Ich lief davon, Dr. Rose. Ich stürzte zur Tür des Musikzimmers und stürmte die Treppe hinunter. Ich riss die Haustür auf. Sie krachte gegen die Wand. Ich floh zum Chalcot Square. Ich wusste nicht, wohin oder was tun. Aber ich musste weg; weg von meinem Vater und weg von dem, womit er mich, ohne es zu wollen, konfrontiert hatte.
Ich rannte blind, aber ich sah ihr Gesicht. Nicht so, wie sie heiter oder unschuldig oder selbst im Leiden vielleicht ausgesehen hätte, sondern im Zustand des schwindenden Bewusstseins, als ich sie ertränkte. Ich sah, wie ihr Kopf sich von einer Seite zur anderen bewegte, wie ihr feines Kleinkinderhaar sich unter Wasser ausbreitete, ihr Mund wie der eines Fischs schnappte, ihre Augen sich verdrehten und verschwanden. Sie kämpfte um ihr Leben, aber der Kraft meiner Wut war sie nicht gewachsen. Ich hielt sie unter Wasser, und als Katja und Raphael hereinkamen, bewegte sie sich schon nicht mehr, versuchte nicht mehr, sich gegen mich zu wehren. Aber meine Wut war immer noch nicht gestillt.
Meine Füße schlugen knallend aufs Pflaster, als ich über den Platz lief. Ich lief nicht in die Richtung zum Primrose Hill, denn der Primrose Hill bietet keinen Schutz, und Ungeschütztheit, ganz gleich, vor wem oder was, konnte ich jetzt nicht ertragen. Ich rannte deshalb in eine andere Richtung, bog um die nächste Ecke, jagte durch das stille Viertel, bis ich in den oberen Bereich der Regent's Park Road gelangte.
Augenblicke später hörte ich ihn meinen Namen rufen. Während ich keuchend an der Kreuzung stand, wo die Regent's Park Road und die Gloucester Road aufeinander treffen, bog er um die Ecke, eine Hand in die Seite gedrückt. Er hob den Arm und rief laut: »Warte!«
Ich begann wieder zu laufen. Beim Laufen ging mir ständig derselbe Gedanke durch den Kopf: Er hat es immer gewusst. Denn mir kamen weitere Erinnerungen, und ich sah sie in einer Folge von Bildern.
Katja schreit gellend. Raphael drängt sich an ihr vorbei, um an mich heranzukommen. Rufe und Schritte schallen auf der Treppe und im Korridor. Eine Stimme brüllt:
»Gottverdammt!«
Mein Vater ist im Badezimmer. Er versucht, mich von der Wanne wegzuzerren, meine Finger zu lösen, die sich tief, tief in die zerbrechlichen Schultern meiner Schwester gegraben haben. Er zieht mich bei den Haaren, und ich lasse sie endlich los.
»Bringt ihn hier raus!«, brüllt er, und zum ersten Mal hört er sich genau wie Großvater an, und ich bekomme Angst.
Während Raphael mich durch den Korridor schleppt, höre ich andere kommen. Meine Mutter ist auf der Treppe und ruft: »Richard? Richard?«, während sie läuft. Sarahjane Beckett und James, der Untermieter, kommen von oben die Treppe heruntergerannt. Irgendwo schimpft Großvater: »Dick! Wo, zum Teufel, ist mein Whisky? Dick!« Und Großmutter ruft furchtsam von unten:
»Ist Jack etwas zugestoßen?«
Dann ist Sarahjane Beckett bei mir und sagt: »Was ist denn los?« Sie befreit mich aus Raphaels verzweifelter Umklammerung. »Raphael, was tun Sie mit ihm?«, fährt sie ihn an und fragt:
»Du meine Güte, was ist denn mit der los?«, als sie Katja Wolff bemerkt, die schluchzend ruft: »Ich habe sie nicht allein gelassen. Nur eine Minute«, während Raphael sich in Schweigen hüllt.
Danach bin ich in meinem Zimmer. Ich höre meinen Vater rufen: »Komm nicht hier rein, Eugenie. Ruf neun- neun-neun an.«
Sie sagt: »Was ist passiert? Sosy! Was ist passiert?«
Eine Tür wird zugeschlagen. Katja weint. Raphael sagt: »Lass mich sie hinunterbringen.«
Sarahjane Beckett stellt sich in meinem Zimmer an die Tür und lauscht, den Kopf gesenkt. So bleibt sie stehen. Ich sitze, an das Kopfbrett gelehnt, auf meinem Bett, die Arme nass bis zu den Ellbogen, zitternd, da mir endlich die Ungeheuerlichkeit meiner Tat bewusst wird. Und die ganze Zeit hindurch hat die Musik gespielt, diese Musik, dieses verfluchte Stück, das Erzherzog-Trio, das mich seit zwanzig Jahren verfolgt wie ein böser Dämon.
All das erinnerte ich im Laufen, und als ich die Kreuzung überquerte, versuchte ich nicht, dem Verkehr auszuweichen. Mir schien, es wäre eine Gnade, von einem Auto oder Lastwagen überfahren zu werden.
Aber ich erreichte unverletzt die andere Straßenseite. Mein Vater war dicht hinter mir, immer noch meinen Namen rufend.
Ich rannte weiter, floh vor ihm, floh in die Vergangenheit. Ich sah sie wie durch ein Kaleidoskop in rasch aufeinander folgenden Bildausschnitten: der joviale rotblonde Polizeibeamte, der nach Zigarren riecht und mit freundlich-väterlicher Stimme spricht . der Abend im Bett mit meiner Mutter, die mich fest, fest, fest hält und mein Gesicht an ihren Busen drückt, als wollte sie mir das antun, was ich meiner Schwester getan habe… mein Vater, der auf der Bettkante sitzt, seine Hände auf meinen Schultern… seine Stimme: »Du brauchst keine Angst zu haben, Gideon, niemand wird dir etwas tun.«… Raphael mit Blumen, Blumen für meine Mutter, Blumen der Anteilnahme, zur Linderung ihres Schmerzes . und immer gedämpfte Stimmen, in jedem Raum, tagelang…
Endlich tritt Sarah-Jane von der Tür weg, an der sie die ganze Zeit reglos lauschend gestanden hat. Sie geht zum Kassettenrecorder. In dem Beethoven-Trio spielt der Geiger gerade eine Folge von Doppelgriffen. Sie drückt auf einen Knopf, und die Musik bricht ab. Sie hinterlässt eine so dumpf hallende Stille, dass ich sie mir zurückwünsche.
In diese Stille hinein platzt das Heulen von Sirenen. Es wird mit dem Näherkommen der Fahrzeuge lauter und lauter. Obwohl sie wahrscheinlich nur Minuten gebraucht haben, scheint mir eine Stunde vergangen, seit mein Vater mich an den Haaren von der Wanne weggerissen und gezwungen hat, meine Schwester loszulassen.
»Hier oben, hier drinnen«, ruft mein Vater die Treppe hinunter, als jemand die Sanitäter ins Haus lässt.
Dann beginnen die Bemühungen, zu retten, was nicht mehr zu retten ist, ich weiß das, weil ich es war, der sie vernichtet hat.
Ich kann sie nicht ertragen, die Bilder, die Gedanken, die Geräusche.
Ich rannte weiter, blind, ziellos, es war mir egal, wohin die Flucht mich führte. Ich überquerte die Straße und kam schließlich unmittelbar vor dem Pembroke Castle Pub zur Besinnung. Ich erkannte die Terrasse, auf der im Sommer die Gäste sitzen und trinken, sie war jetzt leer, eine Mauer begrenzte sie, eine niedrige Backsteinmauer, auf die ich hinaufsprang, auf der ich weiter lief, und von der ich wieder hinabsprang, ohne einen Moment der Überlegung, hinab auf den eisernen Torbogen der Fußgängerbrücke, die die Eisenbahngleise zehn Meter darunter überspannt, und im Springen dachte ich, so ist es, so wird es enden.
Ich hörte den Zug, bevor ich ihn sah. Ich nahm das als Zeichen. Der Zug fuhr nicht schnell, der Lokführer würde ihn leicht anhalten können, und ich würde nicht sterben - wenn ich nicht genau im richtigen Moment sprang.
Ich trat an den Rand des Torbogens. Ich sah den Zug. Ich beobachtete sein Näherkommen.
»Gideon!«
Mein Vater stand am Ende der Fußgängerbrücke. »Bleib, wo du bist«, rief er laut.
»Es ist zu spät.«
Ich begann zu weinen wie ein kleines Kind und wartete auf den Moment, den richtigen Moment, wo ich mich vor den Zug auf die Gleise hinunterfallen lassen und vergessen könnte.
»Was sagst du da?«, schrie er. »Zu spät wofür?«
»Ich weiß, was ich getan habe«, rief ich weinend. »Sonia. Ich weiß es wieder.«
»Was weißt du wieder?« Er blickte von mir zum Zug, und wir beobachteten beide sein unausweichliches Näherkommen. Mein Vater trat einen Schritt näher zu mir.
»Was ich getan habe. An dem Abend damals. Was ich Sonia angetan habe. Wie sie gestorben ist. Du weißt, was ich Sonia angetan habe.«
»Nein! Warte!«, rief er, als ich mich an den Rand des Bogens schob, so dass ein Teil meiner Schuhsohlen in die Luft stand. »Tu das nicht, Gideon. Sag mir erst, was deiner Meinung nach geschehen ist.«
»Ich habe sie ertränkt, Dad! Ich habe meine Schwester ertränkt!«
Mit ausgestreckten Armen kam er noch einen Schritt näher auf mich zu.
Der Zug rollte heran. Zwanzig Sekunden, und es würde vorbei sein. Zwanzig Sekunden, und eine Schuld würde beglichen sein.
»Bleib, wo du bist! Um Gottes willen, Gideon!«
»Ich habe sie ertränkt«, rief ich schluchzend. »Ich habe sie ertränkt und habe es nicht einmal mehr gewusst. Weißt du, was das bedeutet? Weißt du, wie das ist?«
Sein Blick flog zu dem sich nähernden Zug, dann zurück zu mir. Noch einen Schritt ging er mir entgegen. »Nicht!«, schrie er.
»Hör mir zu! Du hast deine Schwester nicht getötet.«
»Du hast mich doch selbst von ihr weggezogen. Ich erinnere mich ganz deutlich. Darum ist Mutter gegangen. Sie hat uns ohne ein Wort verlassen, weil sie wusste, was ich getan hatte. Stimmt das nicht? Ist es nicht die Wahrheit?«
»Nein! Nein, es ist nicht die Wahrheit.«
»Doch. Ich erinnere mich genau.«
»Bitte hör mir zu. Warte!« Er sprach sehr schnell. »Du hast ihr weh getan, ja. Und sie war bewusstlos, ja. Aber Gideon, mein Sohn, höre, was ich sage. Du hast Sonia nicht ertränkt.«
»Wer dann -«
»Ich habe es getan.«
»Das glaube ich dir nicht.« Ich sah nach unten zu den wartenden Gleisen. Nur einen einzigen Schritt brauchte ich zu machen, dann wäre ich unten auf den Schienen, und einen Augenblick danach wäre alles vorbei. Ein brüllender Schmerz, dann alle Schuld gelöscht.
»Sieh mich an, Gideon. Um Gottes willen, hör mir zu bis zum Ende. Tu das nicht, bevor du weißt, was damals geschah.«
»Du willst mich nur hinhalten.«
»Und wenn schon? Es kommen ja noch andere Züge, oder nicht? Also, hör mir zu. Das bist du dir selbst schuldig.«
Niemand sei dabei gewesen, sagte er. Raphael hatte Katja in die Küche hinunter gebracht. Meine Mutter telefonierte unten mit der Notrufzentrale. Großmutter war zu Großvater gegangen, um ihn zu beruhigen. Sarah-Jane hatte mich in mein Zimmer gebracht. Und James, der Untermieter, war wieder nach oben gegangen.
»Ich hätte sie aus dem Wasser heben können«, sagte er. »Ich hätte sie beatmen können. Ich hätte versuchen können, sie wiederzubeleben. Aber ich habe sie nicht herausgeholt, Gideon. Ich habe sie weiter unter Wasser gedrückt, bis ich hörte, dass deine Mutter unten das Telefongespräch mit dem Rettungsdienst beendete.«
»Ach, in der Zeit wäre gar nichts passiert, es war viel zu kurz.«
»Nein, war es nicht. Deine Mutter hielt die Verbindung mit dem Rettungsdienst und gab ständig Instruktionen an mich weiter, bis die Sanitäter an die Tür klopften. Ich tat so, als befolgte ich ihre Anweisungen. Aber sie konnte mich ja nicht sehen, Gideon, darum wusste sie nicht, dass ich Sonia gar nicht aus dem Wasser geholt hatte.«
»Ich glaube dir nicht. Du hast mich mein Leben lang belogen. Du hast nicht geredet. Du hast mir nichts gesagt.« »Ich sage es dir jetzt.«
Unten fuhr der Zug vorbei. Ich sah, wie der Lokführer im letzten Moment nach oben schaute. Unsere Blicke trafen sich, er riss die Augen auf und griff zu seinem Funksprechgerät. Die Warnung wurde an alle nachfolgenden Züge herausgegeben. Meine Chance auf Vergessen war verpasst.
Mein Vater sagte: »Du musst mir glauben. Ich sage die Wahrheit.«
»Was ist dann mit Katja?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Sie kam ins Gefängnis. Und wir sind schuld daran, nicht wahr? Wir haben die Polizei belogen, und sie musste ins Gefängnis. Zwanzig Jahre, Dad. Das ist unsere Schuld.«
»Nein, Gideon. Sie war damit einverstanden.«
»Was?!«
»Komm zu mir. Komm da runter. Ich erkläre dir alles.«
Nun, das wenigstens ließ ich ihm: den Glauben, dass er es geschafft hätte, mich von den Gleisen wegzuholen, dabei wusste ich, dass wahrscheinlich schon in wenigen Minuten die Bahnpolizei hier erscheinen würde. Ich kletterte zur Fußgängerbrücke hinunter und ging auf meinen Vater zu. Als ich nahe genug war, packte er mich, als wollte er mich vor einem Sturz in den Abgrund retten. Er hielt mich an sich gedrückt, und ich spürte den hämmernden Schlag seines Herzens. Ich glaubte nichts von dem, was er mir bisher gesagt hatte, aber ich war bereit, ihn anzuhören und zu versuchen, hinter die Fassade zu sehen, die er errichtet hatte, um zu erkennen, was die Wahrheit war.
Er sprach in einem einzigen hastigen Wortschwall und ließ mich dabei die ganze Zeit nicht los. Katja Wolff, die glaubte, ich - und nicht mein Vater - hätte Sonia ertränkt, war sich augenblicklich bewusst gewesen, dass sie einen großen Teil der Verantwortung an dem Unglück trug, weil sie Sonia allein gelassen hatte. Wenn sie bereit sei, die Schuld auf sich zu nehmen - indem sie sagte, sie habe Sonia nur eine Minute aus den Augen gelassen, um einen Anruf entgegenzunehmen -, würde mein Vater sich erkenntlich zeigen. Er würde ihr für diesen Dienst an seiner Familie zwanzigtausend Pfund bezahlen. Und für den Fall, dass ihr wegen Fahrlässigkeit der Prozess gemacht werde, würde er auf diesen Betrag für jedes Jahr, das ihr genommen würde, weitere zwanzigtausend Pfund drauflegen.
»Wir wussten nicht, dass die Polizei wegen Mordes gegen sie ermitteln würde«, sagte mein Vater nahe an meinem Ohr. »Wir wussten nichts von den verheilten Frakturen am Körper deiner Schwester. Wir wussten nicht, dass sich die gesamte Boulevardpresse so gierig auf diese Geschichte stürzen würde. Und wir wussten nicht, dass Bertram Cresswell-White so gnadenlos gegen sie vorgehen würde, als hätte er eine zweite Myra Hindley vor sich. Bei einem normalen Verlauf der Dinge hätte sie vielleicht eine Bewährungsstrafe wegen Fahrlässigkeit bekommen oder allerhöchstens fünf Jahre Haft. Aber es ging alles schief. Und als der Richter wegen der Misshandlung zwanzig Jahre empfahl, war es zu spät.«
Ich trat von ihm weg. Wahrheit oder Lüge?, fragte ich mich und sah ihm forschend ins Gesicht.
»Wer hat Sonia misshandelt?«
»Niemand«, antwortete er.
»Aber die Knochenbrüche -«
»Sie war zart, Gideon. Sie hatte ein zerbrechliches Knochengerüst. Das war Teil ihres Krankheitsbilds. Katjas Verteidiger haben das vorgetragen, aber Cresswell-White hat ihren Gutachter in Fetzen gerissen. Es lief rundherum schlecht. Es ging alles schief.«
»Warum hat sie dann nicht selbst zu ihrer Verteidigung ausgesagt? Warum hat sie nicht mit der Polizei gesprochen? Oder mit ihren eigenen Anwälten?«
»Das war Teil der Vereinbarung.«
»Ah ja?«
»Zwanzigtausend Pfund, wenn sie schwieg.«
»Aber du musst doch gewusst haben -«
Was denn?, dachte ich. Was muss er gewusst haben? Dass ihre Freundin Katie Waddington unter Eid nicht lügen, nicht ein Telefonat bestätigen würde, das sie nie geführt hatte? Dass Sarah-Jane Beckett sie ins schlechtestmögliche Licht rücken würde? Dass der Anwalt der Krone sie der Kindesmisshandlung anklagen und als den Teufel in Person hinstellen würde? Dass der Richter eine drakonische Strafe empfehlen würde? Was genau hätte mein Vater wissen müssen?
Ich schob seine Hände weg, die mich immer noch festhielten, und trat den Heimweg zum Chalcot Square an. Er folgte mir schweigend. Aber ich spürte seinen Blick auf mir. Ich spürte, wie er sich in mich hineinbrannte. Er hat das alles erfunden, dachte ich. Er hatte zu viele Antworten zu schnell parat gehabt.
»Ich glaube dir nicht, Dad.«
»Warum sonst hätte sie geschwiegen?«, konterte er.
»Oh, diesen Teil glaube ich dir«, erwiderte ich. »Den Teil mit den zwanzigtausend Pfund glaube ich. Du wärst bereit gewesen, ihr das zu bezahlen, um mich vor Schaden zu bewahren. Und um Großvater zu verheimlich, dass dein abartiger Sohn deine abartige Tochter ertränkt hatte.«
»Aber so war es nicht!«
»Wir wissen beide, dass es so war.« Ich wandte mich ab, um ins Haus zu gehen.
Er packte mich beim Arm. »Würdest du deiner Mutter glauben?«, fragte er mich.
Ich wandte mich um. Er sah zweifellos die Frage, die Ungläubigkeit und das Misstrauen in meinem Gesicht, denn er fuhr zu sprechen fort, ohne auf eine Antwort von mir zu warten.
»Sie ruft mich regelmäßig an. Seit der Sache in der Wigmore Hall ruft sie mindestens zweimal die Woche an. Sie hat gelesen, was geschehen ist, und ruft seither immer wieder an. Ich werde dich mit ihr zusammenbringen, wenn du das möchtest.«
»Was würde das helfen? Du hast selbst gesagt, das sie nicht gesehen -«
»Gideon, Herrgott noch mal! Was glaubst du, warum sie mich verlassen hat? Was glaubst du, warum sie alle Bilder deiner Schwester mitgenommen hat?«
Ich starrte ihn an und versuchte, seine Gedanken zu lesen. Mehr noch, ich versuchte, die Antwort auf eine Frage zu finden, die ich nicht aussprach: Selbst wenn ich mit ihr zusammenkäme, würde sie mir die Wahrheit sagen?
Doch mein Vater schien die Frage in meinen Augen zu erkennen, denn er sagte schnell: »Deine Mutter hat keinen Grund, dich zu belügen, mein Junge. Und die Art, wie sie aus unserem Leben verschwunden ist, muss dir doch sagen, dass ihr Gewissen das Leben in Heuchelei nicht ertrug, zu dem ich sie zwingen wollte.«
»Genauso gut könnte es bedeuten, dass sie nicht mit einem Sohn, der seine Schwester getötet hatte, unter einem Dach leben konnte.«
»Dann lass dir das von ihr selbst sagen.«
Auge in Auge standen wir einander gegenüber, und ich wartete auf ein Zeichen der Furcht an ihm. Aber es kam keines.
»Du kannst mir vertrauen«, sagte er.
Nichts wünschte ich mir mehr, als diesem Versprechen glauben zu können.