Jill Foster sah Richard an, dass es ihm nicht passte, schon wieder von der Polizei Besuch zu bekommen. Noch weniger passte es ihm, dass der Kriminalbeamte eigenem Bekunden zufolge direkt von Gideon kam. Er hörte sich diese Mitteilung zwar höflich an, aber Jill bemerkte, wie er, als er den Beamten ins Wohnzimmer führte, den Mund zusammenkniff - bei ihm stets ein Zeichen der Verärgerung.
Dieser Inspector Lynley fasste Richard so scharf ins Auge, als wollte er sich nicht die kleinste Reaktion entgehen lassen. Das machte Jill unruhig. Sie kannte sich aus mit der Polizei, nicht umsonst hatte sie jahrelang Zeitungsberichte über manipulierte Ermittlungen und berühmte Justizirrtümer gelesen. Sie wusste ziemlich genau, wie weit diese Leute zu gehen bereit waren, wenn sie einem Verdächtigen ein Verbrechen anhängen wollten. Bei Mord waren sie mehr daran interessiert, irgendjemanden festzunageln - ganz gleich, wen -, als den Ereignissen wirklich auf den Grund zu gehen, denn wenn man einen Täter hatte, konnte man die Ermittlungen abschließen und ausnahmsweise mal zu einer vernünftigen Zeit nach Hause zu Frau und Kindern gehen. Jeder Schritt, den sie bei einer Morduntersuchung unternahmen, war von diesem Wunsch motiviert, und man war gut beraten, sich darüber im Klaren zu sein, wenn man von ihnen befragt wurde.
Die Polizei ist nicht unser Freund und Helfer, Richard, rief sie ihrem Lebensgefährten lautlos zu. Diese Leute warten nur darauf, dass du etwas sagst, was sie später verdrehen und gegen dich verwenden können.
Genau das tat jetzt offensichtlich der Inspector. Er sah Richard mit seinen dunklen Augen an - braune Augen waren es, nicht blaue, wie man sie bei einem blonden Menschen erwartet hätte - und sagte: »Als wir gestern miteinander sprachen, Mr. Davies, sagten Sie nichts davon, dass Sie ein Treffen Ihres Sohnes mit seiner Mutter befürwortet hatten. Warum ließen Sie das unerwähnt?«
Ein elegantes Notizbuch offen in der schlanken Hand, wartete er geduldig auf eine Antwort.
Richard saß auf einem hochlehnigen Stuhl, ein Stück von dem Tisch weggerückt, an dem er und Jill ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegten. Er hatte diesmal keinen Tee angeboten, als wollte er keinen Zweifel daran lassen, dass der Inspector ihm nicht willkommen war. Bei der Ankunft des Inspectors, noch bevor dieser erwähnte, dass er gerade von Gideon kam, hatte Richard gesagt:
»Ich möchte Ihnen wirklich gern behilflich sein, Inspector, aber ich muss Sie doch bitten, bei Ihren Besuchen eine gewisse Rücksichtnahme walten zu lassen. Miss Foster braucht viel Ruhe, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn unsere Gespräche nicht in den Abendstunden stattfinden würden.«
Der Kriminalbeamte hatte leicht den Mund verzogen, und der Unbedarfte hätte vielleicht geglaubt, er lächelte. Aber der Blick, mit dem er Richard musterte, sagte klar, dass er es nicht gewöhnt war, sich Vorschriften machen zu lassen. Weder hatte er sich für sein Erscheinen entschuldigt, noch hatte er versucht, sie mit Beteuerungen zu beschwichtigen, dass er sie nicht lange in Anspruch nehmen würde.
»Mr. Davies?«, hakte er jetzt nach.
»Ich habe nichts davon gesagt, dass ich vorhatte, meinen Sohn und seine Mutter zusammenzuführen, weil Sie nicht danach gefragt haben«, erklärte Richard. Er sah zu Jill hinüber, die mit geöffnetem Laptop am anderen Ende des Tisches saß und die fünfte Version von Akt III, Szene 1 ihrer Fernsehadaption von Die Schöne und das Biest auf dem Bildschirm prüfte. Er sagte: »Du möchtest wahrscheinlich weiterarbeiten, Jill. Der Schreibtisch im Arbeitszimmer…«
Jill hatte nicht die Absicht, sich in diesen mausoleumsähnlichen Gedenkraum für Richards Vater verbannen zu lassen. »Ich kann im Moment sowieso nicht weitermachen«, erwiderte sie und ging wie zur Bestätigung ihrer Worte daran, das Geschriebene zu speichern und zu sichern. Wenn hier über Eugenie gesprochen werden sollte, wollte sie dabei sein.
»Hatte sie darum gebeten, Ihren gemeinsamen Sohn zu sehen?«, fragte der Kriminalbeamte.
»Nein.«
»Sie sind sicher?«
»Aber ja, natürlich. Sie wollte keinen von uns sehen. So hatte sie sich vor zwanzig Jahren entschieden, als sie ging, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wohin sie wollte.«
»Und warum?«, fragte der Inspector.
»Warum was?«
»Warum ist Ihre Frau gegangen, Mr. Davies? Hat sie sich dazu geäußert?«
Richard war empört. Jill hielt den Atem an und versuchte, den Stich nicht zu beachten, den die Worte - Ihre Frau - ihr versetzt hatten. Wie sie sich dabei fühlte, wenn eine andere Frau so bezeichnet wurde, war in diesem Moment völlig nebensächlich; die Frage des Inspectors traf genau den Kern der Geschichte, der sie interessierte. Sie wollte wissen, warum Richard von seiner Frau verlassen worden war, und sie wollte wissen, was für Gefühle es bei ihm ausgelöst hatte, dass Eugenie ihn verlassen hatte; wie er sich damals gefühlt hatte und, wichtiger noch, wie er sich heute fühlte.
»Inspector«, sagte Richard ruhig, »haben Sie je ein Kind verloren? Durch Gewalt? Durch die Tat eines Menschen, der mit Ihnen unter einem Dach lebte? Nein? Nun, dann würde ich vorschlagen, Sie überlegen sich einmal, was ein derartiger Verlust für eine Ehe bedeuten kann. Eugenie brauchte mir keine langen Erklärungen darüber zu geben, warum sie ging. Manche Ehen überleben ein Trauma. Andere nicht.«
»Sie haben nicht nach Ihrer geschiedenen Frau gesucht, nachdem sie gegangen war?«
»Was hätte das für einen Sinn gehabt? Ich wollte Eugenie nicht mit Gewalt an mich binden, wenn sie nicht bleiben wollte. Und ich musste auch an meinen Sohn denken. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die der Auffassung sind, dass zwei Elternteile für ein Kind immer das Beste sind, ganz gleich, wie es in ihrer Ehe aussieht. Wenn eine Ehe misslingt, muss sie beendet werden. Das ist für Kinder gesünder, als in einer Familie zu leben, in der ständig Krieg herrscht.«
»Sie haben sich nicht im Guten getrennt?«
»Sie ziehen Schlussfolgerungen, Inspector.«
»Das gehört zu meiner Arbeit.«
»Aber es führt Sie auf den falschen Weg. Es tut mir Leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber zwischen Eugenie und mir gab es kein böses Blut.«
Richard war verärgert. Jill hörte es an seinem Ton und war ziemlich sicher, dass auch der Inspector es hörte. Besorgt versuchte sie mit ein paar scheinbar absichtslosen Gesten die Aufmerksamkeit Richards zu gewinnen, um ihn mit einem Blick zu warnen, der ihn hoffentlich veranlassen würde, wenn schon nicht den Inhalt seiner Antworten, so doch ihren Ton zu ändern. Sie kannte die Quelle seines Argers: Gideon, immer Gideon, was Gideon tat und nicht tat, was Gideon sagte und nicht sagte. Richard war verstimmt, weil Gideon nicht angerufen und den Besuch des Kriminalbeamten gemeldet hatte. Aber der Inspector würde es nicht so verstehen. Er würde den Ärger weit eher als Richards Reaktion auf die allzu direkten Fragen über Eugenie verstehen.
»Entschuldige, Richard«, sagte sie. »Könntest du mir kurz helfen…?« Und zu dem Kriminalbeamten gewandt, fügte sie mit einem ungeduldigen Lächeln hinzu: »Ich laufe in letzter Zeit jede Viertelstunde zur Toilette. - Oh, danke dir, Darling. Du lieber Gott, ich bin ganz wackelig.« Sie hielt Richards Arm umklammert und tat, als wäre ihr schwindlig, während sie auf sein Angebot wartete, sie zum Badezimmer zu begleiten. Damit würde er etwas Zeit gewinnen, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Aber zu ihrer Enttäuschung legte er ihr nur einen Moment stützend den Arm um die Taille und sagte, »sei vorsichtig«, ohne die geringsten Anstalten zu machen, sie aus dem Zimmer zu geleiten.
Sie versuchte es mit Telepathie. Komm mit, beschwor sie ihn stumm. Aber er ignorierte die Botschaft, oder sie kam gar nicht bei ihm an. Sobald er den Eindruck hatte, dass sie wieder sicher auf den Füßen stand, ließ er sie los und richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf den Kriminalbeamten.
Ihr blieb nichts anderes übrig als hinauszugehen, und sie tat es in Anbetracht ihres Körperumfangs bemerkenswert schnell. Sie musste sowieso pinkeln - sie musste jetzt dauernd pinkeln -, und während sie auf dem Klo saß, versuchte sie zu hören, was in dem Zimmer vorging, das sie soeben verlassen hatte.
Als sie wieder zurückkam, sprach gerade Richard. Sie bemerkte erleichtert, dass es ihm gelungen war, seinen Jähzorn zu zügeln. Er war die Ruhe selbst, als er sagte, »Mein Sohn leidet, wie ich Ihnen bereits sagte, an starkem Lampenfieber, Inspector. Er kann diese Furcht nicht bezwingen. Wenn Sie bei ihm waren, werden Sie zweifellos bemerkt haben, dass es ihm sehr schlecht geht. Ich war bereit - und bin es immer noch -, alles zu versuchen, um ihm zu helfen. Und in der Hoffnung, meine geschiedene Frau könne irgendwie dazu beitragen, war ich sogar bereit, sie um Unterstützung zu bitten. Ich liebe meinen Sohn. Ich möchte nicht erleben müssen, dass sein Leben durch irrationale Ängste zerstört wird.«
»Sie haben Ihre Frau also gebeten, sich mit Ihrem Sohn zu treffen?«
»Ja.«
»Warum erst so lange nach dem Ereignis?«
»Dem Ereignis?«
»Dem Konzert in der Wigmore Hall.«
Richard bekam einen roten Kopf. Er hasste es, an jenen Abend erinnert zu werden. Jill hatte kaum Zweifel, dass er Gideon, sollte dieser je wieder Konzerte geben können, dieses Haus niemals betreten lassen würde. Es war der Schauplatz einer öffentlichen Demütigung, und am liebsten hätte Richard es in Schutt und Asche gelegt.
Richard sagte: »Wir hatten zu diesem Zeitpunkt alles andere versucht, Inspector. Aromatherapie, Verhaltenstherapie,aufbauendeGespräche,
Psychotherapie, wir hatten es wirklich mit allem versucht, was man sich vorstellen kann, außer mit der Astrologie. Es hat mehrere Monate in Anspruch genommen, diese verschiedenen Wege auszuprobieren. Meine geschiedene Frau war einfach das letzte Mittel.« Er wartete einen Moment, während Lynley in sein Notizbuch schrieb, dann fügte er hinzu: »Ich wäre Ihnen übrigens sehr verbunden, wenn Sie diese Informationen vertraulich behandeln würden.«
Lynley blickte auf. »Bitte?«
»Ich bin nicht naiv, Inspector. Ich weiß, wie die Polizei arbeitet. Die Bezahlung ist bescheiden, also bessern sie sie auf, indem sie an Informationen weitergeben, was möglich ist, ohne gewisse Grenzen zu verletzen. Gut. Ich kann das verstehen. Man hat ja Familie. Aber dass die Probleme meines Sohnes in der Sensationspresse breitgetreten werden, ist wirklich das Letzte, was wir jetzt brauchen können.«
»Ich arbeite im Allgemeinen nicht mit den Zeitungen zusammen«, entgegnete der Inspector. Und nach einer Pause, während der er sich etwas notierte, fügte er hinzu: »Es sei denn, ich werde dazu gezwungen, Mr. Davies.«
Richard hörte offensichtlich die unterschwellige Drohung, denn er erwiderte hitzig: »Moment mal! Ich bin absolut kooperativ, da können Sie verdammt noch mal -«
»Richard!«Jill konnte nicht anders. Zu viel stand auf dem Spiel, um ihn ungehindert fortfahren und den Inspector verärgern zu lassen.
Richard klappte den Mund zu und sah sie an. Mit Blicken appellierte sie an seinen gesunden Menschenverstand. Sag ihm, was er wissen will, dann wird er uns in Ruhe lassen. Diesmal kam die Botschaft offenbar an.
»Na schön«, sagte er, »tut mir Leid«, an den Inspector gerichtet. »Mich regt das alles ziemlich auf. Erst mein Sohn, dann Eugenie. Nach diesen langen Jahren, und gerade als wir sie am dringendsten brauchten… Ich gerate leicht aus der Fassung.«
Lynley sagte: »Hatten Sie eine Zusammenkunft mit Ihrem Sohn und Ihrer geschiedenen Frau arrangiert?«
»Nein. Ich hatte Eugenie angerufen und auf ihrem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen. Sie hat mich aber nicht zurückgerufen.«
»Wann hatten Sie telefoniert?«
»Anfang der Woche. Den Tag habe ich nicht mehr im Kopf. Dienstag vielleicht.«
»War es ihre Art, nicht zurückzurufen?«
»Ich habe mir nichts dabei gedacht. Ich hatte in meiner Nachricht nichts von Gideon gesagt. Ich bat sie nur, mich gelegentlich anzurufen.«
»Und sie hat Sie nie von sich aus gebeten, sie mit Ihrem Sohn zusammenzubringen?«
»Nein. Weshalb hätte sie das tun sollen? Sie hat mich angerufen, als Gideon diese - nun, diese Schwierigkeiten bei seinem Auftritt hatte. Im Juli. Aber wenn ich mich recht erinnere, habe ich Ihnen das bereits gestern gesagt.«
»Und als sie Sie anrief, ging es einzig um die Krankheit Ihres Sohnes?«
»Es ist keine Krankheit«, entgegnete Richard. »Es ist Lampenfieber, Inspector. Eine Blockade. So etwas kommt vor. Wie die Schreibhemmung bei einem Schriftsteller. Wie die plötzliche Unfähigkeit eines Bildhauers, aus einem Steinbrocken etwas zu schaffen. Wie ein Maler, der eine Woche lang keine inneren Bilder mehr hat.«
Er hörte sich an wie jemand, der krampfhaft versucht, sich selbst etwas einzureden, und Jill war klar, dass auch dem Inspector das auffallen musste. Bemüht, einen Ton zu finden, der nicht so klang, als wollte sie den Mann, den sie liebte, entschuldigen, sagte sie zu Lynley: »Wissen Sie, Richard hat für die Musik seines Sohnes sein Leben gegeben. Er hat seinen Sohn gefördert, wie das Eltern eines Wunderkinds tun müssen - ohne an sich selbst zu denken. Und wenn man sein Leben für etwas gibt, tut es natürlich sehr weh, mit ansehen zu müssen, wie das Projekt in Stücke zerfällt.«
»Wenn ein Mensch ein Projekt ist«, sagte der Inspector.
Sie errötete und verkniff sich eine Entgegnung. Schon gut, dachte sie, lass ihm ruhig das letzte Wort. Davon würde sie sich nicht ärgern lassen.
Der Inspector wandte sich Richard zu: »Hat Ihre geschiedene Frau während all dieser Telefongespräche jemals ihren Bruder erwähnt?«
»Wen? Doug?«
»Nein, den anderen, Ian Staines.«
»Ian?« Richard schüttelte den Kopf. »Kein einziges Mal. Soweit ich mich erinnere, hatte Eugenie ihn seit Jahren nicht gesehen.«
»Er sagte mir, dass sie Ihren gemeinsamen Sohn um ein
Darlehen bitten wollte. Er steckt finanziell in der Klemme-«
»Wann steckt der nicht in der Klemme!«, unterbrach Richard.
»Er ist als Teenager von zu Hause durchgebrannt und hat die nächsten dreißig Jahre versucht, Doug die Verantwortung dafür aufzubürden. Doug hat offensichtlich nicht mehr als Goldesel zur Verfügung gestanden, wenn Ian es für nötig hielt, sich an Eugenie zu wenden. Aber sie hat ihm früher - als wir noch verheiratet waren - nie geholfen, wenn Doug ihm nicht unter die Arme greifen konnte, und ich bin ziemlich sicher, dass sie ihn auch diesmal abgewiesen hat.« Er zog irritiert die Augenbrauen zusammen.
»Warum fragen Sie überhaupt nach Ian?«
»Er wurde in der Nacht ihres Todes mit ihr zusammen gesehen.«
»Das ist ja grässlich«, murmelte Jill.
»Er ist ein jähzorniger Bursche«, erklärte Richard. »Das Erbe seines Vaters. Der Mann war ein wahrer Wüterich. Vor seinen Wutanfällen war keiner sicher. Er hat sich immer damit entschuldigt, dass er behauptete, er hätte nie die Hand gegen seine Kinder erhoben, aber er hatte eine ganz eigene Form der Folter entwickelt. Und dieser Mensch war Priester! Man stelle sich das vor.«
»Mr. Staines hat andere Erinnerungen«, bemerkte Lynley.
»Wieso?«
»Er sprach von Schlägen.«
Richard prustete geringschätzig. »Ach ja? Und wahrscheinlich hat er behauptet, er allein hätte die Prügel auf sich genommen, um die anderen zu schonen. Dann hätten Eugenie und Doug erst recht Anlass gehabt, sich in der Pflicht zu fühlen, wenn er sie um Geld anging.«
»Vielleicht hatte er etwas gegen sie in der Hand«, meinte Lynley. »Gegen seine Geschwister. Was ist aus dem Vater geworden?«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Auf die Frage, welche Sünden Mrs. Davies Major Wiley beichten wollte.«
Richard schwieg. Jill sah das rasche Pochen in seiner Schläfe. Schließlich sagte er: »Ich hatte meine Frau seit beinahe zwanzig Jahren nicht gesehen, Inspector. Woher soll ich wissen, was sie ihrem Geliebten erzählen wollte.«
Meine Frau. Die Worte trafen Jill wie ein Messerstich mitten ins Herz. Blind griff sie zum Deckel des Laptop, klappte ihn zu und verschloss ihn mit mehr Sorgfalt als notwendig.
Der Inspector sagte: »Hat sie übrigens diesen Mann - Major Wiley - irgendwann im Lauf Ihrer Gespräche einmal erwähnt, Mr. Davies?«
»Wir haben immer nur von Gideon gesprochen.«
»Sie wissen also nicht von etwas, das sie innerlich stark beschäftigt haben könnte?«, bohrte der Inspector weiter.
»Herrgott noch mal, ich wusste ja nicht mal, dass sie einen Mann hatte, Inspector«, erwiderte Richard ungeduldig. »Woher soll ich da wissen, was sie mit ihm zu besprechen hatte?«
Jill suchte die Gefühle hinter seinen Worten; versuchte angesichts seiner Reaktion - und der Emotionen, die sie ausgelöst hatten - und seines Verweises auf Eugenie als seine Frau zu erkennen, was für Fossilien an Emotionen vielleicht noch da waren. Sie hatte sich am Morgen die Daily Mail besorgt und die Zeitung begierig nach einem Foto von Eugenie Davies durchgeblättert. Sie wusste jetzt, dass sie es an Schönheit nicht mit ihrer Vorgängerin aufnehmen konnte, und sie hätte den Mann, den sie liebte, gern gefragt, ob er dieser Schönheit nachtrauerte. Denn sie war nicht bereit, Richard mit einer toten Nebenbuhlerin zu teilen. Sie wollte alles oder nichts, und wenn sie nicht alles bekommen konnte, dann wollte sie das wenigstens wissen, um ihre Pläne danach zu richten.
Aber wie danach fragen? Wie das Thema zur Sprache bringen?
Der Inspector sagte: »Sie hat es vielleicht nicht direkt als etwas bezeichnet, worüber sie mit Major Wiley sprechen wollte.«
»Dann hätte ich es sowieso nicht erkannt, Inspector. Ich bin kein Gedankenleser -« Richard brach plötzlich ab. Er stand auf, und einen Moment glaubte Jill, er würde in seinem Zorn darüber, hier über seine frühere Frau sprechen zu müssen, den Polizeibeamten auffordern zu gehen. Aber er sagte stattdessen: »Was ist mit dieser Wolff? Vielleicht war Eugenie ihretwegen in Sorge. Sie hatte doch sicher auch den Brief mit der Nachricht von ihrer Entlassung bekommen. Vielleicht hatte sie Angst, denn sie hatte damals beim Prozess ausgesagt. Sie hat vielleicht gefürchtet, die Wolff könnte es auf sie abgesehen haben. Halten Sie das für möglich?«
»Gesagt hat sie das nicht zu Ihnen?«
»Nein. Aber zu diesem Wiley vielleicht. Er war ja zur Stelle, ich meine, in Henley. Wenn Eugenie Schutz gesucht hat - oder vielleicht nur eine gewisse Sicherheit, das Gefühl, dass jemand für sie da ist -, dann hätte sie das doch bei ihm gesucht. Nicht bei mir. Und wenn es so war, hätte sie ihm zuerst einmal erklären müssen, wovor sie sich fürchtete und warum.«
Der Inspector nickte mit nachdenklicher Miene. »Das ist möglich«, meinte er. »Major Wiley war nicht in England, als Ihre Tochter ermordet wurde. Das hat er uns gesagt.«
»Und wissen Sie, wo sie sich aufhält?«, fragte Richard. »Die Wolff.«
»Ja. Wir haben sie ausfindig gemacht.« Der Inspector klappte sein elegantes Büchlein zu und stand nun ebenfalls auf und dankte ihnen für ihr Entgegenkommen.
Richard sagte hastig, als wünschte er plötzlich, der Mann würde nicht gehen und sie allein lassen: »Vielleicht war sie ganz versessen darauf, sich zu rächen, Inspector.«
Lynley steckte das Büchlein ein. »Haben Sie auch gegen sie ausgesagt, Mr. Davies?«
»Ja. Die meisten von uns.«
»Dann sollten Sie vorsichtig sein, bis wir diese Geschichte geklärt haben.«
Jill sah, wie Richard schluckte. »Natürlich«, antwortete er. »Natürlich.«
Der Inspector nickte ihnen beiden kurz zu, dann ging er.
Jill hatte plötzlich Angst. »Richard!«, sagte sie. »Du glaubst doch nicht… Was ist, wenn diese Frau sie umgebracht hat? Wenn es ihr gelungen ist, Eugenie zu finden, ist damit zu rechnen, dass sie auch - du bist vielleicht auch in Gefahr, Richard…«
»Ist ja gut, Jill. Reg dich nicht auf.«
»Wie kannst du das sagen? Gerade jetzt, wo Eugenie tot ist?«
Richard trat zu ihr. »Bitte, reg dich nicht auf. Es wird nichts passieren.«
»Aber du musst vorsichtig sein. Du musst aufpassen - versprich mir das.«
»Ja. Gut. Ich verspreche es.« Er berührte sanft ihre Wange.
»Guter Gott. Du bist ja kreidebleich. Hast du ernsthaft Angst?«
»Natürlich habe ich Angst. Er hat praktisch gesagt -«
»Nicht! Das reicht jetzt. Komm, ich bringe dich nach Hause.«
Er half ihr auf und blieb bei ihr, während sie sich fertig machte.
»Du hast ihm die Unwahrheit gesagt, Jill«, bemerkte er. »Zumindest teilweise. Ich habe den Mund gehalten, aber jetzt möchte ich dich doch korrigieren.«
Jill schob ihren Laptop in die Tasche und sah Richard fragend an, während sie den Reißverschluss zuzog. »Was meinst du?«
»Du hast gesagt, ich hätte Gideon mein Leben geopfert.«
»Ach so.«
»Genau. Das war einmal zutreffend: vor einem Jahr noch. Aber heute trifft es nicht mehr zu. Natürlich wird er mir immer wichtig sein. Wie könnte es anders sein? Er ist mein Sohn. Aber er ist nicht mehr wie in den letzten zwanzig Jahren der Mittelpunkt meines Lebens, Jill. Mein Leben ist weiter geworden, durch dich.«
Er hielt ihr den Mantel. Sie schob ihre Arme hinein und drehte sich zu ihm herum. »Du bist doch glücklich, nicht?«, sagte sie.
»Über uns, über das Kind?«
»Glücklich?« Er legte eine Hand auf ihren Leib. »Ich fühle mich dir und unserer kleinen Cara unglaublich nahe.«
»Das macht mich froh«, sagte Jill und hob ihren Mund dem seinen entgegen, öffnete ihre Lippen, fühlte die Berührung seiner Zunge und verspürte die Hitze ihres erwachenden Verlangens.
Catherine, dachte sie. Sie heißt Catherine. Doch sie küsste ihn voll Sehnsucht und Begierde und war beinahe verlegen: Sie war im neunten Monat schwanger, schwerfällig wie eine Elefantin und begehrte ihn immer noch. Und plötzlich überkam sie ein solches Verlangen nach ihm, dass die Hitze in ihr umschlug in schmerzliche Sehnsucht.
»Schlaf mit mir«, flüsterte sie, Mund an Mund mit ihm.
»Hier?«, fragte er. »In meinem wackligen alten Bett?«
»Nein. Bei mir. In Shepherd's Bush. Komm, fahren wir. Schlaf mit mir, Darling.«
»Hm.« Seine Finger suchten ihre Brüste. Er drückte sie liebkosend. Sie seufzte. Er drückte stärker, und Feuer schoss in ihren Schoß.
»Bitte«, murmelte sie. »Richard.«
Er lachte leise. »Willst du das wirklich?«
»Ich vergehe vor Sehnsucht nach dir.«
»Das können wir natürlich nicht zulassen.« Er ließ sie los, legte seine Hände auf ihre Schultern und betrachtete sie prüfend.
»Aber du siehst todmüde aus.«
Jill war enttäuscht. »Richard -«
»Gut, dann musst du mir aber versprechen«, unterbrach er sie, »dass du dich danach gründlich ausschläfst und mindestens zehn Stunden lang kein Auge öffnest. Abgemacht?«
Liebe - oder etwas, was sie dafür hielt - überschwemmte sie. Sie lächelte. »Dann bring mich jetzt aber schleunigst nach Hause und erfüll mir meinen Wunsch, sonst kann ich deinem wackligen alten Bett keine Schonung garantieren.«
Es gab Zeiten, da musste man sich auf den Instinkt verlassen, das wusste Constable Winston Nkata aus der Erfahrung der Zusammenarbeit mit verschiedenen Kollegen, und er hatte sich selbst diesen Grundsatz längst zu Eigen gemacht.
Nach dem Besuch in Yasmin Edwards' Laden plagte ihn den ganzen Nachmittag das ungute Gefühl, dass die junge Frau ihm etwas verheimlichte. Schließlich fuhr er mit seinem Wagen in die Kennington Park Road und postierte sich dort, in der einen Hand ein Lammsamosa, in der anderen einen Behälter mit Soße zum Tunken. Seine Mutter würde ihm das Abendessen warm halten, aber es würde vielleicht noch Stunden dauern, ehe er sich über das Hühnchengericht, ihr Spezialrezept, hermachen konnte, das sie ihm für den Abend versprochen hatte. Inzwischen brauchte er etwas, um seinen knurrenden Magen zu besänftigen.
Kauend hielt er den Blick auf die beschlagenen Fenster von Crushleys Wäscherei schräg gegenüber gerichtet. Er war vorher einmal langsam vorbeigegangen und hatte hineingeschaut, als jemand die Tür geöffnet hatte. Katja Wolff hatte, von Dampfwolken eingehüllt, hinten an einem Bügelbrett gestanden.
»Ist sie heute gekommen?«, hatte er ihre Arbeitgeberin gefragt, die er nicht lange nach seinem Besuch bei Yasmin Edwards angerufen hatte. »Nur eine Routineüberprüfung. Sie brauchen ihr nicht zu sagen, dass ich angerufen hab.«
»Ja«, sagte Betty Crushley, die nuschelte, als hätte sie eine dicke Zigarre zwischen den Lippen. »Hat sich ausnahmsweise mal wieder blicken lassen.«
»Das hört man doch gern.«
Und nun saß er hier und wartete darauf, dass Katja Wolff für diesen Tag mit der Arbeit Schluss machen und die Wäscherei verlassen würde. Wenn sie dann brav nach Hause in die Siedlung ging, würde er sich sagen müssen, dass sein Instinkt ihn getrogen hatte. Schlug sie jedoch einen anderen Weg ein, so hätte er wieder einmal den Beweis, dass er sich auf sein Gefühl verlassen konnte.
Er tunkte gerade den letzten Happen seines Samosas in die Soße, als die Frau endlich aus der Wäscherei herauskam. Hastig stopfte er das Gebäck in den Mund, um sofort in Aktion treten zu können. Doch Katja Wolff schien es nicht eilig zu haben. Mit der Jacke über dem Arm, blieb sie direkt vor der Wäscherei auf dem Bürgersteig stehen. Es war kalt, und ein scharfer Wind blies den Passanten Abgase und Gestank ins Gesicht, aber das schien sie nicht zu stören.
In aller Ruhe zog sie ihre Jacke an, nahm aus ihrer Tasche eine blaue Baskenmütze, und stülpte sie sich über das blonde Haar. Dann schlug sie den Jackenkragen hoch und nahm den Weg die Kennington Park Road hinunter in Richtung zur Siedlung.
Schon wollte Nkata seinen trügerischen Instinkt verfluchen, als Katja Wolff das Unerwartete tat. Anstatt in die Braganza Street einzubiegen, die zum Doddington Grove Estate führte, überquerte sie diese Straße und folgte ohne einen Blick in Richtung zu Hause weiter der Kennington Park Road. Sie ging an einem Pub vorüber, an einem Straßenimbiss, wo er zuvor das Samosa gekauft hatte, an einem Frisiersalon und einem Schreibwarengeschäft und blieb schließlich an einer Bushaltestelle stehen, wo sie sich eine Zigarette anzündete und zu der kleinen Gruppe Wartender gesellte. Die ersten zwei Busse, die kamen, ließ sie fahren, und stieg in den dritten ein, nachdem sie ihre Zigarette auf die Straße geworfen hatte. Als der Bus schwerfällig wieder auf die Fahrbahn rumpelte, reihte sich Nkata, froh, nicht in einem Streifenwagen zu sitzen, hinter ihm ein.
Die anderen Autofahrer auf der Straße verwünschten ihn wegen seiner unberechenbaren Fahrweise, die sich an der des Busses orientierte und dadurch auszeichnete, dass er immer wieder urplötzlich an den Bordstein fuhr und anhielt, und dann ebenso plötzlich wieder ausscherte und Gas gab. Mehr als ein Fahrer zeigte ihm den Finger, während er im Zickzack durch das Verkehrsgewühl kreuzte, und einmal hätte er beinahe einen Radfahrer mit Mundschutz angefahren, als der Bus schneller als erwartet an einer Bedarfshaltestelle vorbeibrauste.
Auf diese Art durchquerte er Südlondon. Katja Wolff saß am Fenster auf der Fahrbahnseite des Busses, sodass Nkata jedes Mal, wenn die Straße vor ihm eine Kurve machte, flüchtig ihre blaue Mütze erkennen konnte. Er war ziemlich sicher, dass er sie nicht übersehen würde, wenn sie ausstieg. Und so war es. Als der Bus nach einer Höllenfahrt durch den Berufsverkehr vor dem Bahnhof Clapham anhielt, sah er sie aussteigen.
Er glaubte, sie wollte dort einen Zug nehmen, und überlegte sich schon, wie er es anstellen sollte, nicht gesehen zu werden, wenn er mit ihr in denselben Waggon steigen müsste. Aber anstatt in die Halle zu gehen, wie er erwartet hatte, stellte sie sich wieder an eine Bushaltestelle und stürzte sich nach fünf Minuten Warten in die nächste Fahrt durch Südlondon.
Diesmal hatte sie keinen Fensterplatz, und Nkata müsste an jeder Haltestelle scharf aufpassen, um sie nicht zu übersehen, falls sie aussteigen sollte. Es war anstrengend, und das wütende Gehupe der Autofahrer rundherum war auch nicht gerade entspannend, aber er versuchte, sich davon nicht irritieren zu lassen, und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf das, was wichtig war.
Am Bahnhof Putney konnte er endlich aufatmen. Katja Wolff sprang aus dem Bus und ging, ohne einen Blick nach rechts oder links zu werfen, die Upper Richmond Street hinauf.
Unmöglich, ihr im Auto zu folgen. Da würde er ihr entweder sofort auffallen oder sich die Wut sämtlicher heimwärts strebender Pendler zuziehen, die hinter ihm herzuckeln mussten. Er überholte sie und stellte seinen Wagen ungefähr fünfzig Meter weiter in einer Halteverbotszone auf der anderen Straßenseite ab. Dann wartete er, blickte in den Rückspiegel, den er so eingestellt hatte, dass er den Bürgersteig gegenüber zeigte.
Es dauerte nicht lange, da kam sie, Kopf gesenkt und Kragen hochgeschlagen zum Schutz gegen den Wind. Sie bemerkte ihn nicht. Ein gebotswidrig geparktes Auto ist in London nichts Bemerkenswertes. Und selbst wenn sie ihn gesehen hätte, im schwindenden Licht des Tages wäre er nur irgendein Fremder gewesen, der in seinem Wagen saß und auf jemanden wartete.
Als sie ungefähr zwanzig Meter vor ihm war, stieg Nkata aus dem Wagen und heftete sich an ihre Fersen. Im Gehen schlüpfte er in seinen Mantel, wickelte sich den Schal um den Hals und dankte seinem guten Stern, dass seine Mutter ihn heute Morgen gezwungen hatte, das Ding mitzunehmen. Er drückte sich in den Schatten des Stamms einer alten Platane, als Katja Wolff stehen blieb, sich mit dem Rücken in den Wind drehte und eine Zigarette anzündete. Dann trat sie an den Bordstein, wartete auf eine Lücke im Verkehr und rannte zur anderen Straßenseite hinüber.
Hier mündete die Straße in ein kleines Einkaufsviertel. In den Häusern waren oben die Wohnungen und unten die Geschäfte - Schreibwaren, Zeitungen, Videothek, Restaurants, Blumengeschäfte und Ähnliches.
Katja Wolff ging schnurstracks auf Frère Jacques' Bar und Brasserie zu, wo sowohl die britische als auch die französische Flagge im Wind knallten. Es war ein freundliches, gelb gestrichenes Haus mit altmodischen Sprossenfenstern, innen hell erleuchtet. Als sie hineinging, wartete Nkata auf eine Gelegenheit, die Straße zu überqueren, und bis er das geschafft hatte, hatte sie drinnen schon ihren Mantel ausgezogen und ihn einem Kellner gegeben, der sie zum Tresen jenseits der Gruppe kleiner Tische mit brennenden Kerzen wies. Das Lokal war leer, bis auf eine gut gekleidete Frau im schwarzen Schneiderkostüm, die mit einem Drink an der Bar saß.
Sieht nach Kohle aus, dachte Nkata, ihr Haar musternd, das, kurz geschnitten, wie ein glänzender Helm um ihren Kopf lag; und ihre Kleidung, geschmackvoll und zeitlos, wie es nur für viel Geld zu bekommen ist. Nkata hatte in den Jahren, in denen er einen neuen Menschen aus sich gemacht hatte, genug Zeit mit der Lektüre des GQ verbracht, um zu wissen, wie Leute aussahen, die ihre Klamotten in Gegenden wie Knightsbridge einkauften, wo zwanzig Pfund bestenfalls für ein Taschentuch reichten.
Katja Wolff näherte sich dieser Frau, die lächelnd von ihrem Hocker glitt und ihr entgegenging. Sie gaben einander die Hände, drückten ihre Wangen aneinander und hauchten Küsschen in die Luft. Dann bedeutete die Frau Katja Wolff, sich zu ihr zu setzen.
Nkata kroch tiefer in seinen Mantel und beobachtete die beiden aus den Schatten jenseits der Fensterreihe der Brasserie. Sollten sie in seine Richtung schauen, konnte er so tun, als interessierte er sich brennend für die am Schaufenster des Supermarkts angeschlagenen Sonderangebote - spanischer Rotwein war zu Schleuderpreisen zu haben, wie er feststellte. Und inzwischen konnte er sie im Auge behalten und versuchen herauszubekommen, in welcher Beziehung sie zueinander standen, obwohl er bereits eine ziemlich klare Vorstellung hatte. Er hatte ja die vertrauliche Begrüßung gesehen. Und die Frau in Schwarz hatte Geld, was Katja Wolff bestimmt bestens in den Kram passte. Das waren Hinweise zu dem Gesamteindruck, in den auch die Lüge der Deutschen über ihren Aufenthaltsort am Abend des Todes von Eugenie Davies passte.
Trotzdem wünschte Nkata, es gäbe eine Möglichkeit, das Gespräch der beiden Frauen zu belauschen. Ihr ganzes Verhalten, die Art, wie sie Schulter an Schulter vor ihren Getränken saßen, ließ auf ein sehr vertrauliches Gespräch schließen, bei dem er zu gern Mäuschen gespielt hätte. Und als die Wolff eine Hand zu den Augen hob und die andere Frau ihr den Arm um die Schultern legte und ihr etwas ins Ohr flüsterte, dachte er sogar daran, einfach hineinzumarschieren und sich in aller Form vorzustellen, nur um zu sehen, wie Katja Wolff auf die Überraschung reagieren würde.
Ja, dachte er, da läuft was, ganz entschieden. Und wahrscheinlich war es das, wovon Yasmin Edwards etwas wusste, aber nicht darüber sprechen sollte. Denn man merkt es immer, wenn der oder die Geliebte plötzlich abends länger ausblieb als nur für einen Abendspaziergang oder zum Zigarettenholen. Es war schwierig, solch ein Wissen zu akzeptieren. Die meisten Leute rannten meilenweit, um etwas, von dem sie wussten, dass es ihnen Schmerz bereiten würde, nicht sehen zu müssen, geschweige denn sich damit auseinander zu setzen. Es war nichts als Selbstbetrug, bei Schwierigkeiten in einer Beziehung die Augen zu verschließen, und trotzdem taten es die meisten.
Nkata stampfte auf, um seine Füße zu wärmen, und schob die Hände tiefer in die Manteltaschen. Eine weitere Viertelstunde verging, und er begann gerade zu überlegen, wie lange er noch bleiben sollte, da sah er die beiden Frauen bezahlen und ihre Sachen nehmen.
Er trat hastig in den Supermarkt, als sie zur Tür herauskamen. Halb versteckt hinter einem Regal mit Chianti Classico, nahm er eine Flasche zur Hand und tat so, als studierte er das Etikett, während der junge Mann an der Kasse ihn mit dem Blick musterte, der jeden Schwarzen traf, der nicht schnell genug kaufte, was er in die Hand zu nehmen wagte. Nkata ignorierte ihn. Mit gesenktem Kopf blickte er durch das Schaufenster hinaus. Als er Katja Wolff und ihre Begleiterin vorüberkommen sah, stellte er die Flasche wieder ins Regal, unterdrückte die Worte, die er dem Jungen an der Kasse gern gesagt hätte - wann würde er endlich herauswachsen aus diesem Verlangen, laut zu sagen: »Hey, ich bin von der Polizei«? -, und trat auf die Straße, um den beiden Frauen zu folgen.
Die Frau in Schwarz hatte sich bei Katja Wolff eingehakt und redete im Gehen auf sie ein. Über ihrer rechten Schulter hing eine Ledertasche, so groß wie eine Aktenmappe, die sie fest unter den Arm geklemmt hielt, als traute sie dem Frieden auf der Straße nicht. Die beiden Frauen gingen nicht zum Bahnhof, sondern die Upper Richmond Road in Richtung Wandsworth hinauf.
Nach vielleicht fünfhundert Metern bogen sie links ab. Auf diesem Weg gelangte man in ein dicht bevölkertes Viertel mit Reihen- und Doppelhäusern, und Nkata wusste, dass er, wenn sie in einem der Häuser verschwänden, wenig Chancen hatte, sie wieder zu finden. Er ging schneller und begann dann zu laufen.
Glück gehabt, dachte er, als er um die Ecke bog. Zwar führten von dieser Straße mehrere Seitenstraßen ab, die sich durch das eng besiedelte Gebiet schlängelten, aber die beiden Frauen hatten keine davon eingeschlagen. Sie gingen immer noch geradeaus, immer noch ins Gespräch vertieft, nur dass jetzt die Deutsche redete und lebhaft gestikulierte und die andere Frau zuhörte.
Schließlich bogen sie in die Galveston Road ab, eine kurze Durchgangsstraße mit Reihenhäusern, von denen einige in Wohnungen aufgeteilt waren, während andere den Einfamiliencharakter bewahrt hatten. Es war eine Mittelklassegegend mit Stores an den Fenstern, frischen Anstrichen, gepflegten Gärten und Blumenkästen, die in Erwartung des Winters mit Stiefmütterchen bepflanzt waren. Etwa auf halbem Weg durch die Straße traten Katja Wolff und ihre Begleiterin durch ein schmiedeeisernes Törchen und gingen auf eine rot lackierte Tür zu, auf der zwischen zwei schmalen Fenstern in Messing die Nummer 55 angebracht war.
Anders als bei den Nachbarn war der Garten hier verwildert. Man hatte die Büsche zu beiden Seiten der Haustür unbeschnitten wachsen lassen, und auf der einen Seite wuchsen die langen Triebe eines Jasmins, auf der anderen die eines Ginsters bis zur Haustür, als suchten sie Halt. Von der anderen Straßenseite schaute Nkata zu, wie Katja Wolff sich seitlich zwischen den wuchernden Büschen hindurchschob und die zwei Stufen zum kleinen Vorplatz hinaufstieg. Sie klingelte nicht, sondern öffnete die Tür und ging ins Haus. Ihre Begleiterin folgte.
Die Tür fiel hinter den beiden Frauen zu. Im Vestibül wurde Licht gemacht, Nkata sah es in den beiden kleinen Fenstern der Tür. Ungefähr fünf Sekunden später wurde auch das vordere Erkerfenster hell. Durch die geschlossenen Vorhänge waren nur Schatten auszumachen, aber das reichte, um zu erkennen, was vorging - wie die beiden Frauen einander in die Arme sanken und miteinander verschmolzen.
»Na bitte«, murmelte Nkata. Endlich hatte er, was er gesucht hatte: den konkreten Beweis für Katja Wolffs Verrat.
Wenn er der ahnungslosen Yasmin Edwards diese Neuigkeiten überbrachte, würde sie garantiert offen über ihre Freundin reden. Und wenn er jetzt sofort ging und sich in seinen Wagen setzte, würde er bei Yasmin ankommen und mit ihr sprechen können, bevor Katja Wolff Gelegenheit hatte, die Freundin darauf vorzubereiten, dass sie etwas Unerfreuliches zu hören bekommen würde, was sie - Katja - sonst natürlich als Verleumdung hinstellen würde.
Aber als die beiden Gestalten hinter dem großen Fenster in der Galveston Road sich voneinander lösten, um das zu tun, wozu sie zusammengekommen waren, zögerte Nkata. Wie, fragte er sich, sollte er es anstellen, Yasmin Edwards die Verlogenheit ihrer Freundin beizubringen und zu verhindern, dass Yasmin lieber den Überbringer der Nachricht töten würde, als sich mit der Nachricht auseinander zu setzen?
Dann fragte er sich, warum er sich darüber überhaupt Gedanken machte. Die Frau war eine Lesbe und eine Knastschwester dazu. Sie hatte ihren eigenen Ehemann erstochen und dafür fünf Jahre gesessen und in dieser Zeit zweifellos noch eine ganze Menge dazugelernt. Sie war gefährlich, und das sollte er - Winston Nkata, der einem Leben entronnen war, das ihn auf einen ähnlichen Weg hätte führen können - besser im Kopf behalten.
Also kein Grund, jetzt in die Siedlung hinüberzubrausen, sagte er sich. So wie es aussah, würde Katja Wolff sowieso nicht so bald aufbrechen.
Lynley war überrascht, seine Frau noch bei den St. James' anzutreffen, als er dort ankam. Es war bald Zeit zum Abendessen, und normalerweise war Helen um diese Zeit längst zu Hause. Aber als Joseph Cotter - St. James' Schwiegervater und der Mann, der seit mehr als einem Jahrzehnt dafür sorgte, dass der Haushalt in der Cheyne Row reibungslos lief - Lynley die Tür öffnete, sagte er als Erstes: »Sie sind oben im Labor, die ganze verflixte Gesellschaft. Aber wen wundert's! Der hohe Herr hat sie heute wieder mal auf Trab gehalten. Deb ist auch oben, ich weiß allerdings nicht, ob sie so brav und fügsam war wie Lady Helen. Sogar das Mittagessen hat sie sausen lassen, >Ich kann jetzt keine Pause machenc, hat sie gesagt. >Wir sind gerade mittendrin.c«
»Wo mittendrin?«, fragte Lynley und dankte Cotter, als dieser das Tablett, das er in Händen hielt, absetzte, um ihm aus dem Mantel zu helfen.
»Weiß der Himmel! Möchten Sie einen Drink? Eine Tasse Tee, vielleicht? Ich habe gerade frische Scones gebacken« - er machte eine Kopfbewegung zum Tablett - »wenn Sie so nett wären, sie mit raufzunehmen. Ich hatte sie zum Tee gemacht, aber es kam keiner runter.«
»Ich werde die Situation mal sondieren.« Lynley nahm das Tablett, das Cotter auf dem Schirmständer abgestellt hatte. »Soll ich den Herrschaften etwas ausrichten?«, fragte er.
»Sagen Sie ihnen, dass wir um halb acht essen. Schmorbraten in Portweinsoße. Neue Kartoffeln. Zucchini und Karotten.«
»Das wird sie bestimmt locken.«
Cotter lachte skeptisch. »Das ist die Frage. Aber richten Sie ihnen aus, wenn sie diesmal nicht herunterkommen, koche ich in Zukunft nicht mehr für sie. Peach ist übrigens auch oben. Geben Sie ihm bloß keines von den Scones, auch wenn er noch so bettelt. Er ist viel zu dick.«
»In Ordnung.« Lynley stieg die Treppe hinauf.
Er fand sie alle oben, wie Cotter vorausgesagt hatte. Helen und Simon saßen über irgendwelchen Diagrammen, die auf einem Arbeitstisch ausgebreitet lagen, Deborah inspizierte in ihrer Dunkelkammer eine Serie Negative, Peach rannte schnuppernd im Zimmer herum. Er war der Erste, der Lynley bemerkte, und beim Anblick des Tabletts kam er sofort schwanzwedelnd und mit blitzenden Auglein angelaufen.
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, du freust dich über mein Kommen«, sagte Lynley zu ihm. »Aber es ist mir leider strengstens verboten worden, dich zu füttern.«
St. James sah auf, und Helen rief: »Tommy!«, warf einen Blick zum Fenster, runzelte die Stirn und fügte hinzu: »Du meine Güte! Wie spät ist es eigentlich?«
»Unsere Ergebnisse sind völlig blödsinnig«, sagte St. James ohne nähere Erklärung zu Lynley. »Ein Gramm als tödliche Dosis? Die lachen mich ja bei der Verhandlung aus dem Saal.«
»Und wann ist die Verhandlung?«
»Morgen.«
»Da hast du wohl eine lange Nacht vor dir, hm?«
»Oder Ritualselbstmord.«
Deborah gesellte sich zu ihnen. »Hallo, Tommy. Was hast du uns da mitgebracht?« Ihr Gesicht leuchtete auf. »Oh, genial! Scones.«
»Dein Vater hat mir eine Nachricht bezüglich des Abendessens mitgegeben.«
»Fresst oder sterbt?«
»So ähnlich.« Lynley sah seine Frau an. »Ich dachte, du wärst längst weg.«
»Kein Tee zu den Scones?«, fragte Deborah und nahm Lynley das Tablett ab.
»Wir haben die Zeit anscheinend völlig aus den Augen verloren«, sagte Helen.
»Das sieht dir eigentlich gar nicht ähnlich«, meinte Deborah und stellte das Tablett neben einen dicken Schmöker, bei dem die schaurige Darstellung eines Toten aufgeschlagen war, dem vor seinem Tod grünstichiger Schleim aus Mund und Nase rann. Ohne sich von diesem unappetitlichen Anblick stören zu lassen, nahm Deborah sich ein Scone. »Wenn wir uns nicht mehr darauf verlassen können, dass du uns an die Mahlzeiten erinnerst, sind wir aufgeschmissen, Helen.« Sie brach das Gebäck auseinander und biss davon ab. »Köstlich«, sagte sie. »Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich solchen Hunger habe. Aber ich kann die Dinger nicht essen, ohne was dazu zu trinken. Ich hol mir einen Sherry. Sonst noch jemand?«
»Das klingt gut.« St. James nahm sich ebenfalls eines von den Scones, während seine Frau schon hinausging. »Gläser für alle, Liebes«, rief er ihr nach.
»In Ordnung«, rief Deborah zurück und fügte hinzu: »Komm mit, Peach. Jetzt gibt's was zu Fressen.« Der Hund folgte ihr gehorsam, den Blick fest auf das Scone in ihrer Hand gerichtet.
»Müde?«, fragte Lynley seine Frau. Sie sah sehr blass aus.
»Ein bisschen.« Sie schob sich eine Locke hinter das Ohr. »Er hat mich heute ganz schön rangenommen.«
»Wann tut er das nicht?«
»Ich habe schließlich einen Ruf als Sklaventreiber zu verlieren«, sagte St. James. »Aber ich habe einen grundgütigen Kern. Ich werd's euch beweisen. Sieh dir das an, Tommy.«
Er ging zu seinem Tisch, wo er, wie Lynley sah, den Computer aufgestellt hatte, den Lynley und Barbara Havers aus Eugenie Davies' Büro mitgenommen hatten. Daneben stand ein Laserdrucker, aus dem St. James ein Bündel Unterlagen nahm.
»Du hast die von ihr besuchten Web-Adressen gefunden«, sagte Lynley. »Gut gemacht, Simon. Ich bin beeindruckt und dankbar.«
»Spar dir >beeindruckt<. Das hättest du auch selbst fertig gebracht, wenn du nur die geringste Ahnung von der Materie hättest.«
»Sei gnädig mit ihm, Simon.« Helen sah ihren Mann mit einem liebevollen Lächeln an. »Sie haben ihn erst kürzlich im Büro mit roher Gewalt gezwungen, mit E-Mails zu arbeiten. Stoß ihn nicht zu abrupt in die Zukunft.«
»Sonst brech ich mir noch das Genick«, meinte Lynley und zog seine Brille heraus. »Also, was haben wir?«
»Zuerst ihre Internetverbindungen.« St. James erklärte, dass die meisten Computer - wie auch der von Eugenie Davies - jede Website, den ein Anwender aufsuchte, aufzeichneten, und überreichte Lynley eine Liste, die selbst für ihn als Internetadressen erkennbar waren. »Alles absolut seriös«, bemerkte er. »Ich denke, wenn du nach irgendwelchen Unappetitlichkeiten in ihrer Internetbenutzung suchst, wirst du nichts finden.«
Lynley sah die Liste mit den Web-Adressen durch, die St. James bei der Untersuchung von Eugenie Davies' Internettätigkeit erstellt hatte. Dies, erklärte er, waren die Adressen, die sie in die location-bar eingegeben hatte, um zu einzelnen Websites Zugriff zu bekommen. Wenn man nur das Drop-down-Menü neben der location-bar anklickt, hatte man leichten Zugang zu der Spur, die ein Internetanwender hinterließ, wenn er surfte.
Lynley, der St. James' Erklärungen darüber, wie er zu seinen Informationen gekommen war, mit beiläufiger Aufmerksamkeit zuhörte, brummelte zustimmend zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und überflog die Liste der Web-Adressen, die Eugenie Davies gewählt hatte. Er sah, dass St. James den Internetgebrauch der Toten mit gewohnter Genauigkeit überprüft hatte. Jede Site schien - zumindest dem Namen nach - mit ihrer Tätigkeit als Leiterin des Sixty Plus Club zu tun zu haben, ob es sich nun um die Internetadresse einer Abteilung des nationalen Gesundheitsdiensts oder eines Reisebüros, das auf Seniorenbusreisen spezialisiert war, handelte. Sie schien außerdem in Zeitungsarchiven herumgestöbert zu haben, vor allem denen der Daily Mail und des Independent. Diese Website hatte sie regelmäßig aufgesucht, häufiger in den vergangenen vier Monaten. Möglicherweise war das eine Bestätigung für Richard Davies' Behauptung, sie hätte versucht, sich anhand der Zeitungen über das Befinden ihres Sohnes zu informieren.
»Nein, das ist keine Hilfe«, meinte Lynley zustimmend.
»Aber vielleicht gibt's hier Hoffnung.« St. James reichte ihm die Papiere, die er in der Hand behalten hatte. »Ihre E-Mails.«
»Wie viele davon?«
»Alle. Von dem Tag an, als sie anfing, online zu korrespondieren.«
»Sie hatte das alles gespeichert?«
»Nicht absichtlich.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, dass die Leute sich im Internet zu schützen versuchen, es aber nicht immer klappt. Sie nehmen Passwörter, die für jeden, der sie kennt, mit Leichtigkeit zu erraten sind -«
»Wie sie, als sie Sonia wählte.«
»Richtig. Das ist der erste Fehler, den sie machen. Der zweite ist, dass sie es versäumen, zu prüfen, ob ihr Computer konfiguriert ist, alle eingehenden E-Mails zu speichern. Sie bilden sich ein, alles, was sie tun, geschähe unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit, aber in Wirklichkeit ist ihre Welt ein offenes Buch für jedermann, der weiß, welche Symbole welche Seiten öffnen. In Mrs. Davies' Fall hat der Computer alle eingehende Post in den Papierkorb befördert, sobald sie die Nachrichten löschte, aber bis zu dem Zeitpunkt, wo sie den Papierkorb selbst leerte - was sie offenbar nicht ein einziges Mal getan hat -, blieben die Nachrichten einfach dort gespeichert. Das kommt ständig vor. Man drückt auf die Löschtaste und meint, damit wäre die betreffende Nachricht oder was immer aus der Welt, aber in Wirklichkeit hat der Computer sie nur an eine andere Position verlagert.«
»Dann ist das hier alles?« Lynley wies auf das Bündel Papiere.
»Die gesamte Post, die sie erhalten hat, ja. Helen hat alles ausgedruckt. Sag schön danke. Sie hat die Mitteilungen durchgesehen und, um mir Zeit zu sparen, diejenigen angemerkt, die wahrscheinlich geschäftlicher Art sind. Den Rest wirst du dir genauer ansehen müssen.«
»Danke dir, Darling«, sagte Lynley zu seiner Frau, die an einem Scone knabberte. Er blätterte das dünne Bündel Papiere durch und legte alle Ausdrucke, die Helen angemerkt hatte, auf die Seite. Die übrigen Mitteilungen las er in chronologischer Reihenfolge durch, wobei er genau prüfte, ob sie irgendetwas enthielten, was verdächtig wirkte; irgendeine Andeutung, dass jemand Eugenie Davies Böses gewollt hatte. Gleichzeitig achtete er darauf - wovon er allerdings nichts verlauten ließ -, ob etwas von Webberly dabei war, vielleicht eine Mitteilung jüngeren Datums, die den Superintendent in eine peinliche Lage hätte bringen können.
Einige der Absender benutzten nicht ihre eigenen Namen, sondern Pseudonyme, die sich aber offensichtlich auf ihr Arbeitsgebiet oder ihre besonderen Interessen bezogen, und es war für Lynley eine Erleichterung, festzustellen, dass unter diesen Decknamen keiner war, hinter dem man ohne weiteres seinen Vorgesetzten in Scotland Yard hätte vermuten können. Auch eine Scotland-Yard-Adresse erschien nirgends.
Aufatmend las er weiter. Unter den Absendern war keiner, der mit Die Zunge, Pitchley oder Pitchford gezeichnet hatte. Und bei einer zweiten Prüfung der Liste mit den von Eugenie Davies aufgesuchten Internetadressen, die St. James ihm zuerst gegeben hatte, gewann er nicht den Eindruck, dass eine von ihnen eine raffinierte Deckadresse für einen Chatroom war, wo Rendezvous zum anonymen Sex arrangiert wurden. Ob man allerdings daraufhin Die Zunge, Pitchley-Pitchford, aus dem Kreis der Verdächtigen streichen konnte, war fraglich.
Als er sich von neuem dem E-Mail-Bündel zuwandte, sagte Helen, die zusammen mit St. James schon wieder über den Diagrammen saß, mit denen die beiden bei Lynleys Ankunft beschäftigt gewesen waren: »Die letzte E-Mail kann übrigens am Morgen ihres Todestages, Tommy. Sie liegt ganz unten im Stapel. Sieh sie dir mal an. Mir ist sie sofort aufgefallen.«
Lynley war klar, warum, als er den Ausdruck hervorzog. Die Mitteilung bestand nur aus drei Sätzen: »Ich muss dich noch einmal sehen, Eugenie. Ich flehe dich an. Du kannst mich nach dieser langen Zeit nicht zurückweisen.«
»Verdammt!«, sagte er leise. Nach dieser langen Zeit!
»Was hältst du davon?«, fragte Helen, die sich, nach ihrem Tonfall zu urteilen, bereits ihr eigenes Bild gemacht hatte.
»Ich weiß nicht.« Die Mitteilung endete ohne Schlussformel, und der Absender gehörte zu denen, die sich eines Pseudonyms statt ihres richtigen Namens bedienten. Jete lautete das Wort, das der Domain voranging. Der Provider war Claranet, ein Firmenname war nicht angegeben.
Das ließ darauf schließen, dass ein Heimcomputer benutzt worden war, um mit Eugenie Davies Verbindung aufzunehmen, und das war für Lynley, der ziemlich sicher war, dass Webberly keinen PC zu Hause hatte, eine gewisse Beruhigung.
»Simon«, sagte er, »gibt es eine Möglichkeit, den wahren Namen eines E-Mail-Anwenders herauszufinden, wenn er mit einem Decknamen arbeitet?«
»Über den Provider«, antwortete St. James. »Ich vermute allerdings, man muss ordentlich Druck machen, um da was zu erreichen. Denn der Provider ist nicht verpflichtet, Namen preiszugeben.«
»Aber in einem Mordfall…«, warf Helen ein.
»Das wäre als Druckmittel vielleicht ausreichend«, stimmte St. James zu.
Deborah kam mit vier Gläsern und einer Karaffe zurück. »Bitte sehr«, sagte sie, »Scones und Sherry.« Sie begann einzuschenken.
»Für mich nicht, Deborah«, sagte Helen hastig und nahm sich einen Klacks Butter auf ihr Scone.
»Also komm, irgendwas brauchst du zur Stärkung«, widersprach Deborah. »Wir haben geschuftet wie die Sklaven. Da hast du eine Belohnung verdient. Wär dir ein Gin Tonic lieber, Helen?« Sie rümpfte die Nase. »Was rede ich denn da? Gin Tonic und Scones? Das klingt ja vielleicht verlockend!« Sie reichte ein Glas ihrem Mann und das andere Lynley. »Hör mal, das ist ein denkwürdiger Tag, Helen. Ich habe noch nie erlebt, dass du einen Sherry abgelehnt hast. Schon gar nicht, wenn Simon dich vorher so hart rangenommen hatte. Geht's dir auch wirklich gut?«
»Bestens«, versicherte Helen und warf Lynley einen Blick zu.
Genau der richtige Moment, dachte Lynley. Einen besseren Zeitpunkt, ihnen die freudige Nachricht mitzuteilen, gab es nicht. Sie waren unter sich, vier alte Freunde, die sich mochten, was also hinderte ihn daran, wie beiläufig zu sagen: »Wir haben euch übrigens etwas mitzuteilen. Wahrscheinlich habt ihr schon eine Ahnung, hm? Na, ahnt ihr was?« Er könnte beim Sprechen Helen den Arm um die Schultern legen. Er könnte sie an sich ziehen und küssen. »Der Ernst des Lebens hat uns erwischt«, könnte er scherzhaft sagen. »Nächte durchfeiern und sonntags lang schlafen ist nicht mehr. Jetzt winken Windeln und Babygeschrei.«
Aber er sagte nichts dergleichen. Stattdessen hob er sein Glas und richtete das Wort an St. James. »Danke dir für deine Hilfe mit dem Computer, Simon. Ich stehe wieder einmal in deiner Schuld.« Er trank von seinem Sherry.
Deborah blickte neugierig von Lynley zu Helen, die schweigend die Diagramme ordnete, während St. James Lynley zuprostete. Ein gespanntes Schweigen breitete sich aus, in das Peach hineinplatzte, der, mit seinem Abendessen fertig, die Treppe herauf ins Labor gerannt kam, sich unter den Arbeitstisch setzte, auf dem noch immer die Scones standen, und einmal laut und schrill kläffte.
»Tja, also…«, sagte Deborah, und dann energisch, als der Hund ein zweites Mal bellte: »Nein, Peach. Du bekommst gar nichts. Simon, schau ihn dir an. Er ist einfach unverbesserlich.«
Die Beschäftigung mit dem Hund half ihnen, den Moment zu überbrücken, bevor Helen ihre Sachen einzusammeln begann.
»Simon, Schatz«, sagte sie zu St. James, »ich würde zwar liebend gern bleiben und mir mit dir zusammen die Nacht um die Ohren schlagen, aber…«
Woraufhin St. James antwortete: »Du warst lange genug hier, Helen. Ich weiß das zu schätzen. Irgendwie werde ich schon allein durchkommen.«
»Hört euch das an! Er ist schlimmer als der Hund«, bemerkte Deborah. »Manipuliert die Leute, wie er es braucht. Lass dich ja nicht von ihm einfangen, Helen. Verschwinde lieber.«
Helen nahm sich den Rat zu Herzen. Während St. James und Deborah im Labor blieben, ging sie hinaus. Lynley folgte ihr.
Auf dem Weg die Treppe hinunter sprachen sie beide kein Wort. Und als sie draußen vor dem Haus standen, im kalten Wind, der vom Fluss herauf durch die Straße fegte, sagte Helen nur: »Na ja.« Sie sagte es zu sich selbst und nicht zu ihm, und ihr Gesicht drückte Traurigkeit und Erschöpfung aus. Lynley konnte nicht erkennen, was überwog, aber er hatte eine Ahnung.
»Ist es denn zu früh passiert?«, fragte Helen.
Er gab nicht vor, sie nicht zu verstehen. »Nein. Nein! Natürlich nicht.«
»Was dann?«
Er suchte nach einer möglichen Erklärung; einer Erklärung, mit der sie beide leben könnten, die ihn nicht eines Tages verfolgen und quälen würde. »Ich möchte ihnen nicht wehtun«, sagte er. »Ich stelle mir ihre Gesichter vor, wie sie Freude vortäuschen, und es sie innerlich beinahe zerreißt vor Schmerz und Wut über die Ungerechtigkeit.«
»Das Leben ist voller Ungerechtigkeiten, Tommy. Das musst du doch am besten wissen. Man kann es nicht jedem recht machen. So wenig, wie man in die Zukunft sehen kann. Wir wissen nicht, was auf sie wartet. Wir wissen nicht, was auf uns wartet.«
»Das weiß ich.«
»Dann -«
»Aber so einfach ist es nicht, Helen. Auch wenn ich das weiß, kann ich nicht einfach über ihre Gefühle hinweggehen.«
»Und was ist mit meinen Gefühlen?«
»Sie sind mir das Wichtigste überhaupt. Helen, du bist alles für mich.« Er zog sie an sich, schloss den obersten Knopf ihres Mantels und schob den Schal um ihren Hals etwas höher. »Komm, raus aus der Kälte. Bist du mit dem Auto hier? Wo steht dein Wagen?«
»Ich möchte mit dir darüber sprechen. Du benimmst dich, als ob…« Sie sprach nicht weiter. Es gab nur eine Möglichkeit, es zu sagen - direkt. Es gab keine Metapher, zu beschreiben, was sie fürchtete, und er wusste es.
Er wollte sie beruhigen, aber das konnte er nicht. Er hatte Freude erwartet, Aufregung, er hatte die Verbundenheit gemeinsamen Glücks erwartet, aber nicht Schuldgefühle und Schrecken: die Erkenntnis, dass er die Toten begraben musste, bevor er die Lebenden mit offenen Armen empfangen konnte.
»Komm, fahren wir nach Hause«, sagte er. »Es war ein langer Tag, und du brauchst Ruhe.«
»Mehr als Ruhe, Tommy«, entgegnete sie und wandte sich von ihm ab.
Er sah ihr nach, wie sie zum Ende der Straße ging, wo sie vor dem King's Head and Eight Bells ihren Wagen geparkt hatte.
Malcolm Webberly legte den Hörer auf. Viertel vor zwölf, er hätte sie nicht anrufen sollen, aber er hatte es nicht lassen können. Er hatte nicht auf die Vernunft gehört, die ihm gesagt hatte, dass es spät war, dass die beiden gewiss schon schlafen würden, dass auf jeden Fall Helen im Bett wäre, auch wenn Tommy um diese Zeit noch arbeiten sollte, und über einen mitternächtlichen Anruf nicht erfreut wäre. Den ganzen Tag hatte er auf Nachricht gewartet, und als er bis zum Abend nichts gehört hatte, war ihm klar gewesen, dass er nicht würde schlafen können, solange er nicht mit Lynley gesprochen hatte.
Er hätte Eric Leach anrufen und um einen Bericht über den neuesten Stand der Ermittlungen bitten können. Eric hätte ihm alles geliefert, was er auf Lager hatte. Aber Eric hineinzuziehen, das hätte die Erinnerungen auf eine Art lebendig gemacht, wie er es sich nicht erlauben konnte. Denn Eric war dem Geschehen zu nahe gewesen. Er war dabei gewesen, als es begonnen hatte in dem Haus in Kensington; er war bei nahezu jeder Vernehmung dabei gewesen, die er-Webberly- geleitet hatte, und er hatte vor Gericht ausgesagt. Er war dabei gewesen, hatte direkt neben Webberly gestanden, als dieser den ersten Blick auf das tote Kind geworfen hatte. Leach war damals ein unverheirateter Mann gewesen, der keine Ahnung hatte, was es bedeutete, ein Kind zu verlieren, über einen solchen Verlust auch nur nachzudenken.
Er aber hatte an seine kleine Tochter Miranda denken müssen, als er den leblosen Körper des Kindes auf dem Obduktionstisch liegen sah, und war voller Entsetzen zurückgezuckt beim ersten Schnitt, dieser charakteristischen Y-Inzision, die sich nicht beschönigen ließ, sondern immer blieb, was sie war: eine zwar notwendige, aber brutale Verstümmelung. Nur mit Mühe hatte er einen Aufschrei des Protests darüber zurückgehalten, dass eine solche Grausamkeit durchgeführt werden musste, wo schon genug Grausamkeit verübt worden war.
Aber zu Sonia Davies war nicht nur der Tod grausam gewesen, sondern auch das Leben, die Natur, die sie fehlerhaft erschaffen hatte.
Er hatte die Krankenberichte gesehen, über die Folgen von Operationen und Erkrankungen gelesen, die dieses kleine Mädchen in den ersten zwei Jahren seines Lebens hatte aushaken müssen. Mit Dankbarkeit hatte er an seine Tochter gedacht, die ein Wunder an Gesundheit und Lebenskraft war, und sich gefragt, wie Menschen damit fertig wurden, wenn das Schicksal ihnen etwas bescherte, was ihnen weit mehr abverlangte, als sie je für möglich gehalten hatten.
Eric Leach hatte sich offensichtlich die gleichen Gedanken gemacht. »Ich verstehe, dass sie eine Kinderfrau brauchten«, hatte er gesagt. »Das war alles zu viel, noch dazu mit einem Großvater, der nicht alle Tassen im Schrank hat, und einem Sohn, der ein zweiter Mozart ist oder so was. Aber warum haben sie nicht eine gelernte Kraft für das Kind engagiert? Sie hätten eine Kinderschwestergebraucht,nichtein
Flüchtlingsmädchen.«
»Ja, das war eine schlechte Entscheidung«, hatte Webberly zustimmend gesagt. »Und jetzt bekommen sie die Strafe dafür. Aber weder das Gericht noch die Presse kann sie so hart bestrafen, wie sie selbst sich bestrafen werden.«
»Es sei denn…« Leach sprach nicht weiter. Er blickte zu Boden und trat von einem Fuß auf den anderen.
»Es sei denn, was, Sergeant?«
»Es sei denn, sie haben diese Entscheidung ganz bewusst getroffen. Weil sie sachkundige Pflege für das Kind gar
nicht wollten. Aus ganz persönlichen Gründen.«
Webberly versuchte nicht, seine Empörung zu verbergen. »Sie wissen ja nicht, was Sie da reden. Warten Sie, bis Sie selber Kinder haben, dann werden Sie wissen, wie das ist. Nein. Ich sag's Ihnen gleich. Es ist so, dass man am liebsten jeden umbringen würde, der sie nur schief ansieht.«
Und genauso fühlte er sich, als im Lauf der folgenden Wochen die Informationen immer präziser wurden: bereit, zu töten. Weil es ihm nicht gelang, Abstand zu finden, und weil er in dem fremden Kind immer seine kleine Tochter Miranda sah, die zu dieser Zeit mit ihrem zerfledderten Plüschesel im Arm durchs ganze Haus zu laufen pflegte. Überall witterte er plötzlich Gefahren für sie. In jedem Winkel lauerte etwas, das sie ihm rauben und ihm das Herz brechen konnte. Da war das Bedürfnis entstanden, Sonia Davies' Tod zu rächen, als ein Mittel, für die Sicherheit seines eigenen Kindes zu sorgen. Wenn ich ihre Mörderin vor den Richter bringe, sagte er sich, werde ich mit meiner Rechtschaffenheit Gottes Schutz für Randie erkaufen.
Natürlich hatte er zu Beginn nicht gewusst, dass es eine Mörderin gab. Wie alle anderen hatte er geglaubt, ein Moment der Fahrlässigkeit hätte zu der Tragödie geführt, die alle Betroffenen auf ewig verfolgen würde. Aber als bei der Obduktion die alten Frakturen entdeckt wurden und bei genauerer Untersuchung die Quetschungen an Schultern und Hals, die darauf hindeuteten, dass das Kind unter Wasser gedrückt und ertränkt worden war, war bei ihm der Wunsch nach Vergeltung erwacht. Vergeltung für den Tod dieses unvollkommen geborenen Kindes. Vergeltung im Namen der Mutter, die dieses Kind zur Welt gebracht hatte.
Augenzeugen gab es keine, die Beweise waren dünn. Das beunruhigte Leach, aber nicht Webberly. Der Tatort erzählte ja seine eigene Geschichte, und er wusste, dass er diese Geschichte verwenden konnte, um eine Theorie zu stützen, die sich rasch entwickelte. Da war einmal die Wanne mit der völlig unberührt wirkenden Seifenschale, die der Behauptung widersprach, dass hier ein Kindermädchen, zu Tode erschrocken, ihren Schützling im Wasser versunken gesehen und verzweifelt um Hilfe gerufen hatte, während sie das kleine Mädchen aus der Wanne gezogen und versucht hatte, es zu retten. Da waren die Medikamente - ein ganzer Apothekerschrank voll - und, später, die umfangreichen ärztlichen Berichte, die genug darüber aussagten, welch eine Belastung es war, ein Kind wie Sonia betreuen zu müssen. Da waren die Streitigkeiten zwischen dem Kindermädchen und den Eltern, die von allen anderen Mitgliedern des Haushalts bestätigt worden waren. Und es gab die Aussagen der Eltern, des älteren Kindes, der Großeltern, der Lehrerin, der Freundin, die das Kindermädchen am fraglichen Abend angeblich angerufen hatte, und des Untermieters, der Einzige, der jedes Gespräch über die junge Deutsche zu vermeiden suchte. Und dann war da Katja Wolff selbst, die nach einer ersten Aussage unglaublicherweise beharrlich geschwiegen hatte.
Da sie nicht zu sprechen bereit war, musste er sich auf die Aussagen anderer verlassen, die mit ihr zusammenlebten. »Wirklich gesehen habe ich nichts, nein…«, »Ja, natürlich gab es Augenblicke der Spannung, wenn sie mit dem Kind zu tun hatte…«, »Sie war nicht immer so geduldig, wie sie vielleicht hätte sein sollen, aber die Umstände waren ja auch wirklich schwierig…«, »Anfangs war sie die Gefälligkeit selbst…«, »Es gab Streit zwischen ihr und den Eltern, weil sie wieder verschlafen hatte…«, »Wir hatten beschlossen, sie zu entlassen…«, »Sie fand das nicht fair…«, »Wir waren nicht bereit, ihr ein Zeugnis zu geben, weil wir nicht der Meinung waren, sie sei für die Kinderpflege die geeignete Person…« Aus den Aussagen der anderen Hausbewohner ergab sich ein Muster, das von Katja Wolff selbst weder bestätigt noch widerlegt wurde. Mit dem Muster bildete sich die Geschichte, ein Flickenteppich aus Gesehenem und Gehörtem und den Schlussfolgerungen, die sich daraus ziehen ließen.
»Besonders überzeugend sind die Argumente trotzdem nicht«, hatte Leach in einer Pause während der Verhandlung vor dem Haftrichter gesagt.
»Aber es sind Argumente«, hatte Webberly entgegnet. »Solange sie den Mund nicht aufmacht, nimmt sie uns die Hälfte der Arbeit ab und legt sich gleich selbst die Schlinge um den Hals. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr Anwalt ihr das nicht klar gemacht hat.«
»Die Presse reißt sie in Fetzen, Sir. Die Zeitungen berichten wortwörtlich über das Verfahren, und jedes Mal, wenn Sie auf Fragen nach Gesprächen mit ihr sagen: >Sie lehnte es ab, die Frage zu beantwortenc, steht sie da wie -«
»Was soll der Quatsch, Eric?«, hatte Webberly ihn unterbrochen. »Was die Presse druckt, kann ich nicht ändern, und es ist auch nicht unser Problem. Wenn sie sich sorgt, wie ihr Schweigen auf die Geschworenen wirken wird, falls es zum Prozess kommen sollte, braucht sie doch nur den Mund aufzumachen.«
Ihre Sorge und Aufgabe, sagte er zu Leach, müsse es sein, für die Gerechtigkeit einzutreten, Fakten zu präsentieren, die es dem Richter ermöglichen würden, ihre Inhaftierung bis zum Prozessbeginn zu verfügen. Und das hatte Webberly getan. Das war alles, was er getan hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass der Familie der kleinen Sonia Davies Gerechtigkeit zuteil wurde. Frieden oder ein Ende ihrer Albträume hatte er ihnen nicht bringen können. Aber wenigstens für Gerechtigkeit hatte er gesorgt.
Während er jetzt mit einer Tasse Horlicks am Küchentisch in seinem Haus in Stamford Brook saß, ließ er sich alles, was er bei diesem späten Telefongespräch von Tommy Lynley erfahren hatte, durch den Kopf gehen. Zu einer Neuigkeit kehrte er immer wieder zurück - dass Eugenie Davies einen Mann gefunden hatte. Er war froh darüber. Vielleicht würde ihm das die tägliche Scham und Reue über sein feiges Verhalten ihr gegenüber etwas erträglicher machen.
Er hatte nur die besten Absichten gehabt, bis zu dem Tag, an dem ihm klar geworden war, dass ihre Beziehung keine Zukunft hatte. Kennen gelernt hatte er sie im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit, und ihre Beziehung war rein sachlich gewesen. Als sich das nach der zufälligen Begegnung am Paddington-Bahnhof zu ändern begann, hatte er sich zunächst bloß als Freund gesehen und sich, indem er die erwachenden Wünsche unterdrückte, einzureden versucht, dass es dabei bleiben könnte. Sie ist verletzlich, hatte er sich in dem erfolglosen Bemühen, seine Gefühle zu beherrschen, vorgehalten. Sie hat ein Kind verloren, ihre Ehe ist in die Brüche gegangen - so eine Situation darf man nicht ausnützen.
Hätte nicht sie ausgesprochen, was besser unausgesprochen geblieben wäre, er hätte nicht mehr gewagt. Zumindest sagte er sich das während ihrer langen Beziehung immer wieder. Sie wünscht dies so sehr wie ich, argumentierte er, und es gibt Augenblicke im Leben, wo man die Fesseln gesellschaftlicher Konvention sprengen muss, um das vom Schicksal Gegebene anzunehmen.
Eine heimliche Beziehung wie die zwischen ihm und Eugenie war für ihn nur aus spirituellen Gründen zu rechtfertigen. Sie macht mich vollständig, sagte er sich. Was ich mit ihr erlebe, spielt sich auf seelischer Ebene ab und nicht nur auf körperlicher. Und wie soll ein Mensch zu einem erfüllten Leben finden, wenn seine Seele keine Nahrung bekommt?
Seine Frau konnte ihm diese Nahrung nicht geben. Die Beziehung zu ihr war eine absolut prosaische, materielle Angelegenheit, so sagte er sich, ein gesellschaftlicher Vertrag, der auf der reichlich überholten Vorstellung von gemeinsamem Eigentum, der Sicherung eines nachweisbaren Stammbaums für die Kinder und auf einem beiderseitigen Interesse am Beischlaf gründete. Im Rahmen dieses Vertrags sollten ein Mann und eine Frau zusammenleben, wenn möglich Kinder zeugen und einander ein Leben bereiten, das für beide gleichermaßen zufrieden stellend war. Aber nirgends stand geschrieben oder war auch nur angedeutet, dass der eine des anderen gefesselte Seele freisetzen und beflügeln sollte. Und das, meinte er, war das Problem mit der Ehe. Sie verleitete die Partner zu Selbstzufriedenheit, und daraus entstand ein Zustand, in dem Mann und Frau sich selbst und den anderen aus dem Auge verloren.
So war es in seiner Gemeinschaft mit Frances gewesen. So, schwor er sich, würde es in seiner Seelengemeinschaft mit Eugenie niemals werden.
Immer weiter schritt er auf dem Weg der Selbsttäuschung voran, während die Zeit verging und er die Beziehung zu Eugenie fortsetzte. Der Beruf, den er gewählt hatte, war wie geschaffen, ihn in seinem treulosen Tun zu unterstützen, auf das er bald ein gottgegebenes Recht zu haben glaubte. Unregelmäßige Arbeitszeiten, Überstunden, ganze Wochenenden, die der Ermittlungsarbeit geopfert werden mussten, unvorhergesehene Abwesenheiten von zu Hause, das alles war von Anfang an sein täglich Brot gewesen. Weshalb sollte Gott oder das Schicksal oder der Zufall ihn auf diesen Weg geführt haben, wenn nicht, um ihm Gelegenheit zu geben, sich menschlich weiterzuentwickeln und zu wachsen? Auf diese Weise legitimierte er die Fortsetzung der heimlichen Beziehung, spielte für sich selbst den Mephisto, der lockte und beschwatzte. Dass es so einfach war, ein Doppelleben zu führen, indem er bei seinen Abwesenheiten von zu Hause die Forderungen der Arbeit vorschob, brachte ihn allmählich zu der Überzeugung, dass ihm ein solches Doppelleben zustand.
Aber des Menschen Verderben ist seine ewige Unzufriedenheit. Immer will er mehr. Und der Wunsch nach mehr hatte schließlich auch diese Seelenliebe verdorben und ins Fleischliche hinabgezogen, ohne dass sie dadurch etwas von ihrer Unwiderstehlichkeit verloren hatte. Eugenie hatte ihre Ehe beendet. Er könnte die seine doch auch beenden. Ein, zwei unangenehme Auseinandersetzungen mit seiner Frau, und er wäre frei.
Aber zu diesen Auseinandersetzungen mit Frances war es nie gekommen. Stattdessen hatte er sich mit ihren Phobien auseinander setzen müssen und dabei entdeckt, dass er und seine Liebe und alle rechtschaffenen Gründe zur Verteidigung dieser Liebe nicht gegen das Leiden ankamen, das seine Frau und letztlich sie beide in den Klauen hielt.
Er hatte es Eugenie nie gesagt. Er schrieb ihr einen letzten Brief, in dem er sie zu warten bat, und schrieb nie wieder. Er rief sie nicht an. Er sprach nicht mit ihr. Er führte ein Leben in der Warteschleife und begründete es damit, dass er es Frances schulde, sie auf dem Weg zur Genesung zu begleiten und den Zeitpunkt abzuwarten, wo sie so weit wiederhergestellt wäre, dass er es ihr zumuten konnte, einer Trennung ins Auge zu sehen.
Als er endlich begriffen hatte, dass die Krankheit seiner Frau nicht so leicht zu besiegen war, waren allzu viele Monate ins Land gezogen. Der Gedanke, Eugenie nur wiederzusehen, um sich endgültig von ihr zu trennen, war ihm unerträglich. Feigheit lahmte die Hand, die sonst vielleicht zu Stift oder Telefon gegriffen hätte. Einfacher, sich einzureden, diese so genannte Beziehung wäre im Grunde nicht mehr gewesen als eine sich über einige Jahre erstreckende Folge kurzer leidenschaftlicher Episoden, von ihnen zu liebender Gemeinschaft hochstilisiert, als ihr mit der Gewissheit gegenüberzutreten, dass er sie gehen lassen musste, und sich klar zu machen, dass seinem Leben der Sinn versagt bleiben würde, den er ihm so gern geben wollte. Er hatte also die Dinge einfach treiben lassen und gar nichts getan. Sollte sie von ihm denken, was sie wollte.
Sie hatte sich nicht bei ihm gemeldet, und er hatte das als klares Zeichen dafür genommen, dass weder die Beziehung noch deren erzwungenes Ende sie so tief berührte wie ihn. In diesem Bewusstsein ging er daran, ihr Bild aus seinen Gedanken zu löschen und ebenso alle Erinnerung an gemeinsam verbrachte Zeit. Indem er das tat, war er ihr genauso untreu wie seiner Frau. Und er hatte dafür bezahlt.
Aber sie hatte einen Mann gefunden, der frei war, sie zu lieben und ihr das zu sein, was sie verdiente. »Ein Witwer namens Wiley«, hatte Lynley am Telefon gesagt. »Er sagte uns, dass sie irgendetwas mit ihm besprechen wollte. Es handelte sich anscheinend um etwas, das sie daran gehindert hatte, eine körperliche Beziehung einzugehen.«
»Und Sie glauben, man könnte sie ermordet haben, um dieses Gespräch mit Wiley zu verhindern?«, fragte Webberly.
»Das ist nur eine von einem halben dutzend Möglichkeiten«, hatte Lynley geantwortet und gleich die restlichen aufgezählt, wobei er nicht, wie das eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre, mit der gnadenlosen Direktheit des Ermittlers vorging, sondern, Gentleman, der er war, bewusst nichts darüber sagte, ob er Hinweise auf Webberlys Verbindung zu der Ermordeten entdeckt hatte. Vielmehr sprach er ausführlich über den Bruder der Toten, über Major Ted Wiley, Gideon Davies, J. W. Pitchley, alias James Pitchford, und Eugenies geschiedenen Ehemann.
»Die Wolff ist auf freiem Fuß«, berichtete er weiter. »Sie ist vor drei Monaten bedingt entlassen worden. Davies weiß nichts von ihr, aber das heißt nicht, dass sie nichts von ihm weiß. Und Eugenie Davies hat damals beim Prozess gegen sie ausgesagt.«
»Wie alle anderen auch. Eugenie Davies' Aussage war nicht belastender als die der übrigen Zeugen, Tommy.«
»Ja, hm, trotzdem wären meiner Meinung nach alle, die mit dem Fall zu tun hatten, gut beraten, vorsichtig zu sein, bis wir die Sache aufgeklärt haben.«
»Ja, glauben Sie etwa, das ist ein Feldzug?«
»Ausschließen kann man diese Möglichkeit nicht.«
»Aber Sie können doch nicht glauben, dass die Wolff jedem Einzelnen auflauert und -«
»Wie ich schon sagte, Sir, meiner Meinung nach sollten alle vorsichtig sein. Winston hat übrigens angerufen. Er ist ihr heute gegen Abend zu einem Haus in Wandsworth gefolgt. Es sah nach einem Stelldichein aus. Sie ist ganz sicher nicht das, was sie zu sein vorgibt.«
Webberly hatte darauf gewartet, dass Lynley von Katja Wolffs Rendezvous - dem Verrat, den es implizierte - unmittelbar auf seinen - Webberlys - Verrat zu sprechen käme. Aber das geschah nicht. Vielmehr sagte Lynley: »Wir prüfen im Moment ihre E-Mails und Internetkontakte und haben eine Nachricht gefunden, die sie am Morgen ihres Todestags bekam. Sie muss sie gelesen haben, denn sie hatte sie bereits in ihren Papierkorb befördert. Der Absender war ein gewisser Jete, der sie unbedingt sehen wollte. Er hat sie geradezu angefleht. >Nach all den Jahrenc, das war der Wortlaut.«
»Eine E-Mail, sagen Sie?«
»Ja.« Lynley machte eine kleine Pause, ehe er hinzufügte: »Die moderne Technik hat mein Begriffsvermögen längst gesprengt, Sir. Mit dem Computer hat St. James sich befasst. Er hat uns ihre gesamten E-Mails und ihre Internetkontakte geliefert.«
»St. James? Was hat ihr Computer bei St. James zu suchen? Herrgott noch mal, Tommy! Sie hätten ihn direkt zu -«
»Ja, ja, ich weiß. Aber ich wollte sehen…« Wieder zögerte er, aber dann endlich wagte er es. »Es fällt mir nicht leicht, diese Frage zu stellen, Sir: Haben Sie zu Hause einen Computer?«
»Randie hat einen Laptop.«
»Können Sie ihn benutzen?«
»Wenn er hier ist, ja. Aber er steht bei ihr in Cambridge. Warum?«
»Ich denke, Sie wissen, warum.«
»Sie haben den Verdacht, dass ich dieser Jete bin?«
»>Nach all diesen Jahren.< Es geht darum, Jete von der Liste zu streichen, wenn Sie es sind. Sie können sie nicht getötet haben -« »Also wirklich!«
»Tut mir Leid. Es tut mir wirklich Leid. Aber es muss gesagt werden. Sie können sie nicht getötet haben, denn Sie waren mit zwei Dutzend Zeugen zu Hause und haben Ihren Hochzeitstag gefeiert. Wenn Sie also Jete sind, Sir, wurde ich das gern wissen, damit wir nicht unnötig Zeit damit vergeuden, den Mann zu suchen.«
»Oder die Frau, Tommy. >Nach all den Jahren.< Das könnte auch Katja Wolff sein.«
»Richtig. Aber Sie sind es nicht?«
»Nein.«
»Danke. Das ist alles, was ich wissen muss, Sir.«
»Sie sind uns schnell auf die Spur gekommen. Eugenie und mir.«
»Nicht ich. Havers -«
»Havers? Wie zum Teufel -«
»Eugenie Davies hat Ihre Briefe aufgehoben. Sie lagen in der Kommode in ihrem Schlafzimmer. Barbara hat sie gefunden.«
»Und wo sind sie jetzt? Haben Sie sie Leach übergeben?«
»Nein. Ich war der Meinung, dass sie für den Fall nicht von Bedeutung sind. Oder doch, Sir? Mein gesunder Menschenverstand rät mir, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Eugenie Davies mit Ted Wiley über Sie sprechen wollte.«
»Dann wäre es aber allein um Sünden der Vergangenheit gegangen, die sie beichten wollte, um unbelastet ein neues Kapitel aufschlagen zu können.«
»Hätte ihr so etwas ähnlich gesehen?«
»O ja«, bestätigte Webberly leise, »es wäre typisch gewesen.«
Sie war nicht im katholischen Glauben erzogen worden, aber sie hatte ihn gelebt, in dem tiefen und machtvollen Bewusstsein der Katholikin von Schuld und Sühne. Dieser Glaube hatte ihre Lebensführung bestimmt und zweifellos auch ihre Einstellung zur Zukunft, davon war Webberly überzeugt.
Als er einen sanften Druck am Ellbogen spürte, wandte er sich um und sah, dass Alfie sich von seinem zerschlissenen alten Polster am Herd hochgerappelt hatte und zu ihm gekommen war. Vielleicht spürte er, dass sein Herr Trost brauchte, vielleicht wollte er ihn auch nur an den abendlichen Spaziergang erinnern.
Getrieben vom schlechten Gewissen, da er die letzten achtundvierzig Stunden unablässig mit seinen Gedanken und Gefühlen bei einer anderen Frau gewesen war, ging Webberly nach oben, um nach Frances zu sehen. Sie lag sachte schnarchend im gemeinsamen Doppelbett, und er blieb einen Augenblick stehen und sah sie an. Der Schlaf hatte die Spuren von Unsicherheit und Angst in ihrem Gesicht verwischt, sodass es zwar nicht wieder jung aussah, aber einen Zug kindlicher Verletzlichkeit zeigte, dessen Wirkung er sich nie entziehen konnte. Wie oft in den vergangenen Jahren hatte er so dagestanden und seine schlafende Frau angesehen und sich gefragt, wie sie zu diesem Punkt gekommen waren? Wie sie so lange einfach vor sich hingelebt hatten, von Tag zu Tag, über Wochen und Monate, und nicht einmal zu verstehen versucht hatten, welche innere Sehnsucht jeden von ihnen in eine stumme Verzweiflung trieb, wenn er allein war. Aber um seine Antwort zu bekommen, brauchte er nur zum Fenster zu blicken, das hinter fest zugezogenen Vorhängen verriegelt war, und zu dem Holzkeil auf dem Boden, der an Abenden, wenn er nicht zu Hause war,
sicherheitshalber eingeschoben wurde.
Sie hatten beide von Beginn an Angst gehabt. Frans Ängste hatten lediglich eine Form angenommen, die einem Außenstehenden leichter erkennbar waren. Ihre Ängste hatten ihn ständig gefordert, ein stummes, aber darum nicht weniger beredtes Flehen um seine Treue und Beständigkeit. Und seine eigenen Ängste hatten ihn an sie gebunden, diese schreckliche Angst davor, sich weiterentwickeln zu müssen, über das hinaus, was er bisher gelebt hatte.
Ein leises Winseln am Fuß der Treppe riss ihn aus seinen Gedanken. Er zog die Decke über die nackte rechte Schulter seiner Frau, flüsterte: »Schlaf gut, Frances«, und ging hinaus.
Unten saß Alfie schon erwartungsvoll vor der Haustür. Webberly ging noch einmal in die Küche, um seine Jacke und die Hundeleine zu holen. Als er zurückkam, sprang der Hund auf und drehte sich freudig im Kreis, bis Webberly ihn festhielt, um ihm die Leine anzulegen.
Er wollte an diesem Abend nur einen kurzen Spaziergang mit dem Hund machen, einmal um den Block - die Palgrave Road hinauf bis zur Stamford Brook Road und dann durch die Hartswood Road zurück zur Palgrave Road und nach Hause. Er war müde, und er hatte keine Lust, im Park herumzustehen und zu warten, während Alfie sich vergnügte. Natürlich wusste er, dass das dem Hund gegenüber nicht fair war. Das Tier war treu und geduldig und verlangte nicht mehr als regelmäßig Nahrung und zweimal täglich einen Spaziergang, um sich auf den Grünflächen der Prebend Gardens auszutoben. Das war wenig genug, aber an diesem Abend war Webberly nicht einmal bereit, das zu geben.
»Dafür gehe ich morgen doppelt so lang mit dir, Alfie«,
sagte er und nahm sich fest vor, das auch zu tun.
Der Verkehr hatte um diese Zeit nachgelassen, aber immer noch rumpelten Pkws und Busse in beinahe lückenloser Kette durch die Stamford Brook Road. Alfie setzte sich gehorsam auf den Bürgersteig, wie er das gelernt hatte. Aber als Webberly nach links schwenken wollte, anstatt wie sonst die Straße zum Park zu überqueren, rührte der Hund sich nicht vom Fleck. Sein Blick schweifte von seinem Herrn zur dunklen Masse der Bäume und Büsche auf der anderen Straßenseite, und er klopfte mit dem Schweif aufs Pflaster.
»Morgen, Alf«, sagte Webberly. »Doppelt so lange. Ich versprech's dir. Morgen. Komm jetzt.« Er zog an der Leine.
Der Hund stand auf. Aber als Webberly den Blick sah, den das Tier zum Park sandte, gab er mit einem Seufzen nach. Er konnte nicht auch hier noch falsch spielen und so tun, als merkte er nicht, was der Hund sich so dringend wünschte. »Na schön, dann komm«, sagte er. »Aber nur ein paar Minuten. Frauchen ist allein im Haus und wird Angst bekommen, wenn sie aufwacht und sieht, dass wir beide nicht da sind.«
Sie warteten auf Grün, der Hund mit wedelndem Schwanz und Webberly etwas heiterer angesichts der Freude des Hundes. Wie einfach, ein Hund zu sein, dachte er, wie wenig brauchte er zur Zufriedenheit.
Sie überquerten die Straße und traten durch das Tor in den Park. Sobald es rostknirschend hinter ihnen zugefallen war, machte Webberly den Hund von der Leine los und beobachtete ihn im trüben Licht der Straßenbeleuchtung, wie er ausgelassen über den Rasen sprang.
Er hatte den Ball nicht mitgenommen, aber das schien Alfie nicht zu stören. Es gab genug nächtliche Gerüche, die ihm den Abendspaziergang interessant und spannend machten.
Sie blieben ungefähr eine Viertelstunde, während der Webberly gemächlich von der West- zur Ostseite des Parks marschierte. Der Wind, der schon früher am Tag aufgekommen war, war kalt, und Webberly schob seine Hände in die Taschen und bedauerte es, dass er nicht daran gedacht hatte, Handschuhe und Schal mitzunehmen.
Fröstelnd ging er den Ascheweg entlang, der von Rasenflächen begrenzt war. Jenseits des Gebüschs und des Eisengitters brausten die Autos auf der Stamford Brook Road vorbei. Der Verkehrslärm war neben dem Knarren der kahlen Bäume das einzige Geräusch in der Nacht.
Am anderen Ende des Parks blieb er stehen und rief dem Hund, der schon wieder in großen Sprüngen zur anderen Seite der Grünfläche gejagt war. Er pfiff und wartete ruhig, während das Tier ein letztes Mal über den Rasen rannte und schließlich vor ihm Halt machte, das Fell feucht und voll nassen Laubs. Webberly lachte leise. Da würde noch einiges auf ihn zukommen. Sobald er zu Hause war, würde er den Hund gründlich bürsten müssen.
Er legte ihm die Leine wieder an. Vom Parktor aus gingen sie die Allee hinauf zur Stamford Brook Road, wo es einen Zebrastreifen für Fußgänger zur Hartswood Road gab. Hier hatten sie den Vortritt. Aber Alfie tat brav, was er gelernt hatte: Er setzte sich und wartete auf das Kommando seines Herrn.
Webberly passte eine Verkehrslücke ab, die dank der späten Stunde nicht lange auf sich warten ließ. Sie ließen noch einen Bus vorbeifahren, dann traten Herr und Hund auf die Fahrbahn. Bis zur anderen Seite waren es keine dreißig Meter.
Webberly war auf der Straße vorsichtig, aber einen Augenblick lang richtete sich seine Aufmerksamkeit auf die andere Straßenseite zu dem Briefkasten, der dort schon seit Königin Victorias Zeiten stand. In diesen Kasten hatte er die Briefe geworfen, die er Eugenie über die Jahre geschrieben hatte, auch den letzten, der ihre Beziehung beendet hatte, ohne sie zu beenden. Den Blick auf den roten Kasten gerichtet, sah er sich selbst, wie er an hundert Morgen dort hastig einen Brief in den Schlitz geschoben und dabei über die Schulter zurückgeschaut hatte, als fürchtete er, Frances könnte ihn verfolgt haben. Als er sich so sah, von Liebe und Begehren getrieben, das Gelübde zu brechen, das das Unmögliche von ihm forderte, achtete er nicht auf die Straße. Es war nur eine Sekunde der Unachtsamkeit, aber mehr war nicht nötig.
Rechts von sich hörte er einen Motor aufheulen. Im selben Moment begann Alfie zu bellen. Dann kam der Aufprall. Die Hundeleine peitschte durch die Luft, und Webberly wurde gegen den Briefkasten geschleudert, der seine Beteuerungen ewiger Liebe aufgenommen hatte.
Ein Schlag traf ihn gegen die Brust.
Ein Lichtblitz bohrte sich in seine Augen.
Dann wurde es dunkel.