Unmittelbar nach dem schwarzen Constable kam Naseesha Newland in den Laden und bot Yasmin einen willkommenen Anlass, den Polizisten zu ignorieren. Das junge Mädchen blieb höflich ein paar Schritte zurück, offensichtlich in der Annahme, der Mann sei geschäftlich hier und vor ihr an der Reihe, bedient zu werden. Die Newland-Kinder waren alle so gut erzogen und aufmerksam.
»Wie geht's deiner Mutter heute?«, fragte Yasmin das Mädchen, ohne den Constable zu beachten.
»Ganz gut bis jetzt«, antwortete Naseesha. »Sie war vor zwei Tagen wieder bei der Chemo, aber so schlimm wie's letzte Mal hat sie nicht mehr reagiert. Ich weiß zwar nicht, was das bedeutet, aber wir hoffen einfach das Beste. Sie wissen schon.«
Das Beste hieß noch fünf Jahre, mehr hatten die Arzte Mrs. Newland nicht versprechen können, als sie den Tumor in ihrem Gehirn entdeckt hatten. Ohne Behandlung noch anderthalb Jahre, erklärten sie. Mit Behandlung vielleicht fünf. Aber das wäre das Maximum, es sei denn, es geschähe ein Wunder, und Wunder waren in der Geschichte der Medizin dünn gesät. Yasmin fragte sich, wie man sich fühlte, wenn man sieben Kinder großzuziehen hatte und wusste, dass man zum Tod verurteilt war.
Sie holte Mrs. Newlands Perücke aus dem Hinterzimmer und trug sie auf dem Styroporkopf in den Laden.
Naseesha sagte: »Aber die sieht ja ganz anders -«
»Es ist eine neue«, unterbrach Yasmin. »Ich glaube, die Frisur wird deiner Mutter gefallen. Wenn nicht, bringst du die Perücke zurück, und wir machen ihr wieder die alte Frisur. Okay?«
Naseesha strahlte. »Das ist echt nett von Ihnen, Mrs. Edwards.«
Sie klemmte sich den Perückenkopf unter den Arm. »Vielen Dank. Das wird bestimmt eine Überraschung für Mama.«
Sie nickte dem Constable höflich zu und lief auf die Straße hinaus, ehe Yasrnin etwas erwidern konnte, um das Gespräch zu verlängern. Als die Tür hinter dem Mädchen zufiel, sah sie den Schwarzen an und wurde sich bewusst, dass sie sich nicht an seinen Namen erinnern konnte. Es war ihr eine Genugtuung.
Entschlossen, ihn weiterhin wie Luft zu behandeln, sah sie sich im Laden nach einer Arbeit um. Jetzt war vielleicht ein guter Moment, um ihren Schminkkoffer zu inspizieren und festzustellen, was sie nach der Verschönerung der sechs Frauen an Kosmetika nachbestellen musste. Sie holte den Koffer wieder heraus, öffnete die Schnappschlösser und begann, Cremes und Lotionen, Pinsel, Schwämmchen, Wimperntusche, Lidschatten, Lippenstifte, Rouge und Konturenstifte durchzusehen. Jedes Stück legte sie nach Begutachtung auf den Verkaufstisch.
Der Constable sagte: »Kann ich Sie kurz sprechen, Mrs. Edwards?«
»Sie haben mich gestern schon gesprochen. Und nicht nur kurz, wenn ich mich recht erinnere. Wer sind Sie überhaupt?«
»Kriminalpolizei.«
»Ich meine, wie heißen Sie? Ich weiß Ihren Namen nicht.«
Er nannte ihn ihr, und sie war irritiert. Ein Nachname, der auf seine Herkunft verwies, war ja in Ordnung. Aber dieser Vorname - Winston - offenbarte doch ein absolut würdeloses Verlangen, Engländer zu sein! Er war schlimmer als Colin oder Nigel oder Giles. Was hatten sich seine Eltern nur gedacht, als sie ihn Winston genannt hatten, als würde er einmal ein großer Politiker werden oder so was? Das war doch bescheuert.
»Ich muss arbeiten, wie Sie wohl selbst sehen können«, sagte sie. »Ich habe noch einen Termin -« Sie warf einen Blick in ihren Terminkalender, der für ihn zum Glück nicht einzusehen war. »In zehn Minuten. Was wollen Sie noch von mir? Machen Sie's kurz.«
Er war sehr groß und kräftig. Sie hatte diesen Eindruck schon am vergangenen Abend gehabt, erst im Aufzug und dann in der Wohnung. Aber irgendwie wirkte er heute, hier im Laden, noch wuchtiger, vielleicht weil sie mit ihm allein war, ohne Daniel als Ablenkung. Er schien den Raum auszufüllen, ein stattlicher Mann mit breiten Schultern und schmalen Händen, mit einem Gesicht, das freundlich wirkte - weil er sich freundlich gab, wie sie das alle taten -, trotz der langen Narbe auf der Wange.
»Nur eine Frage, Mrs. Edwards.« An seinem höflichen Ton war nichts auszusetzen. Er hielt Abstand, respektierte die Trennungslinie des Verkaufstischs, der zwischen ihnen stand. Aber anstatt auf die Frage zu kommen, die er angeblich hatte, sagte er: »Ich find's echt gut, dass in einer Straße wie der hier ein neues Geschäft aufmacht. Es ist doch jedes Mal ein Jammer, wenn wieder ein Laden schließt und mit Brettern vernagelt wird. Da ist es ein Glück, wenn jemand so einen kleinen Betrieb übernimmt, statt dass irgendein reicher Typ sämtliche Grundstücke aufkauft, dann mit der Abbruchstruppe anrückt und einen Supermarkt oder so was hinstellt.«
Sie ließ ein geringschätziges kleines Lachen hören. »Die Miete ist billig, wenn man bereit ist, sich auf einer Müllhalde niederzulassen«, sagte sie, als bedeutete es ihr gar nichts, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, sich etwas aufzubauen, wovon sie in den Jahren im Gefängnis nur hatte träumen können.
Nkata lächelte flüchtig. »Da haben Sie wahrscheinlich Recht. Aber die Nachbarn sind bestimmt froh. Das macht ihnen doch Hoffnung. Was bieten Sie denn den Leuten hier an?«
Was sie den Leuten hier anbot, war offensichtlich. An der Wand standen Styroporköpfe mit Perücken, und hinten war ein Arbeitsraum, wo sie sie frisierte. Er hatte beides im Blick, darum konnte sie seine Frage nicht für bare Münze nehmen, sondern hielt sie für einen plumpen Anbiederungsversuch. Sie betrachtete ihn mit einem kurzen, abschätzigen Blick und sagte: »Und was treiben Sie so als Bulle?«
Er zuckte die Achseln. »Was anfällt. Irgendwie muss man sich ja sein Geld verdienen.«
»Auf Kosten der Brüder.«
»Wenn's so läuft, kann man's nicht ändern.«
Es hörte sich an, als hätte er die Frage, was es für ihn bedeuten würde, eines Tages vielleicht einen der eigenen Leute festnehmen zu müssen, längst für sich geklärt. Es machte sie wütend, und sie sagte mit einer ruckartigen Kopfbewegung zu seinem Gesicht:
»Wo haben Sie sich das da geholt?«, als wäre die Narbe auf seiner Wange der gerechte Lohn dafür, dass er seine eigenen Leute im Stich gelassen hatte.
»Messerstecherei«, antwortete er. »Ich war damals fünfzehn und hab mir eingebildet, ich wäre der Größte. Ich hatte ein Riesenglück.« »Der andere Typ wahrscheinlich nicht, was?«
Er betastete die Narbe, als helfe es ihm, sich zu erinnern.
»Kommt drauf an, wie man Glück definiert.«
Sie prustete nur verächtlich und beugte sich wieder über den Schminkkoffer. Sie ordnete die Lidschatten nach Farbnuancen, zog Lippenstifthülsen ab, um sich auch hier an den Farben zu orientieren, klappte Rouge- und Puderdosen auf, prüfte den Inhalt jedes einzelnen Fläschchens der Flüssiggrundierung. Demonstrativ machte sie sich Notizen, füllte säuberlich ein Bestellformular aus und achtete dabei so gewissenhaft auf ihre Rechtschreibung, als hinge das Leben ihrer Kundinnen davon ab.
»Ich war damals bei einer Bande«, fügte Nkata erklärend hinzu. »Aber nach diesem Kampf bin ich ausgestiegen. Hauptsächlich wegen meiner Mutter. Als sie in der Notaufnahme mein Gesicht gesehen hat, ist sie umgefallen wie ein Baum. Danach musste sie mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus. Das hat mir gereicht.«
»Aha, Sie lieben Ihre Mama.« So ein Quatsch, dachte sie.
»Reine Notwehr«, erwiderte er.
Sie blickte verblüfft auf und sah, dass er lächelte, aber über sich selbst, wie es schien, nicht nur über sie.
»Ihr Sohn ist ein netter Junge«, sagte er.
»Lassen Sie meinen Sohn aus dem Spiel.« Sie war selbst überrascht, mit welcher Panik sie reagierte.
»Sein Vater fehlt ihm wahrscheinlich, hm?«
»Ich hab gesagt, halten Sie sich da raus!«
Nkata trat plötzlich an den Verkaufstisch. Er legte seine beiden Hände flach auf die Platte, als wollte er zeigen, dass er unbewaffnet sei. Aber Yasmin wusste es besser. Bullen hatten immer Waffen bei sich und wussten auch, sie zu gebrauchen. Wie jetzt Nkata. »Vor zwei Tagen ist nachts eine Frau umgekommen, Mrs. Edwards«, sagte er, »oben in Hampstead. Sie hatte auch einen Sohn.«
»Was hat das mit mir zu tun?«
»Sie ist überfahren worden. Sie wurde dreimal überrollt, vom selben Wagen.«
»Ich kenne niemanden in Hampstead. Ich komm nie nach Hampstead. Ich war noch nie in meinem Leben dort. Wenn ich mich dort blicken ließe, würde ich auffallen wie ein Kaktus in Sibirien.«
»Stimmt.«
Sie warf ihm einen scharfen Blick zu, erwartete, in seiner Miene den Sarkasmus zu finden, den sie in seiner Stimme nicht wahrnehmen konnte, und sah nur eine Zärtlichkeit in seinen Augen, von der sie genau wusste, was sie bedeutete. Es war eine Zärtlichkeit, die nur für den Augenblick künstlich war und nicht mehr besagte, als dass er es ihr gleich hier, im Laden, besorgen würde, wenn sie sich dazu überreden ließ, und wenn er meinte, damit ungestraft davonkommen zu können; dass er es ihr sogar dann besorgen würde, wenn er sie mit Gewalt dazu bringen müsste, weil es beweisen würde, dass er die Macht hatte.
Sie sagte: »So wie ich's gehört hab, arbeiten die Bullen ganz anders.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte er, und schaffte es, sie wirklich überrascht anzusehen.
»Sie wissen, was ich meine. Sie waren doch auf der Polizeischule, oder nicht? Bullen gehen immer davon aus, dass Knastbrüder auf die Methoden zurückgreifen, die ihnen vertraut sind, und das sind dann die Leute, die sie suchen, wenn ein Verbrechen begangen worden ist. Die begeben sich bei ihren Ermittlungen nicht auf völlig neues Terrain, wenn sie nicht unbedingt müssen, weil sie wissen, dass das Zeitverschwendung wäre.«
»Meiner Meinung nach verschwende ich meine Zeit hier nicht. Und ich hab so das Gefühl, dass Sie das wissen, Mrs. Edwards.«
»Ich hab Roger Edwards erstochen. Mit einem Messer. Ich hab ihn nicht mit dem Auto überfahren. Wir hatten zu der Zeit nicht mal ein Auto, Roger und ich. Wir hatten unseren Wagen verkauft, als uns das Geld ausging und Roger dringend was für seine Sucht tun musste.«
»Das tut mir echt Leid«, sagte Nkata. »Das muss schlimm für Sie gewesen sein.«
»Wenn Sie wissen wollen, was schlimm ist, dann probieren Sie's mal mit fünf Jahren im Knast.« Sie wandte sich von ihm ab und widmete sich wieder der Bestandsaufnahme ihrer Kosmetika.
Er sagte: »Mrs. Edwards, Sie wissen, dass ich nicht Ihretwegen hier bin.«
»Ich weiß nichts dergleichen, Constable. Aber Sie können jederzeit gehen, wenn Sie nicht mit mir reden wollen. Ich bin allein hier und werde allein sein, bis meine nächste Kundin kommt. Aber vielleicht wollen Sie ja mit der reden. Sie hat Eierstockkrebs, aber sie ist echt nett und sagt Ihnen bestimmt, wann ich das letzte Mal oben in Hampstead war. Deswegen sind Sie doch hier, oder? Weil eine Schwarze die Frechheit hatte, in Hampstead mit ihrem Auto rumzufahren, und jetzt regt sich das ganze Viertel darüber auf, und Sie versuchen rauszukriegen, wer's war.«
»Sie wissen genau, dass es nicht so ist.«
Er schien über unerschöpfliche Geduld zu verfügen, und Yasmin fragte sich, wie weit sie es noch treiben musste, ehe er wütend wurde.
Sie drehte ihm den Rücken zu. Sie hatte nicht die Absicht, ihm irgendetwas zu bieten, am wenigsten das, worauf er es offensichtlich abgesehen hatte.
Er sagte: »Was war mit Ihrem Jungen, während Sie im Gefängnis saßen, Mrs. Edwards?«
Sie fuhr so heftig herum, dass die Perlen an den Enden ihrer Zöpfe ihr gegen die Wangen schlugen. »Lassen Sie Daniel aus dem Spiel. Versuchen Sie bloß nicht, mich mit Daniel unter Druck zu setzen. Ich hab nichts getan, und das wissen Sie, verdammt noch mal, auch ganz genau!«
»Ja, ich denke, das ist wahr. Aber es ist auch wahr, dass Katja Wolff diese Frau kannte, Mrs. Edwards. Diese Frau, die in Hampstead überfahren wurde. Das war vor zwei Tagen, Mrs. Edwards, und Katja Wolff hat früher bei dieser Frau gearbeitet. Vor zwanzig Jahren. Am Kensington Square. Sie war die Kinderfrau ihrer kleinen Tochter. Wissen Sie, von welcher Frau ich spreche?«
Panik überfiel Yasmin wie ein wütender Bienenschwarm. »Aber Sie haben doch den Wagen gesehen!«, rief sie laut. »Erst gestern Abend. Sie haben gesehen, dass er nicht in einen Unfall verwickelt war.«
»Ich habe gesehen, dass einer der vorderen Scheinwerfer kaputt ist. Und weder Sie noch Katja Wolff konnten mir sagen, wie das passiert ist.«
»Katja hat niemanden überfahren! Bestimmt nicht. Oder wollen Sie behaupten, Katja könnte eine Frau überfahren, ohne dass dabei mehr zu Bruch geht als ein einziger Scheinwerfer?«
Er antwortete nicht, sondern ließ die Frage und alles, was sie einschloss, vibrierend in der Stille hängen. Sie erkannte ihren Fehler. Er hatte mit keinem Wort gesagt, dass Katja die Person war, die er suchte. Sie selbst, Yasmin, hatte das Gespräch zu diesem Punkt geführt.
Wütend über ihre Kopflosigkeit, begann sie, die Kosmetika, die zu ordnen sie sich solche Mühe gemacht hatte, in den großen Metallkoffer zurückzuwerfen.
»Ich glaube nicht, dass Katja zu Hause war, Mrs. Edwards«, sagte Nkata. »Jedenfalls nicht zu dem Zeitpunkt, als diese Frau überfahren wurde. Das war irgendwann zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht. Und ich denke, dass Katja Wolff genau um diese Zeit nicht bei Ihnen in der Wohnung war. Wie lange sie weg war, weiß ich nicht, vielleicht zwei Stunden oder drei, vielleicht auch vier oder sogar die ganze Nacht. Aber sie war weg, richtig? Und ebenso der Wagen.«
Sie antwortete nicht. Sie sah ihn nicht an. Sie tat, als wäre er gar nicht da, obwohl sie, nur durch den Verkaufstisch von ihm getrennt, beinahe seinen Atem fühlen konnte. Aber sie war entschlossen, sich von seiner Anwesenheit - und seinen Worten - nicht beeindrucken zu lassen. Trotzdem hatte sie rasendes Herzklopfen und sah nur Katjas Gesicht vor sich. Dieses Gesicht, das sie während der Selbstmordwache in der ersten Zeit nach ihrer Überführung nicht aus den Augen gelassen hatte; das sie beim gemeinschaftlichen Hofgang und beim Essen unverwandt beobachtet hatte; das schließlich - obwohl sie sich es niemals auch nur hätte träumen lassen, dass sie das wünschen würde - in der Dunkelheit über dem ihren schwebte. Verrat mir deine Geheimnisse. Dann verrat ich dir meine.
Sie wusste, warum Katja im Gefängnis war. Alle wussten es, auch wenn Katja selbst nie darüber gesprochen hatte. Was damals in Kensington geschehen war, gehörte nicht zu den Geheimnissen, die Katja Wolff preisgegeben hatte, und als Yasmin ein einziges Mal nach dem Verbrechen gefragt hatte, dessentwegen Katja so tief verabscheut wurde, dass sie jahrelang Vergeltungsmaßnahmen der anderen Frauen fürchten musste, hatte Katja gesagt:
»Glaubst du wirklich, ich würde ein Kind töten, Yasmin?«, und sich von Yasmin abgewandt.
Niemand wusste, wie es war, im Gefängnis zu sein, wo man sich nur für das eine oder das andere entscheiden konnte: Allein zu bleiben, trotz der Gefahren, die das mit sich brachte, oder den Schutz durch die Gemeinschaft zu suchen, indem man eine Gefährtin, Partnerin und Liebhaberin wählte - oder sich als solche wählen ließ. Allein zu bleiben hieß Isolation in der Isolation, und an der trostlosen Einsamkeit dieser Situation konnte eine Frau zerbrechen, sodass sie, endlich wieder auf freiem Fuß, zu nichts mehr taugte.
Yasmin hatte ihre Zweifel verdrängt und geglaubt, dass Katjas Worte bedeuteten: Katja Wolff war keine Kindermörderin; sie war überhaupt keine Mörderin.
»Mrs. Edwards«, sagte Constable Nkata in diesem freundlichen, Vertrauen erweckenden Ton, mit dem die Bullen stets versuchten, den Fuß in die Tür zu kriegen, bevor sie merkten, dass er nicht so wirkte, wie sie es sich wünschten. »Ich verstehe Ihre Situation. Sie waren lange Zeit mit ihr zusammen und konnten sich auf ihre Loyalität verlassen, als Sie im Gefängnis waren, und Loyalität ist eine gute Sache. Aber wenn ein Mensch ums Leben gekommen ist und ein anderer lügt -«
»Was wissen Sie schon von Loyalität?«, fuhr sie ihn an. »Was wissen Sie überhaupt, Mann? Sie führen sich hier auf, als wären Sie Gott persönlich, nur weil Sie Glück hatten und einen anderen Weg gegangen sind als wir anderen. Vom wahren Leben haben Sie doch keine Ahnung! Sie gehen immer auf Nummer sicher, aber lebendig macht Sie das nicht.«
Er betrachtete sie ruhig, und es schien, als könnte nichts, was sie sagte oder tat, diese innere Gelassenheit und Sicherheit stören. Sie hasste ihn für diese Ruhe, die er ausstrahlte, weil sie wusste, dass sie aus seinem tiefsten Inneren kam.
»Katja war zu Hause«, erklärte sie kurz und zornig. »Und jetzt hauen Sie endlich ab. Ich hab eine Menge Arbeit.«
Er sagte: »Was glauben Sie, wo sie an den Tagen war, an denen sie sich in der Wäscherei krankgemeldet hat, Mrs. Edwards?«
»Sie hat sich nicht krankgemeldet. Sie hat überhaupt nicht mit der Wäscherei telefoniert.«
»Hat sie Ihnen das gesagt?«
»Sie musste es mir gar nicht sagen.«
»Dann fragen Sie sie doch lieber mal. Und beobachten Sie ihre Augen, wenn sie Ihnen die Antwort gibt. Wenn sie Sie fixiert, lügt sie wahrscheinlich. Wenn sie Ihrem Blick ausweicht, lügt sie wahrscheinlich auch. Nach zwanzig Jahren im Knast hat sie bestimmt Übung im Lügen. Wenn sie also auf Ihre Fragen einfach mit dem weitermacht, was sie gerade tut, kann man davon ausgehen, dass sie ebenfalls lügt.«
»Ich hab gesagt, Sie sollen verschwinden«, sagte Yasmin. »Ich hab nicht die Absicht, es noch mal zu sagen.«
»Mrs. Edwards, Sie stecken in einer riskanten Situation, aber Sie sollten sich klar machen, dass sie nicht nur für Sie riskant ist, sondern auch für Ihren Sohn. Er ist ein netter Junge. Er ist gescheit, und er ist brav. Man merkt ihm an, dass er Sie mehr liebt als alles andere auf der Welt, und wenn irgendwas passiert, was Sie wieder von ihm trennt -«
»Raus!«, schrie sie. »Raus aus meinem Laden! Wenn Sie nicht auf der Stelle abhauen, werd ich -« Ja, was denn?, dachte sie völlig aufgelöst. Was, in Gottes Namen, würde sie tun? Ihn mit dem Messer niederstechen wie ihren Mann? Auf ihn losgehen? Ha! Und was würden sie dann mit ihr anstellen? Und mit Daniel? Was würde aus dem Jungen werden? Wenn sie Daniel ihr wegnähmen - ihn auch nur für einen Tag in Pflege gäben, während sie nach altbewährter Manier die Sache regelten -, nie könnte sie die Last der Verantwortung für seinen Schmerz und seine Verwirrung tragen.
Sie senkte den Kopf. Sie würde ihm ihr Gesicht nicht zeigen. Er konnte sehen, wie schwer sie atmete, er konnte den Schweiß auf der Haut ihres Nackens erkennen, aber mehr würde sie ihm nicht zeigen. Nicht um alles in der Welt, nicht um ihre Freiheit oder irgendwas anderes.
Unter den gesenkten Augenlidern hervor sah sie plötzlich seine dunkle Hand über den Verkaufstisch gleiten. Sie erschrak, aber dann begriff sie, dass er nicht die Absicht hatte, sie zu berühren. Vielmehr schob er ihr eine Visitenkarte hin und zog die Hand dann wieder zurück. Sehr leise sagte er: »Rufen Sie mich an, Mrs. Edwards. Auf der Karte steht meine Piepsernummer. Sie können sich jederzeit mit mir in Verbindung setzen, Tag und Nacht. Rufen Sie an, wenn Sie so weit sind -«
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.« Aber sie flüsterte nur.
»Jederzeit, Mrs. Edwards«, wiederholte er.
Sie sah nicht auf, aber das war auch nicht nötig. Sie hörte das Geräusch seiner Absätze auf dem gelben Linoleum, als er aus dem Laden hinausging. Nachdem sie und Lynley sich getrennt hatten, fuhr Barbara Havers ins Valley of Kings, wo es von dunkelhäutigen Kellnern aus Nahost wimmelte. Nachdem diese sich von ihrer kollektiven Entrüstung darüber erholt hatten, eine Frau in Uniform zu sehen statt im gewohnten schwarzen Bettlaken, studierten sie der Reihe nach den Schnappschuss von Eugenie Davies, den Barbara und Lynley nach längerem Suchen in dem Häuschen in der Friday Street aufgestöbert hatten. Sie hatte sich zusammen mit Ted Wiley auf jener Brücke fotografieren lassen, die das Tor zur Stadt Henley bildete, am Tag der Regatta, nach den flatternden Fähnchen, den Booten und den Menschenmengen im Hintergrund zu urteilen. Barbara hatte das Foto in der Mitte abgeknickt, um den Major verschwinden zu lassen. Wozu die Angestellten vom Valley of Kings durch das Konterfei eines Mannes durcheinander bringen, den sie gewiss nie gesehen hatten.
Aber auch so schüttelten sie einer nach dem anderen den Kopf. Keiner konnte sich erinnern, die Frau auf dem Foto irgendwann einmal gesehen zu haben.
Wenn sie hier gewesen war, dann zusammen mit einem Mann, erklärte Barbara hilfsbereit. Die beiden waren getrennt gekommen, aber mit der Absicht, sich zu treffen, möglicherweise in der Bar. Sie hatten aus ihrem Interesse aneinander keinen Hehl gemacht, und es hatte sich um sexuelles Interesse gehandelt.
Zwei der Kellner schienen fasziniert von diesem Detail, während die angewiderte Miene eines dritten deutlich sagte, dass in einem Sündenbabel wie London natürlich gar nichts anderes zu erwarten war als schamloses Verhalten dieses Art. Mehr brachte dieses Bemühen, den Leuten ein klares Bild zu zeichnen, Barbara nicht ein, und sie war schon bald wieder draußen auf der Straße, um als Nächstes das Comfort Inn anzupeilen.
Von dem Komfort, den der Name versprach, war kaum etwas zu finden, aber so war das nun mal mit preiswerten Hotels in belebten Großstadtstraßen. Auch hier zeigte sie das Bild von Eugenie Davies - dem Mann am Empfang, den Zimmermädchen und allen anderen Angestellten, die mit den Hotelgästen in Berührung kamen -, aber das Resultat war so negativ wie im Valley of Kings. Allerdings war der Nachtportier, der die Dame auf dem Foto am ehesten bemerkt hätte, wenn sie mit einem Geliebten hier aufgekreuzt wäre, noch nicht im Dienst, wie der Geschäftsführer Barbara mitteilte. Wenn sie also am Abend noch einmal wiederkommen wolle…
Etwas anderes, sagte sich Barbara, würde ihr gar nicht übrig bleiben. Man durfte nichts unversucht lassen.
Sie ging zu ihrem Wagen zurück, den sie verbotswidrig am Zugang zu einer begrünten Fußgängerzone geparkt hatte, setzte sich hinein, zündete sich eine Zigarette an und öffnete trotz der kühlen Herbstluft das Fenster einen Spalt, um den Rauch hinauszulassen. Sie rauchte versonnen, in Gedanken mit zwei Erkenntnissen beschäftigt: dass an Ted Wileys Auto nichts fehlte und dass niemand in diesem Viertel in South Kensington sich erinnern konnte, Eugenie Davies gesehen zu haben.
Was Wileys Wagen anging, schien die Schlussfolgerung auf der Hand zu liegen: So sehr Barbara vom Gegenteil überzeugt gewesen war, Ted Wiley hatte die Frau, die er liebte, nicht getötet. Hinsichtlich der Tatsache, dass niemand in der Gegend Eugenie Davies erkannt hatte, lagen die Dinge nicht ganz so klar. Eine mögliche Schlussfolgerung war, dass Eugenie Davies keinerlei Verbindung mehr zu J. W. Pitchley alias James Pitchford gehabt hatte, auch wenn sie früher einmal mit ihm unter einem Dach gelebt hatte; auch wenn sie zum Zeitpunkt ihres Todes seine Adresse bei sich gehabt hatte und ausgerechnet in der Straße überfahren worden war, in der er wohnte. Man konnte aber auch den Schluss ziehen, dass sehr wohl eine Verbindung zwischen den beiden bestanden hatte - jedoch nicht eine sexueller Natur, die zu geheimen Zusammenkünften im Valley of Kings und wilden Nächten im Comfort Inn geführt hatte. Oder dass die beiden seit langem ein Verhältnis gehabt und sich vor dem fraglichen Abend nie bei Pitchley-Pitchford zu Hause getroffen hatten, womit erklärt gewesen wäre, warum Eugenie seine Adresse in ihrer Handtasche gehabt hatte. Eine vierte Möglichkeit war, dass Eugenie Davies dank einem verrückten Zufall über Internet mit dem Mann namens Die Zunge - Barbara schauderte bei dem Gedanken an den Namen - in Kontakt gekommen war und sich wie alle seine Gespielinnen zu Drinks und Abendessen im Valley of Kings mit ihm getroffen hatte; dass sie ihm später heimlich nach Hause gefolgt und an einem anderen Abend zurückgekehrt war, um ihn zu treffen oder ihm aufzulauern.
Das Bedeutsame in diesem Zusammenhang waren die anderen Gespielinnen. Wenn Pitchley-Pitchford in dem Restaurant und dem Hotel Stammgast war, würde sicher jemand von den Angestellten ihn wieder erkennen, und es bestand die Chance, dass der Anblick seines Gesichts neben dem Eugenie Davies beim Betrachter eine Erinnerung auslöste, die für die Ermittlungen von Nutzen sein konnte. Um die Probe aufs Exempel zu machen, brauchte Barbara natürlich ein Foto von Pitchley- Pitchford, und es gab nur eine Möglichkeit, sich das zu besorgen.
Sie schaffte die Fahrt zum Crediton Hill in fünfundvierzig Minuten, wobei sie nicht zum ersten Mal wünschte, über die Stadtkenntnis eines Taxifahrers der seine Prüfung mit Auszeichnung bestanden hatte, zu verfügen. In der Straße war natürlich nirgendwo ein Parkplatz zu finden, aber vor den Häusern gab es Einfahrten, und Barbara stellte ihren Wagen kurzerhand in der zu Pitchleys Haus ab. Eine gute Gegend mit ansehnlichen Häusern, die darauf schließen ließen, dass hier niemand an akutem Geldmangel litt. Ganz so schick wie Hampstead selbst - mit Espressobars, schmalen Sträßchen und Künstleratmosphäre - war das Viertel zwar nicht, aber es war hübsch und gefällig, das richtige Ambiente für Familien mit Kindern, bestimmt nicht das richtige Ambiente für Mord.
Als Barbara aus ihrem Wagen stieg und am Haus emporsah, bemerkte sie am vorderen Fenster den Hauch einer Bewegung, doch als sie klingelte, blieb alles still. Das wunderte sie, denn der Raum, in dem sie die Bewegung wahrgenommen hatte, war schließlich nicht weit von der Haustür entfernt. Als sie ein zweites Mal klingelte, rief drinnen jemand: »Ich komm ja schon«, und gleich darauf wurde die Haustür von einem Mann geöffnet, der mit dem Online-Casanova ihrer Vorstellung überhaupt keine Ähnlichkeit hatte. Sie hatte einen eher schmierigen Typen erwartet, in zu enger Hose, bis zur Taille offenem Hemd und einem goldenen Medaillon auf der behaarten Brust. Der Mann, der ihr gegenüberstand, war schmal wie ein Windhund und weniger als einen Meter achtzig groß, mit grauen Augen und runden Wangen von robuster natürlicher Farbe, die er als junger Bursche bestimmt verwünscht hatte. Er hatte eine Blue Jeans an und ein gestreiftes Baumwollhemd mit Button- down-Kragen, der bis zum Hals zugeknöpft war. In der Hemdtasche steckte eine Brille, die Füße steckten in teuren Slipper.
Na, da hast du ja schön danebengehauen, dachte Barbara. Es war offensichtlich an der Zeit, ihre Freizeitlektüre einer kritischen Prüfung zu unterziehen; die Schmonzetten, die sie zu lesen pflegte, drohten, ihre Fantasie zu vergiften.
Sie zog ihren Dienstausweis und stellte sich vor. »Ich hätte Sie gern einen Moment gesprochen«, sagte sie.
»Nicht ohne meinen Anwalt«, antwortete Pitchley prompt und machte Anstalten, die Haustür zuzuschlagen.
Barbara streckte einen Arm aus und hielt die Tür auf. »Regen Sie sich nicht gleich so auf, Mr. Pitchley. Ich möchte nur ein Foto von Ihnen. Es kann Sie doch nicht weiter stören, mir eines zu geben, wenn Sie mit Eugenie Davies' Tod nichts zu tun haben.«
»Ich hab Ihnen eben gesagt -«
»Ja, ja, ich hab's gehört. Aber jetzt hören Sie mir mal zu: Ich kann natürlich sämtliche Hebel in Bewegung setzen, um das Foto zu bekommen, das ich brauche, aber ich sag Ihnen gleich, dass das Ihre Schwierigkeiten nur unnötig verlängern wird. Außerdem werden es Ihre Nachbarn bestimmt höchst unterhaltsam finden, wenn ich hier zusammen mit einem Polizeifotografen im Streifenwagen vorfahre. Mit heulender Sirene und Blaulicht, natürlich.«
»Das würden Sie nie wagen.«
»Wetten?«
Sein Blick huschte hin und her, während er überlegte. »Ich hab doch schon gesagt, dass ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich hab sie ja nicht mal erkannt, als ich den Leichnam sah. Warum glauben Sie und Ihre Kollegen mir nicht? Ich sag die Wahrheit.«
»Na, das ist doch wunderbar. Dann lassen Sie es mich allen, die es interessiert, beweisen. Ich weiß nicht, wie's meine Kollegen sehen, aber ich bin wirklich nicht scharf darauf, diesen Mord jemandem in die Schuhe zu schieben, der nichts damit zu tun hat.«
Er trat von einem Fuß auf den anderen wie ein Schuljunge. Mit der einen Hand hielt er immer noch die Tür fest und hob jetzt die andere Hand, um sie gegen den Türpfosten zu stützen.
Eine interessante Reaktion, dachte Barbara. Trotz ihrer beschwichtigenden Worte reagierte er so, als wollte er ihr den Zutritt verwehren. Er schien etwas verbergen zu wollen, und es interessierte Barbara brennend, was das war.
»Mr. Pitchley?«, sagte sie. »Wie ist es mit dem Foto…?«
»Ach ja, gut«, antwortete er. »Ich hole eines. Warten Sie nur einen Moment -«
Barbara drängte sich an ihm vorbei ins Haus, ehe er hinzufügen konnte: - hier draußen auf der Treppe, und sagte überschwänglich: »Hey, das ist echt nett von Ihnen. Tausend Dank. Bei der Kälte wärm ich mich gern ein bisschen auf.«
Seine Nasenflügel blähten sich vor Ärger, aber er sagte nur:
»Gut, warten Sie hier. Ich bin gleich wieder da«, und flog förmlich die Treppe hinauf.
Barbara horchte und versuchte festzustellen, ob sich im Haus etwas rührte. Der Typ hatte zugegeben, dass er im Internet nach älteren Frauen angelte, aber vielleicht legte er seine Netze ja auch nach jüngeren Fischlein aus. Wenn das zutraf und er bei den kleinen Mädchen so viel Erfolg hatte wie bei den großen, würde er bestimmt nicht riskieren, eine von ihnen ins Comfort Inn zu locken. Wer bei einer Begegnung mit den Bullen als Erstes seinen Anwalt verlangte, wusste genau, was Sache war, wenn's um Sex mit Minderjährigen ging. Wenn der Typ wirklich einen Hang in diese Richtung hatte, würde er diesem riskanten Vergnügen bestimmt in seinen eigenen vier Wänden nachgehen und nicht in irgendeinem Hotel.
Barbara trat zu einer geschlossenen Tür, die vom Vestibül abging. In dem Raum dahinter hatte sie, ihrer Berechnung nach, von der Einfahrt aus die flüchtige Bewegung beobachtet. Während irgendwo über ihr Pitchley rumorte, stieß sie die Tür auf und trat in ein überaus ordentlich aufgeräumtes Wohnzimmer, das mit antiken Möbeln eingerichtet war.
Das einzige Stück, was nicht ins Bild passte, war eine abgetragene Wachsjacke, die über einem Stuhl lag. Merkwürdig, dass der ordentliche Pitchley, der wie aus dem Ei gepellt wirkte, so nachlässig mit einem seiner Kleidungsstücke verfahren sein sollte. Er hatte so etwas Pedantisches an sich. Niemals wäre man bei ihm auf den Gedanken gekommen, dass er seine Sportjacke nach dem täglichen Spaziergang einfach auf einen Stuhl im edel ausgestatteten Wohnzimmer werfen würde.
Barbara sah sich die Jacke näher an, dann noch näher. Sie hob sie hoch und hielt sie auf Armeslänge vor sich. Bingo, dachte sie. Pitchley hätte in dem Ding ausgesehen wie eine versunkene Glocke. Ein minderjähriges Mädchen allerdings ebenfalls. Überhauptjede Frau, die nicht gerade den Leibesumfang eines Sumoringers besaß.
Sie legte die Jacke wieder an ihren Platz, als Pitchley die Treppe heruntergepoltert kam und ins Wohnzimmer platzte. »Ich hatte Sie doch gebeten -« begann er und brach ab, als er sie den Kragen der Jacke glätten sah. Sein Blick huschte zu der zweiten Tür im Raum, die geschlossen war, und kehrte dann zu Barbara zurück. »Hier«, sagte er, den Arm ausstreckend. »Hier haben Sie, was Sie wollten. Die Frau ist übrigens eine Kollegin.«
Barbara sagte: »Danke«, und nahm das Foto, das er ihr hinhielt, an sich. Er hatte etwas Schmeichelhaftes ausgesucht: Er selbst im Smoking mit einer rassigen Brünetten am Arm. Sie trug ein meergrünes Kleid, das hauteng war und nur knapp die prallen ballonrunden Brüste bedeckte, offensichtlich Implantate, die sich wie Zwillingskuppeln nach Plänen Sir Christopher Wrens in den Raum wölbten.
»Hübsche Frau«, meinte Barbara. »Amerikanerin, nehme ich an?«
Pitchley machte ein erstauntes Gesicht. »Ja, aus Los Angeles. Wie haben Sie das erraten?«
»Kombinationsgabe«, antwortete Barbara. Sie steckte das Foto ein und bemerkte freundlich: »Hübsch haben Sie es hier. Leben Sie allein?«
Sein Blick flog zu der Jacke, aber er sagte: »Ja.«
»So viel Platz! Sie sind ein echter Glückspilz. Ich hab ein kleines Haus in Chalk Farm. Mit dem hier nicht zu vergleichen. Eher ein Mauseloch.« Sie deutete auf die zweite Tür. »Was ist da?«
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Das Esszimmer, Constable. Wenn das alles ist…«
»Haben Sie was dagegen, wenn ich mal einen Blick reinwerfe? Ich find's immer toll zu sehen, wie die besseren Leute leben.«
»Ja, ich habe etwas dagegen. Ich meine, Sie haben bekommen, was Sie wollten, und ich sehe keinen Anlass -«
»Ich habe den Verdacht, dass Sie etwas verheimlichen, Mr. Pitchley.«
Er lief rot an. »So ein Unsinn!«
»Ach? Na, dann ist es ja gut. Dann werde ich mal schauen, was hinter der Tür da ist.« Sie stieß die Tür auf, ehe er erneut protestieren konnte.
»Das habe ich Ihnen nicht erlaubt«, rief er, als sie ins Nachbarzimmer trat.
Es war leer. Am anderen Ende war eine Terrassentür, von eleganten Vorhängen umrahmt. Wie im Wohnzimmer herrschte peinliche Ordnung. Und wie im Wohnzimmer sprang ein Detail ins Auge, das nicht ins Bild passte. Auf dem Walnusstisch lag ein Scheckbuch. Es war aufgeschlagen, Rücken nach oben, und neben ihm lag ein Kugelschreiber.
»Ach, Sie zahlen wohl gerade Ihre Rechnungen?«, bemerkte Barbara wie nebenbei, während sie sich dem Tisch näherte. Der aufdringliche Duft irgendeines Männerparfüms hing in der Luft.
»Ich möchte Sie bitten, jetzt zu gehen, Constable.« Pitchley wollte zum Tisch, aber Barbara war vor ihm da und ergriff das Scheckbuch.
»Moment mal!«, rief Pitchley hitzig. »Was unterstehen Sie sich? Sie haben kein Recht, einfach in mein Haus einzudringen.«
»Hm. Ja«, sagte Barbara, den Blick auf den Scheck gerichtet, der nicht fertig ausgestellt war. Zweifellos hatte sie mit ihrem Klingeln den guten Pitchley bei der Arbeit gestört. Der ausgefüllte Betrag belief sich auf dreitausend Pfund, der Begünstigte hieß Robert, sein Nachname fehlte.
»Das reicht«, sagte Pitchley wütend. »Ich bin Ihnen entgegengekommen. Verlassen Sie jetzt mein Haus, sonst rufe ich meinen Anwalt an.«
»Wer ist Robert?«, fragte sie. »Gehört ihm die Jacke im Wohnzimmer? Und ist das sein Rasierwasser, das hier die Luft verpestet?«
Statt einer Antwort lief Pitchley zu einer Schwingtür. Über die Schulter hinweg rief er: »Ich beantworte Ihre Fragen nicht.«
Aber Barbara ließ sich nicht abwimmeln. Sie rannte ihm in die Küche nach.
»Bleiben Sie draußen«, fuhr er sie an.
»Warum?«
Ein kalter Luftzug wehte ihr ins Gesicht, als sie eintrat. Das Küchenfenster stand weit offen. Aus dem Garten klang lautes Geklapper. Barbara stürzte zum Fenster und Pitchley zum Telefon. Während er hinter ihr irgendeine Nummer eintippte, schaute sie zum Fenster hinaus und sah den umgestürzten Rechen, der vorher offensichtlich unweit vom Küchenfenster an der Hauswand gelehnt hatte. Die beiden Männer, die ihn bei ihrer Flucht umgestoßen hatten, stolperten gerade halb laufend, halb rutschend einen Hang hinunter, der den Garten vom Park dahinter trennte.
»Halt, alle beide!«, brüllte Barbara ihnen aus Leibeskräften nach.
Es waren zwei Riesenkerle in verdreckten Blue Jeans und schlammverkrusteten Stiefeln. Einer hatte eine lederne Bomberjacke an. Der andere trug trotz der Kälte nur einen Pullover.
Beide drehten die Köpfe, als sie Barbaras Donnerstimme vernahmen. Der im Pullover grinste und salutierte frech. Der in der Bomberjacke schrie: »Schnapp sie dir, Jay«, und beide rutschten vor Lachen aus, rappelten sich wieder hoch und rannten durch den Park davon.
»Mist!« Barbara trat vom Fenster weg.
Pitchley hatte mittlerweile seinen Anwalt erreicht. »Kommen Sie sofort her«, herrschte er ihn an. »Ich schwör's Ihnen, Azoff, wenn Sie nicht binnen zehn Minuten hier sind -«
Barbara riss ihm den Hörer aus der Hand.
»Sie unverschämte-« schimpfte er.
»Nehmen Sie 'ne Beruhigungstablette, Pitchley«, riet Barbara und sagte ins Telefon: »Die Fahrt können Sie sich sparen, Mr. Azoff. Ich gehe sowieso. Ich habe, was ich brauche.« Ohne auf eine Erwiderung des Anwalts zu warten, gab sie Pitchley den Hörer zurück. »Ich weiß nicht, was hier los ist, Sie Schlaumeier, aber ich krieg's raus, verlassen Sie sich drauf. Und dann komme ich mit einem Durchsuchungsbeschluss wieder und nehme die Bude hier auseinander. Wenn wir irgendwas finden, das beweist, dass es zwischen Ihnen und Eugenie Davies eine Verbindung gab, Verehrtester, sind Sie erledigt. Ist das klar?«
»Ich hatte mit Eugenie Davies lediglich in dem Rahmen zu tun, wie ich es Chief Inspector Leach bereits erklärt habe«, entgegnete er förmlich. Aber er war blass geworden.
»Dann ist es ja gut«, sagte sie. »Also dann, Mr. Pitchley, hoffen Sie das Beste.«
Sie marschierte aus der Küche hinaus zur Haustür und setzte sich draußen sofort in ihren Wagen. Es wäre sinnlos gewesen, die beiden Kerle verfolgen zu wollen, die durch Pitchleys Küchenfenster geflohen waren. Bis sie sich auf die andere Seite des Parks durchgearbeitet hätte, wären die beiden längst weg oder hätten sich ein gutes Versteck gesucht.
Barbara ließ den Mini an und trat ein paar Mal das Gaspedal durch, um Dampf abzulassen. Sie hatte vorgehabt, mit Pitchleys Foto noch einmal das Valley of Kings und das Comfort Inn aufzusuchen, aus reinem Pflichtbewusstsein und ohne Hoffnung, dass etwas dabei herauskommen würde. Ja, sie war nahe daran gewesen, J. W. Pitchley alias James Pitchford alias Die Zunge von der Liste der Verdächtigen zu streichen. Aber jetzt sah die Sache anders aus. Der Mann hatte sich wirklich nicht benommen wie jemand, der ein reines Gewissen hat. Eher schon wie jemand, der bis zum Hals im Dreck steckte. Dazu der Scheck über dreitausend Pfund, der unfertig im Esszimmer gelegen hatte, und die beiden gorillamäßigen Kerle, die aus dem Küchenfenster gesprungen waren… So sauber sah die Weste von Pitchley, Pitchford, Die Zunge, oder wer, zum Teufel, er sonst zu sein vorgab, nicht mehr aus.
Pitchley, Pitchford, Die Zunge, dachte Barbara, während sie den Mini rückwärts zur Straße hinausmanövrierte, und fragte sich, ob der Mann vielleicht noch einen weiteren Namen hatte, den er für besondere Zwecke verwendete.
Sie wusste, wie sie das herausfinden würde.
Das Haus von Eugenie Davies' Bruder, Ian Staines, stand in einer ruhigen Straße nicht weit von St. Ann's Well Gardens. Lynley, der die Schnellstraße gefahren war, hatte von Henley bis Brighton nicht allzu lange gebraucht, aber der kurze Novembertag begann schon zu dämmern, als er vor dem Haus anhielt.
Die Tür wurde ihm von einer Frau mit einer Katze auf dem Arm geöffnet. Sie hielt das Tier wie ein kleines Kind an die Schulter gedrückt. Es war eine Birmakatze, ein reinrassiges Tier mit arrogantem Gesichtsausdruck, das Lynley mit feindseligen blauen Augen musterte, als dieser seinen Dienstausweis herauszog. Die Frau war Eurasierin, eine auffallende Erscheinung, nicht mehr jung, eine verblühte Schönheit, von der man dennoch den Blick kaum abwenden konnte, da unter der welken Haut eine subtile Härte zu erahnen war.
Sie warf einen Blick auf Lynleys Ausweis und sagte nur »Ja«, als er fragte, ob sie Mrs. Ian Staines sei. In aller Ruhe wartete sie auf weitere Erklärungen von ihm, obwohl sie, wie Lynley dem Blick der leicht verengten Augen entnahm, kaum Zweifel hatte, wem sein Besuch galt. Als er höflich fragte, ob er sie einen Moment sprechen könne, trat sie von der Tür zurück und führte ihn in ein äußerst spärlich eingerichtetes Wohnzimmer. Er bemerkte die Spuren von Möbeln, die diese im dicken Teppich hinterlassen hatten, und fragte die Frau, ob sie und ihr Mann die Absicht hätten, umzuziehen. Nein, sie zögen nicht um, antwortete sie und fügte nach einer winzigen Pause im Ton tiefer Verachtung hinzu: »Noch nicht.«
Sie bat ihn nicht, in einem der beiden noch vorhandenen Sessel Platz zu nehmen, die von je einer Katze besetzt waren, Tiere derselben Rasse wie die Katze auf ihrem Arm. Sie schliefen nicht, wie man das angesichts ihrer scheinbar entspannten Haltung vielleicht erwartet hätte, sondern zeigten eine scharfe Wachsamkeit, als wäre Lynley etwas, für das sie sich interessieren könnten, sollte ein plötzlicher Energieschub sie packen.
Mrs. Staines setzte die Katze, die sie auf dem Arm hielt, auf den Fußboden. Das üppige Fell, das sich an den Beinen der Katze wie eine Pumphose bauschte, glänzte gepflegt, als sie träge zu einem der Sessel strich, mühelos hinaufsprang und den Hausgenossen von seinem Platz verscheuchte. Dieser gesellte sich zu der Katze im anderen Sessel und ließ sich neben ihr nieder.
»Wunderschöne Tiere«, bemerkte Lynley. »Züchten Sie, Mrs. Staines?«
Sie antwortete nicht. Sie war ihren Katzen sehr ähnlich: wachsam, zurückhaltend, spürbar feindselig.
Sie ging zu einem Tisch. Die Spuren im Teppich auf der anderen Seite verrieten, dass dort einmal ein Sofa gewesen war. Auf dem Tisch selbst befand sich nichts als ein kleiner Schildpattkasten, dessen Deckel Mrs. Staines mit ihrem manikürten Finger aufklappte. Sie nahm eine Zigarette aus dem Kästchen und ein Feuerzeug aus der Tasche ihrer schmal geschnittenen, langen Hose. Nachdem sie die Zigarette angezündet und einmal tief inhaliert hatte, fragte sie: »Was hat er getan?«, und ihrem Tonfall war anzumerken, dass sie eigentlich lieber: »Was hat er denn jetzt wieder getan?« gesagt hätte.
Im Zimmer lag nirgends eine Zeitung, aber das hieß noch nicht, dass die Staines' von Eugenie Davies' Tod nichts wussten.
Lynley sagte: »Ich hätte Ihren Mann gern wegen einer Sache in London gesprochen, Mrs. Staines. Ist er zu Hause oder noch in seiner Arbeit?«
»Arbeit?« Sie lachte kurz. »London, sagen Sie? Ian mag Städte nicht, Inspector. Er hält kaum das Getümmel in Brighton aus.«
»Den Verkehr, meinen Sie?«
»Die Menschen. Er ist ein Menschenfeind, wenn es ihm auch meist gelingt, das zu verbergen.« Maniriert wie ein Star aus einem alten Film zog sie an ihrer Zigarette, den Kopf in den Nacken geneigt, sodass ihr Haar - üppig, elegant geschnitten, mit einer gelegentlichen weißen Strähne als Glanzlicht - lose über ihre Schultern fiel. Sie ging zum Fenster, auch hier mangelte es nicht an Spuren von fortgeschafften Möbelstücken, und sagte: »Er war nicht hier, als sie starb. Er war bei ihr gewesen. Sie hatten sich gestritten, wie Ihnen vermutlich irgendjemand berichtet hat, sonst wären Sie wohl kaum hier. Aber er hat sie nicht getötet.«
»Sie wissen also, was Mrs. Davies zugestoßen ist?«
»Aus der Zeitung«, antwortete sie. »Wir haben es erst heute Morgen gelesen.«
»Jemand hat beobachtet, dass Mrs. Davies am fraglichen Abend in Henley mit einem Mann Streit hatte, der dann in einem Audi mit einem Brightoner Kennzeichen davongefahren ist. War dieser Mann Ihr Gatte?«
»Ja«, antwortete sie. »Das wird Ian gewesen sein, dem wieder einmal ein schöner Plan geplatzt war.«
»Ein Plan?«
»Mein Mann hat immer irgendwelche Pläne. Und wenn er keinen Plan hat, dann kommt er mit Versprechungen. Pläne und Versprechungen, Versprechungen und Pläne. Und meistens kommt nichts dabei heraus.«
»Das reicht, Lydia.«
Der Ton war kurz und scharf. Lynley wandte sich um. An der Tür stand ein magerer, langgliedriger Mann mit dem trockenen, gelblich getönten Teint eines Kettenrauchers. Wie zuvor seine Frau ging er durch das Zimmer zum Tisch mit der Schildpattdose und nahm sich eine Zigarette. Ohne ein Wort zu sagen, nickte er seiner Frau zu, die daraufhin ihr Feuerzeug aus der Hosentasche zog. Sie reichte es ihm, und während er sich seine Zigarette anzündete, sagte er zu Lynley: »Was kann ich für Sie tun?«
»Er ist wegen deiner Schwester hier«, erklärte Lydia Staines.
»Ich hab dir gesagt, dass das zu erwarten ist, Ian.«
»Lass uns allein.« Er wies mit dem Kinn zu den beiden Sesseln und sagte: »Nimm die Biester mit, bevor ich ihnen das Fell abziehe.«
Sie warf ihre noch schwelende Zigarette in den offenen Kamin, klemmte sich je eine Katze unter den Arm und rief der dritten zu:
»Komm, Cäsar«, bevor sie sich zur Tür wandte. »Viel Spaß«, sagte sie zu ihrem Mann, und dann ging sie - von ihren Tieren begleitet - hinaus.
Staines sah ihr nach, im Blick etwas wie animalische Gier und den Mund verzerrt vom Hass eines Mannes auf die Frau, die übermäßige Macht über ihn besitzt. Als er hörte, wie hinten im Haus ein Radio eingeschaltet wurde, richtete er seine Aufmerksamkeit auf Lynley.
»Ja«, sagte er, »ich habe Eugenie gesehen. Zweimal. Ich habe sie in Henley besucht. Wir hatten Streit. Sie hatte mir ihr Wort gegeben, hatte versprochen, mit Gideon zu reden - das ist ihr Sohn, aber ich nehme an, das wissen Sie bereits -, und ich habe mich auf ihr Wort verlassen. Aber dann erklärte sie, sie hätte es sich anders überlegt, es wäre etwas dazwischengekommen und sie könne ihn nun unmöglich um Geld bitten… Das war's dann. Ich hab mich wahnsinnig aufgeregt und bin abgefahren wie ein Irrer. Aber es hat uns wohl jemand beobachtet. Mich, meine ich. Und den Wagen.«
»Wo ist der Wagen jetzt?«, fragte Lynley.
»Beim Kundendienst.«
»Wo?«
»Beim Händler hier am Ort. Warum?«
»Ich brauche die Adresse. Ich muss mir den Wagen ansehen und mit den Leuten von der Werkstatt sprechen. Dort werden doch auch Unfallinstandsetzungen gemacht, nehme ich an.«
Staines' Zigarette glühte auf, als er gierig Rauch einsog, um den Moment zu überbrücken. Er sagte: »Darf ich nach Ihrem Namen fragen?«
»Lynley. Inspector Lynley von New Scotland Yard.«
»Ich habe meine Schwester nicht überfahren, Inspector Lynley. Ich war wütend, ja. Ich war bereit, alles zu versuchen. Aber sie zu töten, hätte mir gar nichts gebracht. Ich beschloss, einfach ein paar Tage abzuwarten - ein paar Wochen, wenn nötig und wenn ich so lange durchhalten konnte -, und dann mein Glück noch einmal zu versuchen.«
»Was wollten Sie denn von ihr?«
Wie seine Frau zuvor warf er seine Zigarette in den offenen Kamin. »Kommen Sie«, sagte er dann und ging Lynley voraus aus dem Wohnzimmer hinaus.
Sie stiegen eine Treppe hinauf, die mit einem so dicken Teppich ausgelegt war, sodass der Klang ihrer Schritte geschluckt wurde. Dann gingen sie durch einen Flur, wo helle Rechtecke an den tapezierten Wänden verrieten, dass hier einmal Bilder gehangen hatten. Sie traten in einen verdunkelten Raum, der offensichtlich als Arbeitszimmer diente. Auf dem Schreibtisch stand ein Computer, über dessen Bildschirm irgendwelche Informationen zogen. Bei näherem Hinsehen stellte Lynley fest, dass Staines sich ins Internet eingeloggt und einen Onlinebörsenmakler angewählt hatte.
»Sie spekulieren an der Börse«, sagte Lynley.
»Reichtum.«
»Wie bitte?«
»Reichtum. Es geht darum, Reichtum zu denken und zu leben. Aus dem Denken und Leben von Reichtum entsteht Reichtum, und dieser Überfluss erzeugt neuen Überfluss.«
Stirnrunzelnd versuchte Lynley, diese Informationen mit dem zu verknüpfen, was er auf dem Bildschirm sah.
Staines fuhr fort. »Es geht um die Denkweise«, erklärte er. »Die meisten Menschen bleiben im Mangel verhaftet, weil das das Einzige ist, das sie kennen und das man sie gelehrt hat. Ich habe auch einmal zu diesen Menschen gehört. O ja, und wie!«
Er stellte sich neben Lynley vor den Schreibtisch und legte seine Hand auf ein dickes Buch, das aufgeschlagen neben seinem Computerkeyboard lag. Verschiedene Passagen waren mit Leuchtstift in unterschiedlichen Farben markiert, als beschäftigte sich der Leser seit Jahren mit dem Buch und betone bei jeder neuerlichen Lektüre etwas Neues in ihm. Es sah aus wie ein Fachtext - Lynley dachte an etwas Betriebswirtschaftliches -, aber Staines' Ausführungen klangen mehr nach New-Age-Weisheiten. Seine Stimme war leise und eindringlich.
»Wir ziehen im Leben immer das an, was unseren Gedanken entspricht«, erklärte er beinahe beschwörend. »Wenn wir Schönheit denken, sind wir schön. Wenn wir Hässlichkeit denken, sind wir hässlich. Wenn wir Erfolg denken, werden wir Erfolg haben.«
»Wenn wir Beherrschung der internationalen Märkte denken, dann erreichen wir sie?«, fragte Lynley.
»Ja. Ja, genau. Wenn man sein Leben lang immer nur die eigenen Grenzen sieht, kann man nicht erwarten, diese Grenzen zu überwinden.« Staines' Blick war auf den Bildschirm gerichtet. Im bläulichen Licht konnte Lynley erkennen, dass sein linkes Auge vom grauen Star milchig getrübt und die Haut darunter aufgequollen war. »Ich habe früher nur in Grenzen gelebt, war von Drogen, Alkohol und Glücksspiel eingeschränkt. Wenn es nicht das eine war, dann war es das andere. Und dabei habe ich alles verloren - meine Frau, meine Kinder, mein Zuhause -, aber das wird mir nicht noch einmal passieren. Das schwöre ich. Der Überfluss wird kommen. Ich werde den Überfluss leben.«
Lynley bekam allmählich eine Vorstellung. Er sagte: »Es ist aber doch ziemlich riskant, an der Börse zu spekulieren, meinen Sie nicht auch, Mr. Staines? Man kann natürlich große Gewinne machen, aber man kann auch schwere Verluste erleiden.«
»Wo Vertrauen, richtiges Handeln und Glaube sind, da gibt es kein Risiko. Das richtige Denken bringt das Ergebnis hervor, das von Gott gewollt ist, der selbst das Gute ist und für seine Kinder das Gute will. Wenn wir eins mit ihm sind und Teil von ihm, sind wir Teil des Guten. Wir müssen es nur für uns erschließen.«
Er starrte beim Sprechen angespannt auf den Bildschirm, über dessen unteren Rand sich wie ein flimmerndes Fließband ständig ändernde Börsenkurse zogen. Staines schien hypnotisiert, als sähe er in den vorübereilenden Zahlen verschlüsselte Wegweiser zum Heiligen Gral.
»Aber lässt denn der Begriff des Guten nicht verschiedene Deutungen zu?«, fragte Lynley. »Und könnte es nicht sein, dass der Mensch in seinem Streben nach dem Guten in ganz anderen Zeitdimensionen denkt als Gott?«
»Es ist der Überfluss«, erklärte Staines mit zusammengebissenen Zähnen. »Wir definieren ihn, und er kommt.«
»Und wenn nicht, stecken wir bis zum Hals in Schulden«, sagte Lynley.
Mit einer abrupten Bewegung beugte Staines sich vor und drückte auf einen Knopf am Computer. Der Bildschirm wurde dunkel, doch Staines behielt ihn unverwandt im Auge, während er in einem Ton weitersprach, der die Wut verriet, die er mühsam in Schach hielt. »Ich hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich hatte sie völlig in Ruhe gelassen. Das letzte Mal hatten wir uns beim Begräbnis unserer Mutter getroffen, aber sogar da hab ich mich im Hintergrund gehalten, weil ich wusste, wenn ich mit ihr spräche, würde ich auch mit ihm sprechen müssen, und ich habe diesen Menschen gehasst. Von dem Tag an, als ich von zu Hause weglief, las ich täglich die Todesanzeigen, weil ich hoffte, irgendwann auf die seine zu stoßen und die Gewissheit zu erhalten, dass der große Gottesmann endlich aus diesem Leben geschieden war, das er allen um ihn herum zur Hölle gemacht hatte, und nun in seiner eigenen Hölle schmorte. Aber sie sind geblieben. Doug und Eugenie sind geblieben. Wie brave kleine Soldaten Gottes saßen sie sonntags in der Kirche und hörten seinen Predigten zu, und den Rest der Woche ließen sie sich mit dem Gürtel verprügeln. Aber ich bin durchgebrannt, als ich fünfzehn war, und nie zurückgekehrt.«
Er sah Lynley an. »Ich habe meine Schwester nie um irgendetwas gebeten. Nicht ein einziges Mal in all den Jahren, als mich die Drogen, der Alkohol und das Spiel im Griff hatten. Ich sagte mir immer, sie ist die Jüngste, sie hat ausgehalten und hat die ganze schwarze Wut dieses Bastards zu spüren bekommen, sie hat es verdient, dass man ihr ihr Leben lässt. Und es spielte für mich keine Rolle, dass ich alles verlor - alles, was ich je besessen oder geliebt hatte -, denn sie war ja meine Schwester, und wir waren seine Opfer, und meine Zeit würde kommen. Ich habe mich an Doug gewandt, und er hat mir geholfen, wenn er konnte. Aber beim letzten Mal sagte er: >Ich kann nicht, Ian. Sieh dir mein Scheckbuch an, wenn du mir nicht glaubst.< Was hätte ich also tun sollen?«
»Sie baten Ihre Schwester um Geld, um Ihre Schulden bezahlen zu können. Wie kam es zu den Schulden, Mr. Staines? Hatten Sie sich verspekuliert?«
Staines drehte sich vom Bildschirm weg, als wäre dessen Anblick ihm jetzt widerlich, und erklärte: »Wir haben verkauft, was möglich war. Wir haben nur noch ein Bett in unserem Zimmer. Wir essen in der Küche von einem Klapptisch. Das ganze Silber ist weg. Lydia hat ihren Schmuck verloren. Dabei hätte ich nur eine einzige vernünftige Chance gebraucht, nur eine! Mit ein bisschen Geld hätte sie mir diese Chance geben können, und sie hatte versprochen, mir unter die Arme zu greifen. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihr alles zurückzahlen würde. Ihm, meine ich. Er schwimmt ja im Geld. Er hat Millionen. Garantiert.«
»Gideon. Ihr Neffe.«
»Ich hab mich darauf verlassen, dass sie mit ihm sprechen würde. Und dann überlegt sie es sich plötzlich anders! Es wäre was dazwischengekommen, sagte sie. Sie könne ihn nicht um Geld bitten.«
»Hat sie Ihnen das neulich abends gesagt, als Sie bei ihr waren?«
»Ja.«
»Nicht schon früher?«
»Nein.«
»Hat sie Ihnen gesagt, was dazwischengekommen war?«
»Wir hatten einen Riesenstreit. Ich habe sie angebettelt. Ich habe meine eigene Schwester angebettelt, aber… Nein, sie hat es mir nicht gesagt.«
Lynley fragte sich, warum der Mann so bereitwillig so viel preisgab. Süchtige, das wusste er aus persönlicher Erfahrung, waren Meister darin, die Menschen zu manipulieren, die ihnen am Nächsten standen. Sein eigener Bruder hatte ihn jahrelang manipuliert. Aber Eugenie Davies' Bruder stand er nicht nahe; er war kein enger Verwandter, der sich von Schuldgefühlen wegen etwas, das in Wirklichkeit überhaupt nicht seine Schuld war, dazu verleiten lassen würde, das Geld zu geben, das »nur dies eine Mal« so dringend gebraucht wurde. Dennoch wusste er mit der Gewissheit langer Erfahrung, dass Staines jedes einzelne Wort, das er sagte, mit Bedacht sprach.
»Wohin sind Sie gefahren, nachdem Sie sich von Ihrer Schwester getrennt hatten, Mr. Staines?«
»Ich bin bis morgens um halb zwei ziellos durch die Gegend gefahren, weil ich sicher sein wollte, dass meine Frau schläft, wenn ich nach Hause komme.«
»Kann das irgendjemand bestätigen? Haben Sie vielleicht irgendwo getankt?«
»Nein, das war nicht nötig.«
»Dann muss ich Sie bitten, mit mir zu dem Autohändler zu fahren, bei dem Ihr Wagen steht.«
»Ich habe Eugenie nicht überfahren. Ich habe sie nicht getötet. Das hätte mir überhaupt nichts gebracht.«
»Das ist Routine, Mr. Staines.«
»Sie hat mir versprochen, mit ihm zu reden. Ich brauchte nur eine einzige Chance.«
Er brauchte, dachte Lynley, Heilung von der Selbsttäuschung.