!«
Sie seufzte. »Du meine Güte. Ich muss es den anderen sagen.«
Barbara konnte sich vorstellen, mit welchem Genuss sie diese Pflicht übernehmen würde.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir Mrs. Davies' Büro benutzen?« Lynley wies mit einer Kopfbewegung auf die geschlossene Tür.
»Aber nein. Nein, gar nicht. Es ist bestimmt nicht abgeschlossen. Es ist immer offen. Wegen des Telefons. Es steht im Büro, und wenn Eugenie nicht hier ist, muss natürlich jemand rangehen können, wenn es klingelt. Einige unserer Mitglieder haben Partner im Pflegeheim, und ein Anruf kann ja immer . « Sie hüllte sich in vielsagendes Schweigen, öffnete die Tür zum Büro und forderte Barbara und Lynley mit einer Handbewegung auf, einzutreten. »Darf ich Sie etwas fragen?«, sagte sie.
Lynley blieb an der Tür stehen und drehte sich nach der Frau um, während Barbara an ihm vorbeiging, zum Schreibtisch trat und sich dort in den Sessel setzte. Auf dem Schreibtisch lag ein Terminkalender, den sie näher zu sich heranzog. An der Tür sagte Lynley: »Ja?«
»War Ted… ich meine, ist er…« Sie bemühte sich angestrengt, mit Grabesstimme zu sprechen. »Hat es Ted sehr getroffen, Inspector? Wir sind so gute Freunde, wissen Sie, und ich überlege, ob ich ihn nicht gleich mal anrufen soll? Oder ob ich besser bei ihm vorbeigehe, um ihm Beistand zu leisten?«
Heiliger Strohsack, dachte Barbara. Die Leiche ist noch nicht mal kalt! Aber wenn unversehens ein Mann auf den Markt kommt, darf man vermutlich keine Zeit verlieren. Während Lynley höflich und wohlerzogen darüber sprach, dass nur ein Freund beurteilen könne, ob ein Anruf oder Besuch angebracht sei, und Georgia Ramsbottom sich verzog, um dies zu bedenken, nahm Barbara sich Eugenie Davies' Terminkalender vor. Ihm zufolge hatte die Leiterin des Altenklubs eine Menge zu tun gehabt mit Ausschusssitzungen des Vereins, Besuchen bei Institutionen mit Namen Tannenruh, Flussblick und Unter den Weiden, allem Anschein nach Pflegeheime, Verabredungen mit Major Wiley - jeweils der Name »Ted« neben einer Zeitangabe, sowie mit regelmäßigen Terminen, die nach den verzeichneten Namen zu urteilen in Pubs oder Hotels stattzufinden pflegten; das ganze Jahr hindurch, mindestens einmal im Monat. Interessanterweise reichten diese besonderen Eintragungen bis zum Ende des Terminkalenders, der auch noch die ersten sechs Monate des kommenden Jahres umfasste. Barbara machte Lynley, der gerade ein persönliches Telefonverzeichnis durchsah, das er in der obersten rechten Schublade des Schreibtischs gefunden hatte, darauf aufmerksam.
»Irgendwelche feststehenden geschäftlichen Termine«, meinte er.
»Als Bierkosterin in diversen Pubs«, fragte Barbara. »Oder als Hotelkritikerin? Das glaube ich nicht. Hören Sie doch mal: Catherine Wheel, King's Head, Fox and Glove, Claridge's- hey, das tanzt aus der Reihe. Was halten Sie davon? Wenn Sie mich fragen, waren das heimliche Verabredungen.«
»Nur ein Hotel?«
»Nein, hier sind noch andere. Das Astoria, das Lords of the Manor, das Le Meridien. In London und außerhalb. Sie
hatte eine heimliche Beziehung mit jemandem, Inspector, und bestimmt nicht mit Wiley.«
»Rufen Sie die Hotels an und fragen Sie, ob sie dort ein Zimmer gebucht hatte.«
»Puh! Stupider geht's nicht.«
»Tja, das sind die Freuden des Jobs.«
Während Barbara die Anrufe machte, setzte sie die Inspektion von Eugenie Davies' Schreibtisch fort. In den Schubladen fand sie Büromaterial: Visitenkarten, Briefumschläge und Schreibpapier, Locher und Heftmaschine, Gummibänder, Büroklammern, Schere, Stifte und Kugelschreiber. In Mappen waren Verträge mit Lieferanten von Lebensmitteln, Möbeln, Computern und Kopiergeräten aufbewahrt. Etwa zur gleichen Zeit, als sie vom ersten der Hotels hörte, dass man dort von einem Gast namens Eugenie Davies nichts wisse, war klar, dass der Schreibtisch nichts Persönliches enthielt.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Eingangskorb zu, während Lynley den Computer einschaltete.
Die Durchsicht des Eingangskorbs war, wie Barbara schnell feststellte, nicht viel ergiebiger als die Anrufe bei den Hotels. Sie fand drei Mitgliedschaftsanträge darin - alle von Witwen in den Siebzigern - und diverse Entwürfe zur Bekanntmachung kommender Klubaktivitäten. Barbara pfiff leise durch die Zähne, als sie sah, was der Verein seinen Mitgliedern zu bieten hatte. Gerade in der bevorstehenden Weihnachtszeit wartete eine beeindruckende Auswahl an Veranstaltungen auf die Senioren, von einer Busfahrt mit Abendessen nach Bath bis zum großen Silvesterball. Es gab Cocktailpartys, Abendessen mit Tanz, Ausflüge und eine Mitternachtsmesse am Heiligen Abend für die »alten Herrschaften«, die offensichtlich nicht an einem ruhigen Lebensabend interessiert waren.
Hinter sich hörte sie die Summ- und Pieptöne von Eugenie Davies' erwachendem Computer. Sie stand auf und ging zum Aktenschrank, und Lynley nutzte die Gelegenheit, um es sich in dem Sessel bequem zu machen, den sie ihm überlassen hatte. Während er ihn zum Computer drehte, öffnete Barbara die oberste Schublade des Aktenschranks, der nicht abgeschlossen war, und begann, die Hefter durchzusehen. Sie fand vor allem Korrespondenz mit anderen Seniorenorganisationen in Großbritannien, jedoch auch Unterlagen des staatlichen Gesundheitsdiensts, eines Reise- und Studienprogramms, über diverse Altersleiden wie Alzheimerkrankheit und Osteoporose und über Rechtsfragen bei Erbangelegenheiten und die Einrichtung von Treuhandfonds und Geldanlagen. In einer Mappe lagen Briefe erwachsener Kinder von Klubmitgliedern, größtenteils Dankesbriefe, in denen gewürdigt wurde, was der Verein dazu getan hatte, Mutters oder Vaters Lebensfreude wieder zu wecken. Ein paar Schreiber waren nicht so ganz einverstanden mit der Verbundenheit der Mutter oder des Vaters mit einer Organisation, die mit der Familie nichts zu tun hatte. Die Briefe dieser Gruppe nahm Barbara heraus und legte sie auf den Tisch. Möglicherweise hatte Mamas oder Papas plötzliche Zuneigung zur Leiterin des Klubs einen Angehörigen beunruhigt; man konnte schließlich nie wissen, wohin solche Anhänglichkeit führte. Sie sah die Briefe noch einmal durch, um sich zu vergewissern, dass keiner mit Wiley unterschrieben war, und fand nichts. Aber das hieß natürlich nicht, dass der Major nicht eine verheiratete Tochter hatte, die an Eugenie geschrieben hatte.
Eine der Mappen war besonders interessant. Sie enthielt zahlreiche Fotografien, die bei Klubveranstaltungen aufgenommen worden waren. Major Wiley war häufig auf diesen Fotos zu finden und meist in Gesellschaft einer Frau, die entweder seinen Arm eisern umklammert hielt oder ihm fast die Gurgel abdrückte oder auf seinem Schoß saß. Georgia Ramsbottom. Der liebe Teddy! Aha, dachte Barbara. Sie sagte: »Inspector«, und im selben Moment sagte Lynley: »Ich glaube, hier haben wir etwas, Havers.«
Mit den Fotos in der Hand trat sie zum Computer. Lynley hatte sich ins Internet eingeloggt und Eugenie Davies' E-Mail auf den Bildschirm geholt.
»Hatte sie kein Passwort?«, fragte Barbara, als sie ihm die Bilder reichte.
»Doch«, antwortete Lynley. »Aber es war leicht zu erraten.«
»Der Name eines der Kinder?«
»Sonia«, sagte er, und gleich darauf: »Ach, verdammt!«
»Was ist denn?«
»Hier ist nichts.«
»Dabei wäre uns doch ein Drohbrief so gelegen gekommen. Schade.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte Lynley, den Blick auf den Bildschirm gerichtet. »Hier ist überhaupt nichts. Wissen Sie, wie man E-Mails zurückverfolgt? Ist es möglich, dass irgendwo alte E-Mails versteckt sind?«
»Das fragen Sie mich? Wo ich mich gerade erst ans Handy gewöhnt habe?«
»Wir müssen sie finden, wenn welche da sind.«
»Dann müssen wir den Computer mitnehmen«, sagte Barbara.
»In London macht uns das bestimmt jemand im Handumdrehen.«
»Ja, bestimmt«, stimmte Lynley zu. Er sah die Fotos durch, die sie ihm in die Hand gedrückt hatte, aber er wirkte zerstreut.
»Georgia Ramsbottom und der liebe Teddy waren anscheinend eine Zeit lang ein Paar«, sagte Barbara.
»Sechzigjährige Frauen, die sich gegenseitig totfahren?«, erkundigte sich Lynley.
»Warum nicht?«, meinte Barbara. »Es würde mich interessieren, ob ihr Wagen eine Delle hat.«
»Irgendwie bezweifle ich das«, sagte Lynley.
»Aber wir sollten nachsehen. Ich finde, wir dürfen nicht-«
»Ja, ja, wir überprüfen es. Der Wagen steht bestimmt auf dem Parkplatz.« Aber sein Ton war desinteressiert, und es gefiel Barbara gar nicht, wie er die Fotos, ohne ihnen weitere Beachtung zu schenken, aus der Hand legte und sich entschlossen wieder dem Computer zuwandte. Er loggte sich aus, schaltete das Gerät ab und ging daran, die Stecker herauszuziehen. »Wir werden Mrs. Davies' Spur im Internet verfolgen«, sagte er. »Kein Mensch geht online, ohne Fußstapfen zu hinterlassen.«
»Sahnehöschen.« Chief Inspector Eric Leach verzog keine Miene. Er war seit sechsundzwanzig Jahren bei der Polizei und wusste längst, dass man in diesem Metier ein gewaltiger Dummkopf sein musste, um sich einzubilden, man hätte alles gehört und gesehen, was die lieben Mitmenschen an Abartigkeiten zu bieten hatten. Dennoch - das hier war ein echter Kracher. »Sagten Sie Sahnehöschen, Mr. Pitchley?«
Sie befanden sich in einem Vernehmungszimmer der Polizeidienststelle: J. W. Pitchley, sein Anwalt - ein Zwerg namens Jacob Azoff mit üppig behaarten Nasenlöchern und einem großen Kaffeefleck auf der Krawatte -, ein Constable namens Stanwood und Leach, der die Vernehmung leitete, dabei Halspastillen lutschte und sich missmutig fragte, wann sein Immunsystem sich endlich darauf einstellen würde, dass er wieder ein Singledasein führte. Nur ein langer Abend im Pub und sämtliche der Wissenschaft bekannte Viren fielen über ihn her.
Pitchleys Anwalt hatte keine zwei Stunden vor dieser Sitzung angerufen. Sein Mandant wolle eine Aussage machen, hatte er Leach kurz mitgeteilt, und wünsche die Garantie, dass diese absolut vertraulich behandelt würde. Mit anderen Worten, Pitchley wolle auf keinen Fall, dass die Presse von seinem Namen Wind bekomme, und wenn auch nur die geringste Gefahr bestünde, dass man der Presse seinen Namen mitteilen würde… und so weiter und so fort. Gähn, gähn.
»Er kennt das Verfahren«, hatte Azoff in bedeutungsschwerem Ton gesagt. »Wenn wir also zu einer Vereinbarung bezüglich der Vertraulichkeit dieses Gesprächs gelangen können, Chief Inspector, dann denke ich, können Sie sich darauf verlassen, dass mein Mandant sich aufrichtig bemühen wird, Ihnen bei Ihren Ermittlungen behilflich zu sein.«
Wenig später waren Pitchley und sein Anwalt eingetroffen und wie verdeckte Ermittler durch die Hintertür in die Dienststelle geführt worden. Nachdem sie die Erfrischungen bekommen hatten, die sie wünschten - frischen Orangensaft und Mineralwasser mit Limette, nicht Zitrone, bitte -, hatte man im Vernehmungsraum Platz genommen, wo Leach den Rekorder eingeschaltet und Datum, Uhrzeit sowie die Namen aller Anwesenden zu Protokoll gegeben hatte.
Bisher unterschied sich Pitchleys Aussage in nichts von dem, was er ihnen in der vergangenen Nacht erzählt hatte, er war lediglich in Bezug auf Namen und Örtlichkeiten etwas präziser geworden. Leider jedoch konnte er neben den Pseudonymen der Gespielinnen, mit denen er sich im Comfort Inn zu treffen pflegte, nicht mit einem einzigen richtigen Namen einer Person aufwarten, die seine Story hätte bestätigen können.
Verständlicherweise verwundert, fragte Leach: »Mr. Pitchley, wie kommen Sie auf die Idee, dass wir diese Frau ausfindig machen können? Wenn sie nicht einmal bereit war, dem Kerl, mit dem sie gebumst hat -«
»Dieser Ausdruck wird bei uns nicht gebraucht«, warf Pitchley verärgert ein.
»- ihren Namen zu nennen, wieso sollte sie dann ausgerechnet der Polizei gegenüber entgegenkommender sein? Sagt es Ihnen denn gar nichts, dass sie ihren Namen verheimlicht?«
»Bei uns ist das immer -«
»Lässt das nicht vermuten, dass sie auf keine andere Art als durch das Internet gefunden werden will!«
»Das gehört doch zum Spiel, dass wir -«
»Und wenn sie nicht gefunden werden will, könnte das dann nicht vielleicht heißen, dass es da jemanden gibt - einen Ehemann, zum Beispiel -, der nicht mit Begeisterung reagieren würde, wenn plötzlich ein Typ, der's vor kurzem mit seiner Frau getrieben hat, mit Blumen und Pralinen vor der Tür steht, weil er hofft, dass sie sein Alibi bestätigt?«
Pitchley wurde immer blasser und Leach immer ungeduldiger. Unter viel Stottern und Stammeln hatte der Mann zugegeben, dass er sich damit vergnügte, über das Internet mit älteren Frauen Kontakt aufzunehmen, die niemals ihren Namen nannten und niemals den seinen erfuhren. Pitchley behauptete, sich nicht erinnern zu können, mit wie vielen Frauen er sich seit der Einführung von E-Mail und Chatrooms getroffen habe. Er hätte die einzelnen Cybernamen nicht mehr im Kopf, sagte er, aber er könne schwören, dass er bei jedem persönlichen Zusammentreffen, das zu Stande gekommen war, nach gleicher Weise verfahren sei: Drinks und Abendessen im Valley of Kings in South Kensington, danach mehrere Stunden kreativer Sex im Comfort Inn.
»Dann wird man sich ja entweder im Restaurant oder Hotel an Sie erinnern?«, meinte Leach.
Da könnte es, erwiderte Pitchley einigermaßen niedergeschlagen, ein Problem geben. Die Kellner im Valley of Kings seien Ausländer, ebenso der Nachtportier im Comfort Inn. Und Ausländer hätten nun mal meist kein Gedächtnis für englische Gesichter, nicht wahr? Denn Ausländer - »Zwei Drittel der Bewohner Londons sind Ausländer«, fiel Leach ihm ins Wort. »Wenn Sie uns nichts zu bieten haben, was wirklich Hand und Fuß hat, Mr. Pitchley, verschwenden wir alle hier nur unsere Zeit.«
»Darf ich Sie daran erinnern, Chief Inspector, dass Mr. Pitchley aus reinem Entgegenkommen hier ist«, schaltete sich Jake Azoff ein, dem von dem bestellten Saft ein Fitzelchen Orangenmark wie gefärbter Vogelkot im Schnauzer hing. »Etwas mehr Höflichkeit würde sein Erinnerungsvermögen vielleicht anregen.«
»Ich nahm an, Mr. Pitchley sei hergekommen, weil er seiner Aussage von gestern Abend noch etwas hinzuzufügen hat«, erwiderte Leach. »Bisher tischt er uns hier aber nur Variationen zu einem Thema auf und reitet sich damit höchstens noch tiefer in den Schlamassel, in dem er bereits steckt.«
»Das ist nun wirklich völlig unzutreffend«, entgegnete Azoff pikiert.
»Finden Sie? Dann darf ich Sie vielleicht aufklären. Wenn ich recht gehört habe, hat Mr. Pitchley uns soeben informiert, dass es sein Hobby ist, über das Internet Frauen über fünfzig anzumachen und ins Bett zu lotsen. Er hat uns ferner mitgeteilt, dass er auf diesem Gebiet so stattliche Erfolge verzeichnen kann, dass er gar nicht mehr zählen kann, wie viele Frauen er mit seinen besonderen erotischen Talenten beglückt hat. Habe ich Recht, Mr. Pitchley?«
Pitchley setzte sich von einer Gesäßbacke auf die andere und trank von seinem Wasser. Sein mausbraunes Haar, zwei schwungvolle Wellen zu beiden Seiten des Mittelscheitels, fiel ihm ins Gesicht, als er nickte. Er hielt den Kopf gesenkt. Ob aus Verlegenheit, Bedauern oder um sich nicht in die Karten sehen zu lassen - wer konnte das sagen?
»Gut. Dann fahren wir fort. Also, in der Straße, in der Mr. Pitchley wohnt, in der Tat gar nicht weit von seiner Wohnung, wird eine ältere Frau überfahren. Zufällig hat diese Frau einen Zettel mit Mr. Pitchleys Adresse bei sich. Was würden Sie daraus schließen?«
»Gar nichts«, antwortete Azoff.
»Natürlich nicht. Aber meine Aufgabe ist es, Schlussfolgerungen zu ziehen. Und ich gelange zu dem Schluss, dass diese Dame auf dem Weg zu Mr. Pitchleys Wohnung war.«
»Wir haben mit keinem Wort bestätigt, dass Mr. Pitchley diese Frau erwartete oder auch nur kannte.«
»Und wenn sie tatsächlich auf dem Weg zu ihm war, dann hat Mr. Pitchley selbst uns einen prächtigen Grund für einen solchen Besuch genannt.« Leach beugte sich vor, um Pitchley stärker unter Druck zu setzen und ihm besser unter das herabhängende Haar sehen zu können. »Sie war ziemlich genau in dem Alter, in dem Sie sie mögen, Pitchley. Zweiundsechzig. Gut erhalten - soweit das noch feststellbar war. Geschieden. Nicht wieder verheiratet. Keine Kinder zu Hause. Es würde mich interessieren, ob sie sich einen Computer angeschafft hatte, um sich die einsamen Abende da draußen in Henley zu verkürzen…«
»Das ist völlig ausgeschlossen«, erklärte Pitchley entschieden.
»Keine erfährt je, wo ich wohne. Sie haben keine Ahnung, wohin ich verschwinde, wenn wir - nachdem wir… also, ich meine, wenn's vorbei ist.«
»Sie vögeln sie und hauen dann ab«, sagte Leach. »Klasse. Aber was ist, wenn einer der Damen dieses Arrangement nicht gepasst hat? Wenn sie Ihnen nach Hause gefolgt ist? Natürlich nicht gestern Abend, aber an irgendeinem anderen Abend. Sie ist Ihnen gefolgt, hat festgestellt, wo Sie wohnen, und dann, als Sie sich nie wieder gemeldet haben, nur auf den rechten Moment gewartet, um Sie zu stellen.«
»Unmöglich. Das geht gar nicht.«
»Wieso nicht?«
»Weil ich nie direkt nach Hause fahre. Ich fahre immer erst mindestens eine halbe Stunde kreuz und quer herum - manchmal auch eine ganze Stunde -, um ganz sicherzugehen…« Er hielt inne und schaffte es, ein halbwegs verlegenes Gesicht wegen seines Geständnisses zu machen. »Ich fahre durch die Gegend, um dafür zu sorgen, dass mir keine am Auspuff hängt.«
»Sehr weise«, sagte Leach ironisch.
»Ich weiß, wie das klingt. Ich weiß, das hört sich an, als wär ich der letzte Dreck. Und wenn ich das bin, dann bin ich's eben. Aber ich bin jedenfalls keiner, der eine Frau totfährt, und das wissen Sie, verdammt noch mal, auch ganz genau, wenn Sie meinen Wagen untersucht haben und nicht stattdessen eine Spritztour mit ihm gemacht haben. Und ich möchte meinen Wagen jetzt gefälligst zurück haben, Inspector Leach.«
»Ach ja?«
»Ach ja! Ganz recht. Sie wollten was von mir wissen, und ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß. Ich habe Ihnen gesagt, wo ich gestern war, was ich gemacht habe und mit wem ich zusammen war.«
»Mit einer Dame namens Sahnehöschen, deren wahrer Name Ihnen unbekannt ist.«
»Na schön, ich geh noch mal online. Ich werde sie schon dazu kriegen, sich zu melden, wenn Sie solchen Wert darauf legen.«
»Das traue ich Ihnen sogar zu«, sagte Leach. »Aber nach allem, was Sie uns erzählt haben, wird das nicht viel helfen.«
»Wieso nicht? Ich kann ja wohl nicht an zwei Orten zugleich sein.«
»Nein, das sicher nicht. Aber auch wenn die besagte Dame Ihre Aussage bestätigt, werden Lücken bleiben, weil sie uns ja nicht sagen können wird, wohin Sie nach dem Stelldichein mit ihr gefahren sind. Da wird also mindestens eine halbe, wenn nicht eine ganze Stunde Ihres Tuns offen bleiben. Und wenn Sie jetzt behaupten, sie könnte Ihnen gefolgt sein, begeben Sie sich auf sehr dünnes Eis, Meister. Denn wenn sie Ihnen hätte folgen können, dann hätte Ihnen nach einem ebensolchen Stelldichein auch Eugenie Davies folgen können.«
Pitchley stieß sich so heftig vom Tisch ab, dass die Beine seines Stuhls laut quietschend über den Fußboden schrammten.
»Wer?«, rief er mit heiserer Stimme. »Wer, sagen Sie?«
»Eugenie Davies. Die Tote.« Noch während Leach sprach, erkannte er, was der Ausdruck im Gesicht des anderen zu bedeuten hatte. »Sie haben sie gekannt. Und unter diesem Namen. Sie haben sie gekannt, Mr. Pitchley?«
»O Gott. Scheiße«, stöhnte Pitchley.
Azoff sagte blitzschnell »Fünf Minuten Pause« zu seinem Mandanten.
Bevor Pitchley antworten konnte, klopfte es, und gleich darauf streckte eine Beamtin den Kopf zur Tür herein. »Inspector Lynley ist am Telefon, Sir«, sagte sie zu Leach. »Jetzt oder später?«
»Fünf Minuten«, sagte Leach kurz zu Pitchley und Azoff. Er nahm seine Papiere und ging hinaus.
Das Leben war nicht ein Strom fortlaufender Entwicklung, obwohl es in genau dieser Verkleidung daherkam. In Wirklichkeit war das Leben ein Karussell. In der Kindheit sprang man auf den Rücken eines galoppierenden Ponys und begab sich auf eine Reise, in deren Verlauf, glaubte man, die Dinge sich ständig verändern würden. Aber in Wahrheit war das Leben eine endlose Wiederholung der immer gleichen Erlebnisse - ununterbrochen im Kreis ging es auf diesem Pony, immer hinauf und hinunter. Und wenn man sich den Herausforderungen, die einem unterwegs begegneten, nicht stellte, so traten sie einem bis ans Ende seiner Tage in dieser oder jener Form immer wieder in den Weg. Wenn J. W. Pitchley zuvor nicht so recht an diese Vorstellung geglaubt hatte, so war er jetzt davon überzeugt.
Er stand draußen auf der Treppe vor dem Polizeirevier Hampstead und hörte sich einen hitzigen Monolog Jake Azoffs zum Thema Vertrauen und Wahrhaftigkeit in der Beziehung zwischen Anwalt und Mandant an. Azoff schloss mit den Worten: »Glauben Sie im Ernst, ich hätte auch nur einen Fuß in diese verdammte Polizeidienststelle gesetzt, wenn ich gewusst hätte, was Sie verheimlichen, Sie Wahnsinniger? Sie haben mich zum Narren gehalten. Ist Ihnen klar, wie sich das auf meine Glaubwürdigkeit bei den Bullen auswirkt?«
Pitchley hätte am liebsten gesagt, im Moment gehe es überhaupt nicht um Azoff, aber er ließ es sein. Als er schwieg, fühlte sich der Anwalt ermutigt, verächtlich zu fragen: »Also, wie darf ich Sie für die restliche Zeit unserer geschäftlichen Beziehung nennen, Sir? Pitchley oder Pitchford?«
»Pitchley ist absolut legal«, erwiderte J. W. Pitchley. »Ich habe meinen Namen gesetzlich ändern lassen, Jake.«
»Kann schon sein«, gab Azoff zurück. »Aber ich möchte Gründe und Umstände vor achtzehn Uhr schriftlich auf meinem Schreibtisch haben, sei es per Fax, E-Mail, Kurier oder Brieftaube. Dann werden wir sehen, wie es mit unserer geschäftlichen Beziehung weitergeht.«
J. W. Pitchley, alias James Pitchford, alias Die Zunge, nickte wie ein braver Junge, obwohl er genau wusste, dass das alles nur heiße Luft war. Jake Azoff, der eine so schauderhafte Art hatte, mit Geld umzugehen, hätte keinen Monat ohne einen fachmännischen Berater existieren können, der sich um seine Finanzen kümmerte. Wenn er jetzt Pitchley-Pitchford verstieße, der seit so vielen Jahren und mit so viel trickreicher Raffinesse seine Interessen auf dem Steuersektor wahrnahm, würde er sehr schnell in die gierigen Hände des Finanzamt fallen, was er natürlich keinesfalls wollte. Aber er musste Dampf ablassen, und J. W. Pitchley, vormals James Pitchford, konnte es ihm im Grunde nicht übel nehmen. Er sagte darum nur: »In Ordnung, Jake. Tut mir Leid, dass ich Ihnen diese unangenehme Überraschung bereitet habe«, und ließ es schweigend geschehen, dass Azoff eingeschnappt seinen
Mantelkragen gegen den kalten Wind hochklappte und ging.
Er selbst machte sich, da er keinen Wagen zur Verfügung hatte und Azoff sich nicht erboten hatte, ihn nach Hause zu fahren, missmutig auf den Weg zum Bahnhof in der Nähe von Hampstead Heath. Wenigstens, sagte er sich zum Trost, während er sich innerlich gegen die Fahrt in einem der unappetitlichen Züge wappnete, war es nicht die Untergrundbahn. Und es hatte seit gut einer Woche kein Zugunglück mehr gegeben, obwohl man den Eindruck nicht los wurde, dass die verschiedenen Eisenbahngesellschaften sich gegenseitig an Unfähigkeit zu überbieten suchten.
Er ging den Downshire Hill hinauf und bog nach rechts in den Keats Grove ein, wo beim Haus des Dichters, der dem Ort den Namen gegeben hatte, eine Frau mittleren Alters mit einer schweren Aktentasche, deren Gewicht ihre Schulter nach unten zog, aus dem Park trat. Pitchley- Pitchford ging langsamer, als sie sich nach rechts wandte, in die gleiche Richtung wie er. Zu einer anderen Zeit wäre er ihr nachgelaufen, um ihr die Tasche abzunehmen. So was gehörte sich einfach für einen Gentleman.
Ihre Fesseln waren eine Spur zu dick, sonst aber war sie genau so, wie er Frauen gern hatte: ein wenig verbraucht, ein wenig abgetakelt, mit dem etwas gehemmten, geistig interessierten Ausdruck im Gesicht, der nicht nur ein angenehmes Maß an Intelligenz versprach, sondern auch jenen Mangel an Vertrauen in die eigene Attraktivität, den er so anregend fand. Stets entpuppten sich die Frauen aus dem Chatroom als solche, wenn er sie schließlich persönlich traf, und das war der Grund, warum er wider besseres Wissen und trotz der Gefahr, sich mit irgendeiner scheußlichen Krankheit zu infizieren, immer wieder auf Internetbekanntschaften zurückgriff. Und obwohl nach dem, was er soeben bei der Polizei in Hampstead erlebt hatte, die Vernunft ihm sagte, dass es hirnverbrannt war, weitere anonyme Begegnungen mit Frauen zu suchen, hatte der andere Teil seiner Persönlichkeit - das Reptil in ihm - überhaupt keine Lust, aus Schaden klug zu werden und in Zukunft die vertrauten Spielchen zu lassen. Es gibt wirklich Dinge, die mehr Gewicht haben als ein bisschen Ärger mit der Polizei, James, hielt das Reptil ihm vor. Denk beispielsweise nur einen Moment lang an die köstliche Lust, die die verschiedenen Öffnungen des weiblichen Körpers zu bereiten und zu empfangen vermögen.
Aber dies war nicht der Moment, sich Fantasien hinzugeben. Tatsache war, dass die Tote in Crediton Hill, die seine Adresse bei sich gehabt hatte, Eugenie Davies gewesen war, die er früher einmal gekannt hatte.
Damals hieß er James Pitchford, war fünfundzwanzig Jahre alt, hatte drei Jahre zuvor sein Studium abgeschlossen und ein Jahr zuvor ein Miniapartment von der Größe einer Rumpelkammer in Hammersmith aufgegeben. Ein Jahr in dieser Unterkunft ermöglichte es ihm, eine Sprachenschule zu besuchen, wo er für eine exorbitante Summe, die wieder hereinzuholen er Jahre brauchte, den dringend notwendigen Einzelunterricht in seiner Muttersprache nahm, der ihn für Geschäftsverhandlungen, den Umgang mit den besseren Kreisen und die Demontage hochnäsiger Hotelportiers fit machen sollte.
Von dort aus ergatterte er seinen ersten Job in der City, und da machte sich eine Adresse in Zentrallondon natürlich absolut hervorragend. Da er niemals Kollegen zu sich einlud, sei es auf einen Drink oder zum Abendessen oder aus anderem Anlass, erfuhr niemand, dass die Briefe und aufwändigen Einladungen, die an eine feudale Adresse in Kensington abgeschickt wurden, in einem Mansardenzimmer landeten, das noch kleiner war als das Apartment in Hammersmith, in dem er angefangen hatte.
Aber er nahm die Beengtheit seines kleinen Zimmers gern in Kauf, nicht nur um der guten Adresse, sondern auch um der Gemeinschaft willen, die er in diesem Haus fand. In der Zeit nach den Tagen am Kensington Square hatte J. W. Pitchley sich darin geübt, nicht an diese Gemeinschaft zu denken. Für James Pitchford jedoch, der sie genossen hatte und ihr den Erfolg seiner Bemühungen, sich selbst neu zu erfinden, zuschrieb, hatte es kaum einen Moment gegeben, in dem er nicht wenigstens flüchtig an dieses oder jenes Mitglied des häuslichen Kreises dachte. Vor allen anderen an Katja.
»Du kannst mir bitte helfen, besser Englisch zu sprechen?«, hatte sie ihn gefragt. »Ich bin ein Jahr hier. Ich lerne nicht so gut, wie ich möchte. Ich wäre dir so dankbar.« Ihr etwas harter Akzent war die charmante Variante der grässlichen Cockney-Laute, die loszuwerden er so hart geschuftet hatte.
Er sagte ihr seine Hilfe zu, weil sie in ihrem Bitten so ernsthaft war. Er sagte sie ihr zu, weil sie beide - obwohl sie das nicht wissen konnte und er sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als es ihr zu verraten - vom selben Schlag waren. Ihre Flucht aus Ostdeutschland, wenn auch weit dramatischer und beeindruckender, spiegelte seine eigene frühere Flucht wider. Die Motive mochten unterschiedlicher Art sein, der Kern war derselbe.
Er und Katja sprachen die gleiche Sprache. Wenn er ihr mit simplen Grammatik- und Ausspracheübungen helfen konnte, an Boden zu gewinnen, tat er das gern.
Sie setzten sich in Katjas Freizeit zusammen, wenn Sonia schlief oder bei ihrer Familie war. Sie trafen sich in seinem oder ihrem Zimmer, wo jeder einen Tisch hatte, auf dem die Grammatikbücher und das Tonbandgerät für ihre Sprechübungen knapp Platz hatten. Sie nahm es sehr ernst mit ihren Bemühungen um richtige Betonung, Aussprache und Artikulation. Ihre Bereitschaft, in einer Sprache zu experimentieren, die ihr so fremd war wie Yorkshirepudding, zeigte viel Mut. Dieser Mut war das Erste, was James Pitchford an Katja Wolff bewunderte. Die Kühnheit, die sie über die Berliner Mauer getragen hatte, war der Stoff, aus dem Helden gemacht wurden; er wollte ihr nacheifern.
Ich werde mich deiner würdig erweisen, schwor er ihr insgeheim, wenn sie beieinander saßen und sich mit den Tücken der unregelmäßigen Verben plagten. Und im gelben Lichtschein, der auf die herabfiel, stellte er sich vor, er würde ihr seidiges blondes Haar berühren, seine Finger hindurchziehen, seine Weichheit auf seiner nackten Brust spüren, wenn diese tolle Frau sich aus seiner Umarmung erhob.
Das Babyfon, das immer auf der Kommode lag, pflegte James Pitchford gnadenlos aus diesen Träumereien zu reißen. Zwei Stockwerke tiefer wimmerte das Kind, und Katja hob den Kopf von den Büchern.
»Es ist nichts«, sagte er jedes Mal, weil er nicht wollte, dass diese gemeinsame Stunde, die ihm so viel bedeutete und ohnehin schon viel zu kurz war, endete.
»Es ist die Kleine. Ich muss gehen«, sagte Katja.
»Warte noch.« Er nutzte die Gelegenheit, um seine Hand auf die ihre zu legen.
»Ich kann nicht, James. Wenn sie weint und Mrs. Davies merkt, dass ich nicht bei ihr bin… Du kennst sie doch. Das ist nun mal mein Job.«
Job?, dachte er. Sklavenarbeit war das. Zu jeder Tagesund Nachtzeit verfügbar sein, alles tun, was gerade anfiel. Die Betreuung eines Kindes, das ständig krank war, verlangte mehr als die gutwilligen Bemühungen einer jungen Frau, die praktisch keine Erfahrung hatte.
Selbst mit seinen fünfundzwanzig Jahren sah James Pitchford ganz klar, dass Sonia Davies professionelle Pflege brauchte. Warum sie die nicht bekam, war eines der Rätsel in diesem Haus. Aber er war nicht berufen, diesem Rätsel auf den Grund zu gehen. Er musste den Kopf unten und sich selbst im Hintergrund halten.
Wenn aber Katja mitten in der Englischstunde aufsprang, um sich um das Kind zu kümmern, wenn er sie in der Nacht aus dem Bett stolpern und die Treppe hinunterlaufen hörte, weil das kleine Mädchen Hilfe brauchte, wenn er bei der Heimkehr von der Arbeit Katja damit beschäftigt fand, das Kind zu füttern, zu baden, auf diese oder jene Weise zu beschäftigen und zu unterhalten, dachte er oft, die arme Kleine hat doch eine Familie. Was tut die denn für sie?
Nichts, fand er. Sonia Davies wurde Katjas Obhut überlassen, während die anderen um Gideon herumtanzten.
Konnte man ihnen das zum Vorwurf machen, fragte sich James. Und selbst wenn ja, hatten sie denn eine Wahl? Die Familie hatte sich schon lange vor Sonias Geburt in das Unternehmen Gideon gestürzt. Sie hatte sich bereits auf einen Weg festgelegt, und die Anwesenheit Raphael Robsons und Sarah-Jane Becketts in ihrem Kreis war der beste Beweis dafür.
Mit dem Gedanken an Robson und die Beckett trat Pitchley-Pitchford in die Bahnhofshalle und warf die erforderlichen Münzen in den Fahrkartenautomaten. Auf dem Weg zum Bahnsteig beschäftigte ihn die erstaunliche Tatsache, dass er seit Jahren weder an Robson noch an Sarah-Jane Beckett gedacht hatte. Bei Robson war das vielleicht nicht weiter verwunderlich, da der Geigenlehrer ja nicht im Haus gelebt hatte. Aber es war schon merkwürdig, dass er in all den Jahren Sarah-Jane Beckett nicht einmal einen flüchtigen Gedanken gewidmet hatte. Sie war schließlich immer sehr präsent gewesen.
»Ich finde meine Position hier durchaus angemessen«, erklärte sie ihm bald nach ihrer Einstellung in dieser etwas verschrobenen, präviktorianischen Art, in der sie sich auszudrücken pflegte, wenn sie die Gouvernante herauskehrte. »Gideon mag bisweilen schwierig sein, aber er ist ein bemerkenswerter Schüler, und ich fühle mich geehrt, unter neunzehn Kandidaten ausgewählt worden zu sein, ihn zu unterrichten.«
Sie war gerade erst ins Haus gekommen und würde wie er in einem Zimmerchen in der Mansarde wohnen. Sie würden sich ein winziges Badezimmer teilen müssen, keine Wanne, nur eine Dusche, in der ein Mann von durchschnittlichem Körperbau sich kaum drehen konnte. Sie hatte das gleich an dem Tag gesehen, als sie eingezogen war, entsetzt vermerkt, aber schließlich mit Märtyrermiene seufzend akzeptiert.
»Ich wasche keine Wäsche im Badezimmer«, teilte sie ihm mit, »und es wäre mir angenehm, wenn Sie das ebenfalls unterlassen würden. Wenn wir in solchen Kleinigkeiten aufeinander Rücksieht nehmen, werden wir gewiss gut miteinander auskommen. Woher kommen Sie, James? Ich weiß nicht recht, wo ich Sie unterbringen soll. Normalerweise habe ich ein sehr gutes Ohr für Dialekte. Mrs. Davies ist zum Beispiel in Hampshire aufgewachsen. Haben Sie ihr das nicht angehört? Sie ist mir recht sympathisch. Mr. Davies auch. Aber der Großvater! Der scheint mir etwas . Nun ja. Man soll ja nichts Schlechtes sagen, aber…« Sie tippte sich mit dem Finger an die Stirn und verdrehte die Augen zur Zimmerdecke.
Der hat 'nen Sprung in der Schüssel, hätte James zu einer anderen Zeit in seinem Leben gesagt. Nun aber sagte er: »Ja, er ist ein komischer Vogel, nicht wahr? Gehen Sie ihm einfach aus dem Weg. Er ist im Grunde genommen völlig harmlos.«
Etwas über ein Jahr lebte man in friedlicher Gemeinschaft unter einem Dach. James ging, genau wie Richard und Eugenie Davies, jeden Morgen zur Arbeit, während die beiden Alten zu Hause blieben. Großvater werkelte im Garten, und Großmutter kümmerte sich um den Haushalt. Raphael Robson beaufsichtigte Gideons Geigenspiel, Sarah-Jane Beckett unterrichtete den Jungen in sämtlichen Schulfächern von der Literatur bis zur Geografie.
»Die Arbeit mit diesem Jungen ist wirklich unglaublich«, berichtete sie ihm. »Er saugt das Wissen auf wie ein Schwamm. Man würde vielleicht vermuten, er wäre in allem außer der Musik hoffnungslos unbegabt, aber das stimmt nicht. Wenn ich ihn mit den Schülern in meinem ersten Jahr in Nord-London vergleiche .«
Wieder verdrehte sie, wie das ihre Gewohnheit war, die Augen, um ihrer Meinung Ausdruck zu geben: NordLondon, wo sich der Abschaum der Gesellschaft tummelte. Mehr als die Hälfte ihrer Schüler seien Schwarze gewesen, berichtete sie. Und die übrigen - hier eine effekthascherische Pause - Iren. »Nichts gegen Minderheiten, aber man muss ja bei seiner Arbeit nicht alles ertragen.«
Sie suchte seine Gesellschaft, wenn sie nicht mit Gideon zu tun hatte, forderte ihn zum Kinobesuch auf oder zu einem Bier oder Wein im Greyhound. »Rein freundschaftlich«, pflegte sie zu sagen, aber in der Dunkelheit des Kinosaals, wenn die Bilder über die Leinwand flimmerten, drückte sie an diesen »rein freundschaftlichen« Abenden oft ihr Bein an das seine, oder sie hakte sich bei ihm ein, wenn sie das Pub betraten, und ließ ihre Hand dann über seinen Bizeps und Ellbogen zu seinem Handgelenk hinuntergleiten, sodass ihre Finger, wenn sie einander begegneten, sich ganz von selbst verschränkten und so blieben.
»Erzähl mir von deiner Familie, James«, pflegte sie ihn zu drängen. »Komm schon. Ich will alles wissen.«
Und er erzählte Märchen, wie er sich das schon lange zur Gewohnheit gemacht hatte. Er fühlte sich geschmeichelt, dass sie, ein gebildetes Mädchen aus guter Familie, ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte. Er hatte so viele Jahre lang immer nur den Mund gehalten und den Kopf eingezogen, dass ihr Interesse an ihm eine Sehnsucht nach Gemeinschaft weckte, die er fast sein Leben lang unterdrückt hatte.
Doch sie war nicht die Gefährtin, die er suchte. Zwar hätte er nicht sagen können, was er suchte, aber es durchzuckte ihn keinerlei Verlangen, wenn Sarah-Jane ihn berührte, keine prickelnde Sehnsucht, mehr von ihr zu spüren als den Druck ihrer Finger, wenn sie seine Hand umfasste.
Dann kam Katja Wolff, und alles wurde anders. Aber Katja Wolff war ja auch ganz anders als Sarah-Jane Beckett.