Libby Neal nahm die Kurve zum Chalcot Square so eng, dass sie einen Fuß über den Boden schleifen ließ, um zu verhindern, dass die Suzuki ins Schleudern geriet. Sie hatte auf einer ihrer Kurierfahrten eine Pause eingelegt, um sich in einem Imbiss in der Victoria Street ein dickes Sandwich amerikanischer Machart zu gönnen, und während sie an einem der Stehtische genüsslich gegessen hatte, war ihr eine Zeitung ins Auge gefallen, ein Boulevardblatt, das ein Gast neben einer leeren Evianflasche liegen gelassen hatte. Sie hatte die Zeitung umgedreht und gesehen, dass es die Sun war, das Blatt, das sie am wenigsten mochte, weil auf Seite 3 täglich ein Pin-up-Girl posierte, das sie unweigerlich an ihre unendlich vielen körperlichen Defizite erinnerte. Sie wollte die Zeitung schon zur Seite schieben, als ihr die Schlagzeile auffiel: »Mord! Berühmter Geiger verliert seine Mutter«, hieß es in Riesenlettern. Darunter war ein grobkörniges Foto, dessen Alter durch Frisur und Kleidung der Frau, die es zeigte, bestimmt war: Gideons Mutter.
Libby nahm die Zeitung zur Hand und las, während sie weiteraß. Sie blätterte zu den Seiten vier und fünf, wo der Bericht fortgesetzt wurde, und ihr Sandwich schmeckte plötzlich wie Sägemehl, als sie sah, was dem Leser geboten wurde. Es ging überhaupt nicht um den Tod von Gideons Mutter - über den im Moment noch kaum Informationen verfügbar waren -, sondern um einen ganz anderen Todesfall.
Scheiße, dachte Libby. Diese bescheuerten Journalisten hatten die alte Geschichte noch mal ausgegraben, und es würde bestimmt nicht lang dauern, ehe sie über Gideon herfielen. Wahrscheinlich waren sie schon dabei, ihn durch die Mangel zu drehen. Die Notiz über Gideons Aussetzer bei seinem Konzert in der Wigmore Hall schrie ja förmlich nach genaueren Recherchen. Als hätte der arme Kerl nicht schon Sorgen genug, schien die Zeitung jetzt auch noch zu versuchen, zwischen der Konzertpanne und der Fahrerflucht in West Hampstead eine Verbindung herzustellen!
Ein echter Witz, dachte Libby voller Verachtung. Gideon hätte seine Mutter wahrscheinlich nicht mal erkannt, wenn er ihr auf der Straße oder sonst wo begegnet wäre.
Kurzerhand warf sie, ganz untypisch, den Rest ihres Sandwichs weg, stopfte sich die Zeitung vorn in ihre Lederkluft und brauste los. Eigentlich hätte sie noch zwei Aufträge erledigen müssen, aber zum Teufel damit. Erst musste sie Gideon sehen.
Am Chalcot Square donnerte sie um die Grünanlage herum und bremste die Maschine direkt vor dem Haus ab. Sie schob sie auf den Bürgersteig, machte sich aber nicht die Mühe, sie am Eisenzaun anzuketten, sondern rannte mit drei großen Sprüngen die Treppe hinauf und klopfte an die Tür. Als nichts geschah, drückte sie anhaltend auf die Klingel. Immer noch nichts. Seinen Mitsubishi suchend, sah sie zum Platz hinunter. Der Wagen stand nicht weit entfernt vor einem gelben Haus. Gideon war also zu Hause. Komm schon, dachte sie, mach die Tür auf.
Drinnen begann sein Telefon zu klingeln. Viermal, dann war Schluss. Sie glaubte schon, er wäre zu Hause und wollte nur nicht aufmachen, aber dann verriet ihr eine ferne körperlose Stimme, die sie nicht kannte, dass Gideons Anrufbeantworter sich eingeschaltet hatte und eine Nachricht aufnahm.
»Ach, verdammt!«, schimpfte sie. Er musste weggegangen sein. Wahrscheinlich wusste er bereits, dass die Presse dabei war, die Geschichte über den Tod seiner Schwester wieder aufzurollen, und hatte beschlossen, eine Weile zu verschwinden. Übel nehmen konnte man es ihm nicht. Die meisten Menschen mussten schlimme Ereignisse nur einmal erleben; er schien die schreckliche Geschichte der Ermordung seiner Schwester ein zweites Mal durchleben zu müssen.
Sie ging in ihre Wohnung hinunter. Die Post lag auf der Matte. Sie hob sie auf, sperrte die Tür auf und sah im Hineingehen die Briefe durch: die Telefonrechnung, ein Bankauszug, dem zu entnehmen war, dass ihr Konto dringend eine Spritze brauchte, ein Werbeschreiben von irgendeiner Firma, die Alarmanlagen vertrieb, und ein Brief von ihrer Mutter, den Libby am liebsten ungeöffnet weggeworfen hätte, weil er ja doch wieder nur eine Story über die tollen Leistungen ihrer Schwester enthalten würde. Sie riss ihn trotzdem auf, und während sie mit der einen Hand ihren Helm abnahm, schüttelte sie mit der anderen das violettfarbene Blatt Papier aus dem Umschlag.
»Haben, was man sich wünscht, sein, was man sich erträumt«, stand in schwarzer Blockschrift quer über dem Blatt. Equality Neale, Direktorin der Firma Neale Publicity, der erst kürzlich die Zeitschrift Money ihre Titelgeschichte gewidmet hatte, würde in Boston ein Seminar zum Thema Selbstbehauptung und Erfolg im Geschäftsleben leiten und es danach in Amsterdam anbieten. In einer Handschrift, die wie gestochen wirkte und den Nonnen, die sie das Schreiben gelehrt hatten, alle Ehre gemacht hätte, hatte Mrs. Neale geschrieben: Wäre es nicht schön, wenn ihr beide euch sehen könntet? Ali könnte auf der Rückreise in London Zwischenstopp machen. Wie weit ist Amsterdam von London entfernt?
Nicht weit genug, dachte Libby und knüllte die Bekanntmachung zusammen. Immerhin bewirkte der Gedanke an Ali und ihre aufreizende Tadellosigkeit, dass Libby den Kühlschrank, den sie in ihrem Frust über Gideons Unerreichbarkeit normalerweise unverzüglich angesteuert hätte, ignorierte. Tugendhaft goss sie sich ein Glas gesundes Mineralwasser ein, statt sich die sechs Käsequesadillas zu genehmigen, die sie am liebsten sofort verschlungen hätte. Während des Trinkens sah sie zum Fenster hinaus. Gleich bei der Mauer, die seinen Garten von dem des Nachbarn abgrenzte, stand der Schuppen, in dem er seine Drachen zu bauen pflegte. Die Tür war angelehnt, ein schmaler Lichtstreifen fiel durch die Öffnung ins Freie.
Sie stellte das Glas auf den Tisch und lief zur Tür hinaus, sprang die von graugrünen Flechten überzogenen Treppenstufen zum Garten hinauf. »He, Gideon!«, rief sie laut, schon auf dem Weg zum Schuppen. »Bist du da drinnen?«
Als sie keine Antwort erhielt, blieb sie irritiert stehen. Sie hatte Richard Davies' Granada draußen auf dem Platz nicht gesehen, aber sie hatte auch nicht nach ihm Ausschau gehalten. Vielleicht war der Alte wieder mal zu einem dieser peinlichen Vater-Sohn-Gespräche vorbeigekommen, die er so besonders gut drauf hatte. Und wenn er es geschafft hatte, Gideon hinreichend zu nerven, hatte der sich vielleicht zu Fuß aus dem Staub gemacht, und Richard war in diesem Moment dabei, sich dafür zu rächen, indem er die Drachenwerkstatt seines Sohnes zerlegte. Das sähe ihm ähnlich, dachte Libby, dass er Gid das Einzige im Leben, was nichts mit der blöden Geige zu tun hatte - außer dem Segelfliegen, das Richard natürlich ebenfalls unmöglich fand -, ohne mit der Wimper zu zucken ruinieren würde. Und garantiert würde er hinterher noch eine erstklassige Entschuldigung dafür liefern.
»Es hat dich von deiner Musik abgehalten, mein Junge.«
Ha, ha, dachte Libby mit wütender Geringschätzung.
In ihrer Fantasie fuhr Richard fort: Ich habe es zuvor als Hobby akzeptiert, Gideon, aber das kann ich jetzt nicht mehr. Wir müssen dafür sorgen, dass du wieder gesund wirst. Wir müssen dafür sorgen, dass du wieder spielen kannst. Du hast Konzert- und Plattenverträge, die du erfüllen musst, dein Publikum wartet auf dich.
Verpiss dich, fuhr Libby Richard Davies an. Er hat ein eigenes Leben. Ein gutes Leben. Warum siehst du nicht zu, dass du dir endlich auch eines schaffst?
Der Gedanke an eine handfeste Auseinandersetzung mit Richard - die Vorstellung, ihm endlich einmal die Meinung sagen zu können, ohne von Gideon daran gehindert zu werden -, gab Libby neuen Mut. Sie lief weiter und stieß die Tür mit einer kurzen Bewegung ganz auf.
Gideon war da, ohne Richard. Er saß an seinem provisorischen Arbeitstisch. Ein Stück Pergamentpapier war vor ihm ausgebreitet, an den Ecken mit Klebeband auf die Platte geheftet, auf das er so angespannt hinunterblickte, als hätte es ihm etwas mitzuteilen, wenn er nur lange und aufmerksam genug horchte.
»Gid?«, sagte Libby. »Hallo. Ich hab das Licht gesehen.«
Es war, als hätte er sie nicht gehört. Sein Blick blieb auf das Papier geheftet.
»Ich hab oben bei dir geklopft«, fuhr Libby fort. »Und geklingelt hab ich auch. Ich hab deinen Wagen draußen stehen sehen, da hab ich mir gedacht, dass du da bist. Und als ich dann hier draußen das Licht entdeckt hab…« Die Worte erstarben.
Immer noch das Papier fixierend, sagte er: »Du bist früh dran.«
»Ja, ich hab meine Lieferungen heute endlich mal so eingeteilt, dass ich nicht denselben Weg zweimal fahren musste.« Sie war selbst überrascht, wie routiniert sie log. Das musste sie von Rock übernommen haben.
»Es wundert mich, dass dein Mann dich nicht trotzdem zurückgehalten hat.«
»Er hat keine Ahnung davon, und ich werde mich hüten, es ihm zu verraten.« Sie fröstelte. Auf dem Boden neben ihm stand ein kleiner elektrischer Ofen, aber er war nicht eingeschaltet. »Ist dir nicht kalt ohne Pulli oder Jacke?«, fragte sie.
»Ich habe nicht darauf geachtet.«
»Bist du schon lang hier draußen?«
»Ein paar Stunden vielleicht.«
»Und was tust du? Arbeitest du an einem neuen Drachen?«
»Ja. An einem, der höher steigt als alle anderen.«
»Klingt cool.« Sie kam näher und stellte sich hinter ihn, neugierig auf seinen neuesten Entwurf. »Du könntest einen Beruf daraus machen, Gid. Keiner baut solche Drachen wie du. Sie sind echt Wahnsinn. Sie sind -«
Sie brach ab, als ihr Blick auf seinen Entwurf fiel, ein Netzwerk verwischter grauer Bleistiftflecken, wo er zu zeichnen versucht und dann radiert hatte, an manchen Stellen so heftig, dass das Papier durchgerieben war.
Er drehte sich zu ihr um, als sie nicht weitersprach. Er drehte sich so schnell herum, dass ihr keine Zeit blieb, sich zu verstellen.
»Das kann ich anscheinend auch nicht mehr«, sagte er.
»Unsinn«, entgegnete sie. »Du bist nur - blockiert oder so was. Das ist doch was Kreatives, stimmt's? Drachen bauen ist was Kreatives. Das geht allen kreativen Menschen so, dass sie hin und wieder eine Blockade haben.«
Er blickte ihr ins Gesicht und las in ihm offenbar das, was sie nicht gesagt hatte. Er schüttelte den Kopf. Er sah elend aus, so elend wie noch nie, seit er nicht mehr Geige spielen konnte. Er sah noch schlechter aus als am vergangenen Abend, als er ihr vom Tod seiner Mutter berichtet hatte. Sein helles Haar klebte strähnig und glanzlos an seinem Schädel, seine Augen schienen tief eingesunken, seine Lippen waren rissig. Alles viel zu extrem, dachte sie. Er hatte seine Mutter seit Jahren nicht gesehen, er war längst nicht so sehr an sie gebunden gewesen wie an seinen Vater.
Als wüsste er, was ihr durch den Kopf ging, und glaubte, sie korrigieren zu müssen, sagte er: »Ich habe sie gesehen, Libby.«
»Wen?«
»Ich habe sie gesehen und hatte es vergessen.«
»Deine Mutter?«, fragte Libby. »Du hast deine Mutter gesehen?«
»Ich weiß nicht, wie ich das vergessen konnte. Ich weiß nicht, wie es kommt, dass man vergisst, aber ich habe es vergessen.« Er sah Libby an, aber sie hatte den Eindruck, dass er sie gar nicht wahrnahm und nur mit sich selbst sprach.
Er wirkte so voller Selbstverachtung, dass sie hastig versuchte, ihn zu trösten. »Vielleicht hast du gar nicht gewusst, wer sie ist«, sagte sie. »Es war ja immerhin - ich meine, du hattest sie vor Jahren das letzte Mal gesehen. Du warst damals noch ein Kind. Und du hast keine Fotos von ihr, nicht? Woher solltest du dich da erinnern, wie sie aussah?«
»Sie war da«, sagte er dumpf. »Sie nannte meinen Namen. >Erinnerst du dich an mich, Gideon?< Und sie wollte Geld haben.«
»Geld?«
»Ich habe ihr einfach den Rücken zugedreht. Ich bin ja ein so bedeutender Mann und ich muss bedeutende Konzerte geben. Also habe ich ihr den Rücken zugedreht, weil ich nicht wusste, wer die Frau war. Aber ich habe mich schuldig gemacht, ganz gleich, was ich wusste oder nicht.«
»Mist«, murmelte Libby, als ihr klar wurde, was er sagen wollte.
»Mensch, Gid, du glaubst doch nicht, dass du schuld bist an dem, was deiner Mutter zugestoßen ist, oder?«
»Ich glaube es nicht«, erwiderte er. »Ich weiß es.« Sein Blick glitt von ihr weg zur offenen Tür, durch die das Dunkel der Abenddämmerung hereinströmte.
»Das ist doch Scheiße«, sagte sie. »Wenn du gewusst hättest, wer sie ist, als sie zu dir kam, hättest du ihr geholfen. Ich kenne dich, Gideon. Du bist ein guter Mensch. Du bist anständig. Wenn deine Mutter Probleme gehabt hätte oder so was, wenn sie Geld gebraucht hätte, dann hättest du sie nie im Leben im Stich gelassen. Okay, sie hat dich verlassen und sich jahrelang nicht um dich gekümmert. Aber sie war deine Mutter, und du bist überhaupt nicht der nachtragende Typ, schon gar nicht deiner Mutter gegenüber. Du bist nicht so ein Arschloch wie Rock Peters.«
Libby lachte ohne Erheiterung bei der Vorstellung, wie ihr Nochehemann reagieren würde, wenn seine Mutter nach zwanzigjähriger Abwesenheit plötzlich in seinem Leben aufkreuzte und ihn um Geld bäte. Er würde sie fertig machen, dachte Libby. Schlimmer noch, er würde sie wahrscheinlich ohrfeigen, wie er das bei Frauen zu tun pflegte, die ihm angeblich berechtigte Gründe zu Tätlichkeiten lieferten. Und das war ja wohl ein berechtigter Grund zur Tätlichkeit - wenn die Mutter, die einen gnadenlos im Stich gelassen hatte, nach zwanzig Jahren vor der Tür stand und um Geld anbettelte, ohne vorher wenigstens zu fragen: Wie ist es dir ergangen, mein Sohn. Gut möglich, dass er total ausrasten würde und…
Libby zügelte ihre wild galoppierenden Gedanken. Der Gedanke, dass ausgerechnet Gideon Davies, der nicht einmal einer Fliege etwas zu Leide tun konnte, die Hand gegen seine Mutter erheben würde, war absurd. Er war schließlich Künstler, und Künstler gehörten nicht zu den Menschen, die auf offener Straße jemanden umfahren und erwarten würden, dass die Kreativität davon unbeeinträchtigt bleiben würde. Allerdings saß er hier vor seinen Drachen und brachte nichts mehr von dem zu Stande, was er vorher mühelos geschafft hatte.
Mit trockenem Mund sagte sie: »Hast du von ihr gehört, Gid? Ich meine, nachdem sie dich um Geld gebeten hatte - hast du da noch einmal von ihr gehört?«
»Ich wusste nicht, wer sie war«, erklärte Gideon erneut. »Ich wusste nicht, was sie von mir wollte, Libby, deshalb begriff ich überhaupt nicht, wovon sie sprach.«
Libby verstand das als Verneinung, weil sie es nicht anders interpretieren wollte. »Komm«, sagte sie, »gehen wir doch rein. Ich mach dir einen Tee. Hier ist es ja eiskalt. Du bist wahrscheinlich schon total durchgefroren.«
Sie nahm ihn beim Arm, und er ließ sich von ihr hochziehen. Sie schaltete das Licht aus, und zusammen tasteten sie sich durch die Dunkelheit zur Tür. Er stützte sich so schwer auf Libby, als hätten alle seine Kräfte sich in dem Bemühen, einen Drachen zu bauen, erschöpft.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte er. »Sie hätte mir geholfen, und jetzt ist sie tot.«
»Ich sag dir, was du tun wirst. Du trinkst jetzt erst mal eine Tasse Tee«, sagte Libby. »Ich spendier dir auch einen Teekuchen dazu.«
»Ich kann nichts essen«, erwiderte er. »Ich kann nicht schlafen.«
»Dann schlaf heute Nacht bei mir. Wenn du bei mir bist, kannst du immer schlafen.«
Was anderes taten sie sowieso nicht. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob er überhaupt schon einmal eine Frau berührt hatte oder die Bereitschaft zur Nähe verloren gegangen war, als seine Mutter ihn verlassen hatte. Libby hatte keine Ahnung von Psychologie, aber es schien eine vernünftige Erklärung für Gideons offenkundige Abneigung gegen Sex. Wie konnte er nach dem, was er erlebt hatte, riskieren, eine Frau zu lieben, die ihn dann vielleicht auch wieder verließ?
Libby zog ihn die Treppe zu ihrer Küche hinunter, wo sie sehr schnell entdeckte, dass sie ihm die versprochenen Teekuchen nicht bieten konnte. Sie hatte überhaupt nichts Kuchenähnliches da, während bei ihm bestimmt etwas Genießbares im Küchenschrank lag. Sie lotste ihn also nach oben in seine eigene Wohnung und setzte ihn an den Küchentisch, während sie den Elektrotopf mit Wasser füllte und in den Schränken nach Tee und etwas Essbarem suchte, was dazu passte.
Er sah aus wie ein wandelnder Toter. Libby zuckte innerlich zusammen bei dem Vergleich und begann, um ihn zu zerstreuen, von ihrem Tag zu erzählen. Es war wie anstrengende Arbeit, und als sie ins Schwitzen geriet, zog sie, ohne zu überlegen, den Reißverschluss des Oberteils ihrer Ledermontur auf, um es abzustreifen, während sie redete.
Die Zeitung, die sie unter das Leder gestopft hatte, fiel heraus. Und sie fiel genau so, wie sie, wäre es nach Libby gegangen, nicht hätte fallen sollen: mit der Titelseite nach oben. Die Schlagzeilen wirkten, wie sie wirken sollten - sie zogen sofort Gideons Aufmerksamkeit auf sich. Er beugte sich zum Boden hinunter und wollte im selben Moment wie Libby die Zeitung ergreifen.
»Lies es nicht«, sagte sie. »Es macht alles nur schlimmer.«
Er sah zu ihr auf. »Was alles?«
»Wozu willst du dich der ganzen Geschichte aussetzen?«, fragte sie, während ihre Hand den einen Rand der Zeitung und seine den anderen packte. »Die wühlen nur alles wieder auf. Das brauchst du doch echt nicht.«
Doch er war so hartnäckig wie sie, und sie wusste, wenn sie ihm die Zeitung nicht ließ, wurden sie sie zerreißen, nicht besser als zwei Frauen, die sich am Wühltisch schlugen. Sie ließ die Zeitung los und ärgerte sich, dass sie sie überhaupt eingesteckt und dann vergessen hatte.
Gideon überflog den Bericht auf der Titelseite und blätterte wie vorher Libby zu den Seiten vier und fünf. Dort sah er die Fotos, die die Zeitung aus ihrem Archiv hervorgeholt hatte: von seiner Schwester, seinen Eltern, sich selbst als Achtjährigen, von den anderen, die betroffen oder beteiligt gewesen waren.
Heute muss für die Zeitungen ein echter Saurer-Gurken- Tag gewesen sein, dachte Libby erbittert und sagte, um ihn abzulenken: »Hey, Gideon, was ich dir noch sagen wollte: Als ich vorhin bei dir geklopft hab, hat jemand angerufen. Ich hab eine Stimme am Anrufbeantworter gehört. Willst du ihn abhören? Soll ich's dir abspielen?«
»Das hat Zeit«, sagte er.
»Vielleicht war's dein Vater. Vielleicht wegen Jill. Wie findest du das Ganze eigentlich? Du hast nie was darüber gesagt. MUSS doch komisch sein, in einem Alter, wo man längst eigene Kinder haben könnte, noch einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester zu kriegen. Wissen sie schon, was es wird?«
»Ein Mädchen«, antwortete er, aber sie merkte, dass er mit seinen Gedanken woanders war. »Jill hat sich untersuchen lassen. Es wird ein Mädchen.«
»Cool. Eine kleine Schwester. Du wirst bestimmt ein toller großer Bruder.«
Er stand abrupt auf. »Diese Albträume machen mich fertig. Wenn ich zu Bett gehe, schlafe ich stundenlang nicht ein. Ich liege da und horche und starre die Zimmerdecke an. Und wenn ich dann endlich doch einschlafe, kommen die Träume. Jede Nacht. Ich halte das nicht mehr aus.«
Hinter ihr schaltete sich der Wasserkocher aus. Libby wollte den Tee aufgießen, aber auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck wilder Verzweiflung… Sie hatte nie zuvor so einen Gesichtsausdruck gesehen. Er faszinierte sie, er besaß einen so mächtigen Sog, dass sie unfähig war, etwas anderes zu tun, als dieses Gesicht anzustarren. Besser so, dachte sie, als sich bei diesem Anblick zu fragen, ob der Tod seiner Mutter Gideon in den Wahnsinn getrieben hatte.
Das konnte nicht sein. Was für einen Grund hätte es gegeben? Weshalb sollte ein Mann wie er durchdrehen, wenn seine Mutter starb? Die Mutter, von der er jahrelang nichts gesehen und gehört hatte. Okay, gut, einmal hatte er sie gesehen, sie hatte ihn um Geld gebeten, und er hatte abgelehnt, weil er nicht gewusst hatte, wen er vor sich hatte… Aber war das ein Grund, total auszuflippen? Libby konnte es sich nicht vorstellen. Sie war sich aber im Klaren darüber, dass sie heilfroh war, Gideon in psychiatrischer Behandlung zu wissen.
»Erzählst du der Psychotherapeutin deine Träume?«, fragte sie.
»Die wissen doch angeblich, was sie zu bedeuten haben. Ich meine, wofür bezahlt man diese Psychotypen, wenn nicht dafür, dass sie einem die Träume erklären, damit sie sich nicht wiederholen, stimmt's?«
»Ich gehe nicht mehr hin.«
»Was?« Libby runzelte die Stirn. »Seit wann denn?«
»Ich habe den heutigen Termin abgesagt. Sie kann mir nicht helfen. Ich habe nur Zeit verschwendet.«
»Aber ich dachte, du magst sie.«
»Was bedeutet das schon? Wenn sie mir nicht helfen kann, wozu dann der ganze Quatsch? Sie wollte, dass ich mich erinnere. Ich habe mich erinnert, und was ist das Resultat? Schau mich an. Schau dir das an. Schau her! Glaubst du im Ernst, dass ich so Geige spielen kann?«
Er streckte seine Hände aus, und sie bemerkte etwas, das ihr bisher nicht aufgefallen war. Sie war sicher, dass es vor vierundzwanzig Stunden, als er zu ihr gekommen war, um ihr vom Tod seiner Mutter zu berichten, noch nicht dagewesen war. Seine Hände zitterten. Sie zitterten so heftig, wie die Hände ihres Großvaters zitterten, bevor sein Parkinson-Medikament zu wirken begann.
Einerseits freute sie sich darüber, dass Gideon nicht mehr zu der Psychotherapeutin ging. Es bedeutete, dass er sich nicht mehr nur über sein Geigenspiel definierte, und das war gut. Andererseits aber erfüllte sie das, was er sagte, mit kribbelndem Unbehagen. Ohne die Geige hatte er die Möglichkeit zu entdecken, wer er war, aber er musste diese Entdeckung wollen, und er wirkte nicht gerade wie ein Mensch, der darauf brannte, sich auf eine Reise der Selbstfindung zu begeben.
Dennoch sagte sie liebevoll: »Nicht zu spielen, ist doch kein Weltuntergang, Gideon.«
»Es ist der Untergang meiner Welt«, entgegnete er und ging ins Musikzimmer.
Sie hörte, wie er über irgendetwasstolperte und schimpfte. Dann wurde Licht gemacht,und während
Libby den Tee aufgoss, hörteGideon den Anrufbeantworter ab.
»Hier spricht Inspector Thomas Lynley von der Kriminalpolizei«, teilte ein kultivierter Theaterbariton mit. »Ich bin auf der Fahrt von Brighton nach London. Würden Sie mich unter meiner Handynummer zurückrufen, wenn Sie diese Nachricht abhören? Ich muss mit Ihnen über Ihren Onkel sprechen.«
Jetzt auch noch ein Onkel?, dachte Libby, während der Kriminalbeamte seine Handynummer angab. Was würde als Nächstes kommen? Was würde man Gideon noch alles aufbürden, und wann würde er endlich sagen: Schluss jetzt!
Warte bis morgen, Gid, wollte sie zu ihm sagen. Schlaf heute Nacht bei mir. Ich vertreib dir die Albträume, ich versprech es, aber da hörte sie Gideon schon wählen. Und einen Augenblick später begann er zu sprechen. Sie klapperte mit Tassen und Löffeln, als wäre sie mit dem Teekochen beschäftigt, und versuchte zu lauschen, natürlich nur in Gideons Interesse.
»Gideon Davies hier«, sagte er. »Ich habe gerade Ihre Nachricht bekommen… Danke… Ja, es war ein Schock.« Es blieb eine Weile still, während er dem Kriminalbeamten zuhörte, dann sagte er: »Es wäre mir lieber, wir könnten das telefonisch erledigen, wenn es Ihnen recht ist.«
Eins zu null für uns, dachte Libby. Wir machen uns einen ruhigen Abend, und dann gehen wir schlafen. Aber als sie die Tassen zum Tisch trug, hörte sie Gideon nach einer Pause wieder sprechen.
»Ja, gut dann, in Ordnung. Wenn es nicht anders geht.« Er gab seine Adresse an. »Ich bin hier, Inspector.« Und damit legte er auf.
Er kam wieder in die Küche. Libby versuchte so zu tun, als hätte sie nichts gehört. Auf der Suche nach Gebäck zum Tee öffnete sie einen Schrank und entschied sich für einen Beutel japanische Knabbermischung. Sie riss ihn auf und füllte den Inhalt in eine Schale, die sie auf den Tisch stellte.
»Jemand von der Kriminalpolizei«, erklärte Gideon. »Er möchte sich mit mir über meinen Onkel unterhalten.«
»Ist deinem Onkel auch was passiert?« Libby löffelte Zucker in ihre Tasse. Sie wollte eigentlich keinen Tee, fand aber, sie könne jetzt keinen Rückzieher machen, da sie den Vorschlag gemacht hatte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Gideon.
»Meinst du nicht, du solltest ihn anrufen, bevor der Bulle hier aufkreuzt? Nur um nachzufragen, was läuft.«
»Ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält.«
»In Brighton, oder nicht?« Libby spürte, wie ihr Gesicht rot anlief. »Ich hab gehört, wie der Typ sagte, er käme gerade aus Brighton rauf. Auf dem Anrufbeantworter. Als du ihn abgespielt hast.« »Möglich, dass er in Brighton ist, ja. Aber ich habe nicht daran gedacht, nach seinem Namen zu fragen.«
»Wessen Namen?«
»Dem meines Onkels.«
»Du weißt nicht -? Ach so. Na ja. Macht wahrscheinlich auch nichts.« Lediglich eine weitere Eigentümlichkeit in seiner Familiengeschichte, dachte Libby. Es gab schließlich massenhaft Leute, die ihre Verwandten nicht kannten. Es war, wir ihr Vater verkündet hätte, ein Zeichen der Zeit. »Und du konntest ihn nicht abwimmeln? Bis morgen wenigstens?«
»Ich wollte ihn nicht abwimmeln. Ich möchte wissen, was los ist.«
»Ah ja. Klar.« Sie war enttäuscht. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie sich den ganzen Abend lang um ihn bemühen würde, und in ihrer Naivität gemeint, wenn sie sich gerade jetzt, da er am Tiefpunkt angelangt war, intensiv um ihn kümmerte, würde vielleicht etwas zwischen ihnen entstehen, das tiefer ging, würde es vielleicht endlich zum Durchbruch kommen. Sie sagte: »Fragt sich nur, ob du ihm vertrauen kannst.«
»Wie meinst du das?«
»Naja, ob du darauf vertrauen kannst, dass er dir die Wahrheit sagt. Er ist schließlich ein Bulle.« Sie zuckte die Schultern und schob eine Hand voll japanisches Knabberzeug in den Mund.
Gideon setzte sich. Er zog seine Teetasse zu sich heran, aber er trank nicht. »Es spielt sowieso keine Rolle«, sagte er.
»Was spielt keine Rolle?«
»Ob er mir die Wahrheit sagt oder nicht.«
»Nein? Wieso nicht?«
Gideon sah sie an, als er ihr den Schlag versetzte. »Weil ich niemandem trauen kann. Das wusste ich vorher nicht. Aber jetzt weiß ich es.«
Die Situation wird immer beschissener.
J. W Pitchley alias James Pitchford alias Die Zunge loggte sich aus dem Internet aus und starrte laut fluchend auf den leeren Bildschirm. Da hatte er es endlich geschafft, das Sahnehöschen zu einem Schwatz ins Netz zu locken, hatte sie aber trotz mehr als einer halben Stunde guten Zuredens nicht dazu bewegen können, ihm zu helfen. Dabei müsste sie nur mal kurz in Hampstead aufs Polizeirevier gehen und sich fünf Minuten mit Chief Inspector Leach unterhalten. Aber nein, dazu war sie nicht bereit. Sie müsste lediglich bestätigen, dass sie und ein Mann, den sie nur unter dem Namen Die Zunge kannte, den Abend zusammen verbracht hatten, zuerst in einem Restaurant in South Kensington und dann in einem klaustrophobisch kleinen Hotelzimmer über der Cromwell Road, wo der unaufhörliche Verkehrslärm das schrille Quietschen der Sprungfedern und die Lustschreie übertönte, die er ihr entlockt hatte. Aber nein, sie war nicht bereit, das für ihn zu tun. Obwohl er sie in weniger als zwei Stunden sechsmal zum Orgasmus hochgejagt hatte; obwohl er seine eigene Befriedigung hintan gestellt hatte, bis sie schwitzend und erschöpft auf dem Bett gelegen hatte, ausgepowert von der Lust, die er ihr bereitet hatte; obwohl er jede ihrer schmutzigen Fantasien über anonymen Sex erfüllt hatte. All das, und sie war trotzdem nicht bereit, sich zu melden, weil es »ungeheuer beschämend wäre, einem wildfremden Menschen zu offenbaren, wie ich unter gewissen, außergewöhnlichen Umständen sein kann«.
Ich bin ein wildfremder Mensch, du blöde Kuh, hätte Pitchley sie am liebsten angebrüllt. Es hat dir überhaupt nichts ausgemacht, mir zu offenbaren, was du drauf hast, wenn du richtig heiß bist.
Sie schien zu wissen, was ihm durch den Kopf ging, obwohl er ihr nichts davon mitteilte. Sie schrieb: Man würde meinen Namen verlangen, verstehst du. Und das geht nicht, Zunge. Meinen Namen kann ich nicht preisgeben. Du kennst doch die Sensationspresse. Es tut mir Leid. Ich hoffe, du verstehst meine Situation.
Er hatte vor allem verstanden, dass sie nicht geschieden war. Sie war keine allein lebende, alternde Frau, die dringend einen Mann suchte, um sich zu beweisen, dass sie immer noch wirkte. Sie war eine verheiratete alternde Frau, die den Kick suchte, weil das Eheglück nur noch aus Langeweile bestand.
Es war offenbar eine langjährige Ehe, und die Gute war nicht etwa mit einem Niemand oder Jedermann verheiratet, sondern mit einem Mann, der einen Namen hatte, einem Politiker oder einem Schauspieler oder einem erfolgreichen und bekannten Geschäftsmann. Wenn sie Chief Inspector Leach ihren Namen verriete, würde sich innerhalb der klatschfreudigen Polizeidienststelle sehr schnell herumsprechen, wer sie war. Und es würde natürlich auch irgendeiner Plaudertasche zu Ohren kommen, die sich von einem skrupellosen Journalisten mit Ambitionen auf die Titelseite seines Schmierblatts für Informationen bezahlen ließ.
Diese blöde Kuh, dachte Pitchley erbittert. Diese gottverdammte blöde Kuh, die immer so tat, als könnte sie nicht bis drei zählen! Daran hätte sie doch denken können, bevor sie sich mit ihm im Valley of Kings getroffen hatte. Sie hätte sich die möglichen Konsequenzen überlegen können, ehe sie reintrippelte wie die Jungfer Rühr-mich- nicht-an, das harmlose Häschen, das mit Männern überhaupt keine Erfahrung hatte, die Schüchterne, die dringend einen Mann brauchte, der ihr zeigte, dass sie noch begehrenswert war, weil ihr jegliches Selbstwertgefühl abhanden gekommen war. Sie hätte sich überlegen können, was alles passieren könnte; dass sie vielleicht zugeben müsste, ja, ich war im Valley of Kings, ja, ich habe mich dort zum Cocktail und zum Abendessen mit einem wildfremden Mann getroffen, den ich in einem Chatroom im Internet kennen gelernt habe, wo die Leute ihre wahre Identität verbergen, während sie sich gemeinsam an sexuellen Fantasien aufgeilen, dass man ihr vielleicht das Eingeständnis abverlangen wurde, dass sie mit einem Mann, dessen Namen sie nicht wusste und nicht wissen wollte, Stunden ausschweifender Lust in einem schäbigen Bett in einem Hotel in South Kensington verbracht hatte. Sie hätte doch mal ihr Hirn einschalten können, diese dämliche Kuh.
Pitchley rückte ein Stück von seinem Computer ab. Die Ellbogen auf die Knie gestützt, ließ er den Kopf auf die Hände sinken und drückte seine Finger gegen die Stirn. Sie hätte ihm helfen können. Zwar wäre damit nicht das ganze Problem gelöst gewesen - es wäre immer noch die lange Zeitspanne zwischen seiner Abfahrt vom Comfort Inn und seiner Ankunft am Crediton Hill geblieben, für die er kein Alibi vorweisen konnte -, aber es wäre ein verdammt guter Anfang gewesen. So aber stand er allein da mit seiner Aussage und seiner Entschlossenheit, an ihr festzuhalten; mit der eher unwahrscheinlichen Möglichkeit, dass der Nachtportier vom Comfort Inn Pitchleys Anwesenheit am fraglichen Abend bestätigen würde, ohne diesen Abend mit den vielen anderen zu verwechseln, an denen er - Pitchley - die erforderliche Summe in bar über den Tresen geschoben hatte, und mit der Hoffnung, dass sein Gesicht unschuldig genug war, um die Polizei von seiner Glaubwürdigkeit zu überzeugen.
Es war natürlich keine Hilfe, dass er die Frau, die mit seiner Adresse in ihrer Handtasche praktisch vor seinem Haus gestorben war, gekannt hatte. Und es war auch keine Hilfe, dass er früher einmal - wenn auch nur ganz am Rande - in ein abscheuliches Verbrechen verwickelt gewesen war, das sich zugetragen hatte, als er unter ihrem Dach gelebt hatte.
Er hatte an jenem Abend die Schreie gehört und war sofort losgestürmt, weil er die Stimme erkannt hatte. Als er vor dem Bad eintraf, waren alle anderen schon da gewesen: der Vater und die Mutter des Kindes, der Großvater, der Bruder, Sarah-Jane Beckett und Katja. Katja Wolff. »Ich habe sie nicht eine Minute allein gelassen«, schrie sie hysterisch der Gruppe zu, die vor der geschlossenen Badezimmertür stand. »Ich schwöre es. Ich habe sie nicht eine Minute allein gelassen.«
Dann trat Robson, der Geigenlehrer, hinter sie, fasste sie bei den Schultern und zog sie weg.
»Sie müssen mir glauben«, rief sie weinend und ließ sich schluchzend von ihm die Treppe hinunterziehen.
Er selbst hatte anfangs nicht gewusst, was eigentlich los war. Er wollte es nicht wissen und konnte sich nicht erlauben, es zu wissen. Er hatte die Auseinandersetzung zwischen ihr und den Eltern gehört, sie hatte ihm gesagt, dass sie entlassen worden war, und er wollte nicht darüber nachdenken, ob die Auseinandersetzung, die Entlassung und der Grund für die Entlassung - den er ahnte, aber nicht näher ins Auge fassen wollte, weil er das nicht ertragen hätte - in irgendeiner Weise mit dem zu tun hatte, was sich hinter der geschlossenen Badezimmertür befand.
»James, was ist passiert?« Sarah-Jane Beckett schob ihre Hand in die seine und umklammerte sie fest, als sie flüsternd sagte. »O Gott, es ist was mit Sonia, nicht wahr?«
Er sah sie an und bemerkte, dass ihre Augen dem tragischen Ton zum Trotz voll Erregung blitzten. Aber er stellte keine Mutmaßungen darüber an, was dieses Blitzen der Augen zu bedeuten hatte. Er überlegte nur, wie er ihr entkommen und zu Katja gelangen könnte.
»Nehmen Sie den Jungen«, befahl Richard Davies Sarah-Jane.
»Bringen Sie, um Gottes willen, Gideon von hier weg, Sarah.«
Sie gehorchte. Sie brachte den blassen kleinen Jungen in sein Zimmer, in dem heitere Musik spielte, als hätte sich nicht etwas Schreckliches ereignet.
Er selbst machte sich auf die Suche nach Katja und fand sie in der Küche, wo Robson ihr Kognak einflößte. Sie wehrte sich dagegen, rief immer wieder: »Nein! Nein!« Sie sah aus wie eine Wahnsinnige, mit wildem Haar und wildem Blick, überhaupt nicht der Rolle der liebevollen, fürsorglichen Kinderfrau eines kleinen Mädchens entsprechend, das… Was war mit dem Kind? Er wagte nicht zu fragen; wagte es nicht, weil er es schon wusste, aber der Gewissheit nicht ins Auge sehen wollte; er hatte Angst vor den Auswirkungen auf sein eigenes kleines Leben, wenn das, was er glaubte und fürchtete, sich als wahr erwiese.
»Trinken Sie«, sagte Robson. »Katja. Um Himmels willen, nehmen Sie sich zusammen. Die Sanitäter werden jeden Moment hier sein. Sie können es sich nicht erlauben, in diesem Zustand gesehen zu werden.«
»Ich habe sie nicht allein gelassen! Nein! Nein!« Mit heftiger Bewegung drehte sie sich auf dem Stuhl, auf dem sie saß, herum und klammerte sich an Robsons Hemd.
»Sie müssen es ihnen sagen, Raphael. Sagen Sie ihnen, dass ich sie nicht allein gelassen habe.«
»Kommen Sie, werden Sie nicht hysterisch. Es ist wahrscheinlich gar nichts.«
Aber da irrte er.
Er - James - hätte zu ihr gehen sollen, aber er hatte es nicht getan, weil er Angst gehabt hatte. Allein der Gedanke, dass diesem Kind etwas zugestoßen sein könnte, dass überhaupt einem Kind in einem Haus, in dem er lebte, etwas zustoßen könnte, lähmte ihn. Und später, als er mit ihr hätte sprechen können und es auch versuchte, um sich ihr als der Freund zu zeigen, den sie brauchte und offensichtlich nicht hatte, lehnte sie jedes Gespräch ab. Es war, als hätten die versteckten Angriffe, mit denen die Presse unmittelbar nach Sonias Tod über sie herfiel, sie derart eingeschüchtert, dass sie glaubte, nur überleben zu können, wenn sie sich ganz klein machte und absolut still verhielt. Jeder Bericht über die Tragödie am Kensington Square begann mit einem Hinweis darauf, dass die Kinderfrau der kleinen Sonia Davies die junge Deutsche war, deren Aufsehen erregende Flucht aus Ostdeutschland - damals allgemein gelobt und bewundert - einen lebensfrohen jungen Mann das Leben gekostet hatte, und dass der Luxus, den sie in England genoss, in traurigem und bedrückendem Gegensatz zu der Situation stand, in die sie durch ihre spektakuläre Flucht in die Freiheit ihre Eltern und Geschwister gebracht hatte. Alles an ihr, was irgendwie zweifelhaft war, alles, was sich gegen sie verwenden ließ, wurde von der Presse ausgeschlachtet. Und demjenigen, der eine nähere Beziehung zu ihr hatte, konnte die gleiche Behandlung blühen. Deshalb hatte er Distanz gehalten - bis es schließlich zu spät gewesen war.
Als sie endlich angeklagt und vor Gericht gestellt wurde, bombardierten erboste Bürger das Fahrzeug, mit dem man sie aus dem Holloway-Gefängnis zum Old Bailey transportierte, regelmäßig mit Eiern und faulen Früchten, und wenn sie abends im selben Wagen nach Holloway zurückkehrte, wurde sie auf dem kurzen Weg zu ihrer Zelle als »Kindsmörderin« beschimpft. Die Öffentlichkeit war in leidenschaftlichen Aufruhr geraten über das Verbrechen, das sie angeblich verübt hatte: weil das Opfer ein Kind war, ein behindertes Kind noch dazu, und weil die angebliche Mörderin eine Deutsche war, wenn das so offen auch niemand sagte.
Und jetzt hocke ich wieder mittendrin im Schlamassel, dachte Pichtley und rieb sich frustriert die Stirn. Als wären die zwanzig Jahre, die seit den Ereignissen jenes Abends vergangen waren, nie gewesen. Dabei hatte er in dieser Zeit seinen Namen geändert und fünfmal seinen Arbeitsplatz gewechselt. Aber wenn er dieser blöden Kuh nicht klar machen konnte, dass von ihrer Aussage sein Überleben abhing, dann waren all seine Bemühungen, sich ein neues Leben aufzubauen, umsonst gewesen.
Sie war allerdings nicht die Einzige, die ihm Sorgen machte. Wenn er in seinem Leben Ordnung schaffen wollte, dann musste er sich dringend mit Robbie und Brent befassen, die wie zwei Zeitbomben waren, bei denen man nicht wusste, wann sie explodieren würden.
Er hatte angenommen, sie wollten wieder Geld haben, als sie das zweite Mal bei ihm antanzten. Dass er ihnen bereits einen Scheck ausgeschrieben hatte, spielte keine Rolle; er kannte die beiden gut genug, um sich vorstellen zu können, dass Robbie das Geld, statt es auf die Bank zu legen, auf ein Pferd mit einem spektakulären Namen gesetzt hatte. Und er sah sich in dieser Vermutung bestätigt, als Robbie, keine fünf Minuten, nachdem die beiden ungepflegt wie immer zur Tür hereingekommen waren, zu seinem Gefährten sagte: »Zeig's ihm, Brent.« Woraufhin Brent gehorsam eine Ausgabe der Source aus der Tasche zog und sie auseinander schüttelte wie ein gefaltetes Bettlaken.
»Schau mal, Jay, wen sie da praktisch vor deiner Haustür zu Matsch gefahren haben!« Er zeigte grinsend die Titelseite der Boulevardzeitung. Es konnte natürlich nur die Source sein, sagte sich Pitchley. Niemals würden sich Robbie und Brent durchringen, ein anspruchsvolleres Blatt zu lesen.
Was Brent ihm da unter die Nase hielt, ließ sich nicht ignorieren: fette Schlagzeilen, ein Foto von Eugenie Davies, eine Aufnahme der Straße, in der er wohnte, und eine zweite des Jungen, der jetzt kein Junge mehr war, sondern ein erwachsener Mann - und ein berühmter dazu. Nur ihm war es zu verdanken, dass dieser Todesfall von der Presse so hochgespielt wurde. Wäre Gideon Davies nicht zu Erfolg, Ruhm und Reichtum gelangt, in einer Welt, die auf solche Äußerlichkeiten zunehmend mehr Wert legte, hätte kein Hahn nach dieser Geschichte gekräht. Sie wäre kurz und bündig als tödlicher Unfall mit Fahrerflucht abgetan worden, ein Fall wie viele andere, in dem die Polizei Ermittlungen anstellte.
»Das hab'n wir natürlich nicht gewusst, wie wir gestern hier war'n«, sagte Robbie. »Stört's dich, wenn ich das Ding auszieh, Jay?« Er legte die schwere Jacke ab und warf sie auf einen Sessel. Dann drehte er gemächlich eine Runde durch das Zimmer und musterte demonstrativ jede Einzelheit. »Nicht übel, die Hütte. Du hast's offensichtlich weit gebracht, Jay. In der City bist du wahrscheinlich bekannt wie 'n bunter Hund, mindestens bei den Leuten, die zählen. Richtig, Jay? Du kümmerst dich liebevoll um ihre Knete, und prompt produziert sie neue Knete, und die guten Leute verlassen sich ganz auf dich, was?«
»Sag einfach, was du willst. Ich hab nicht viel Zeit«, sagte Pitchley.
»Das versteh ich nicht«, entgegnete Robbie. »In New York-« Er schnalzte mit den Fingern und sagte: »Brent, die Zeit in New York?«
Brent schaute brav auf seine Uhr. Seine Lippen bewegten sich lautlos, während er rechnete. Er runzelte die Stirn und zählte an den Fingern ab. »Früh«, verkündete er schließlich.
»Na bitte, Jay«, sagte Rob. »Früh. In New York hat die Börse noch nicht geschlossen. Du hast massenhaft Zeit, noch 'n bisschen Kohle zu machen, bevor der Tag um ist. Trotz unserem kleinen Plausch hier.«
Pitchley seufzte. Er konnte die beiden nur loswerden, wenn er zum Schein auf Robs Spiel einging. »Ja, okay, du hast natürlich Recht«, antwortete er und trat zu dem Schreibtisch, der vor dem Fenster zur Straße stand. Nachdem er sein Scheckbuch und einen Kugelschreiber aus der Schublade genommen hatte, ging er ins Esszimmer hinüber, setzte sich an den Tisch und begann zu schreiben. Als Erstes trug er den Betrag ein: dreitausend Pfund. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Rob weniger verlangen würde.
Rob, der, wie immer von seinem Bruder Brent gefolgt, ebenfalls ins Esszimmer gekommen war, sagte: »Ach, das denkst du also, Jay? Dass es immer nur um Geld geht, wenn wir beide dich besuchen?«
»Worum sonst?« Pitchley füllte das Datum aus und begann, den Namen des anderen zu schreiben.
Robbie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass es knallte. »Hey! Lass das und schau mich an.« Um seinem Befehl Nachdruck zu verleihen, schlug er Pitchley den Kugelschreiber aus der Hand. »Du glaubst, es geht hier um Geld, Jay? Ich und Brent, wir laufen uns die Hacken ab, rennen bis nach Hampstead rauf, lassen dringende Geschäfte liegen« - eine Kopfbewegung in Richtung Straße - »und lassen uns einen Haufen Knete durch die Lappen gehen, weil wir hier rumstehen und mit dir labern, und du glaubst, wir sind wegen der Kohle hier? Mann, du bist vielleicht ein Arsch!« Und zu seinem Bruder: »Wie findest du das, Brent?«
Brent gesellte sich zu ihnen an den Tisch. Er hatte immer noch die Zeitung in der Hand und würde sie erst weglegen, wenn Robbie ihm genau sagte, was er damit tun sollte.
Was für ein erbärmlicher Idiot, dachte Pitchley. Ein Wunder, dass er sich die Schuhe selber binden kann. »Also gut«, sagte er und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Dann sag mir doch, warum ihr gekommen seid, Rob.«
»Schon mal was von Freundschaftsbesuch gehört?«
»O ja, aber nicht in unserer gemeinsamen Geschichte.«
»Aha! Na, dann denk mal über Geschichte nach. Die ist nämlich drauf und dran, dich einzuholen, Jay.« Rob schnippte mit den Fingern gegen die Zeitung. Entgegenkommend hielt Brent sie höher wie ein Schuljunge, der dem Zeichenlehrer sein Kunstwerk vorführt. »An der Nachrichtenfront war nichts los die letzten Tage. Kein Royal ist ins Fettnäpfchen getreten, kein Abgeordneter mit 'ner Minderjährigen erwischt worden. Die Presse fängt garantiert an zu wühlen, Jay. Und darum sind wir hergekommen, ich und Brent. Um zu planen.«
»Zu planen?«, wiederholte Pitchley vorsichtig.
»Klar. Wir haben dir doch schon mal aus der Patsche geholfen. Wir können's wieder tun. Die Bullen werden dir nämlich ganz schön Feuer unterm Hintern machen, wenn sie erst mal rauskriegen, wer du wirklich bist. Und wenn sie das an die Presse weitergeben, wie sie's ja immer tun -«
»Sie wissen Bescheid«, unterbrach Pitchley, in der Hoffnung, ihn mit der halben Wahrheit bluffen zu können und ihm so den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Ich hab denen schon alles gesagt.«
Aber Rob war nicht bereit, das so einfach zu schlucken. »Nie im Leben, Jay«, erwiderte er. »Wenn's so wäre, wurden die Bullen dich den Wölfen zum Fraß vorwerfen, sobald sie was brauchen, um gut dazustehen. Das weißt du doch selber. Und drum nehm ich mal an, dass du ihnen zwar 'nen kleinen Teil erzählt hast, aber garantiert nicht alles.« Er musterte Pitchley mit scharfem Blick und nickte. »Genau. Und drum sind Brent und ich der Ansicht, dass wir planen müssen. Du brauchst Schutz, und den können wir dir geben.«
Und ich werde auf ewig in eurer Schuld stehen, dachte Pitchley. Ich werde doppelt so tief in eurer Schuld stehen, weil ihr mir dann schon zweimal in meinem Leben die Meute vom Leib gehalten habt.
»Du brauchst uns, Jay«, behauptete Robbie. »Und ich und Brent, wir gehören nicht zu den Leuten, die wie Röhrenwasser verschwinden, wenn sie gebraucht werden.«
Pitchley konnte sich vorstellen, wie es ablaufen würde; wie Robbie und Brent für ihn zu Felde ziehen und genauso ungeschickt mit der Presse umspringen würden wie in der Vergangenheit.
Er wollte ihnen sagen, sie sollten nach Hause gehen zu ihren Frauen und ihrem schlecht geführten kleinen Unternehmen, einer Autowaschanlage, wo sie die Luxuskarossen der Reichen schrubbten und polierten. Er wollte ihnen sagen, sie sollten sich für jetzt und alle Zukunft verpissen, weil er die Nase voll davon hatte, ausgenommen zu werden wie eine Weihnachtsgans. Er öffnete sogar den Mund, um das alles zu sagen, aber genau in dem Moment klingelte es an der Tür und er ging zum Fenster, um zu sehen, wer es war.
»Bleibt hier«, sagte er zu Robbie und Brent und schloss die Esszimmertür, als er hinausging.
Und jetzt, dachte er erbittert, nachdem er vergeblich versucht hatte, die Frau namens Sahnehöschen zu überreden, ihm zu helfen, schulde ich ihnen noch mehr. Schon deshalb, weil Rob die Geistesgegenwart gezeigt hatte, mit Brent aus dem Haus zu verschwinden, bevor das Mopsgesicht von der Kripo die beiden in der Küche ertappen konnte. Dass sie der Frau nichts hätten erzählen können, was seine derzeitige Situation verschlimmert hätte, war nebensächlich. Robbie und Brent würden es anders sehen. Sie würden sich als seine Beschützer aufspielen und ihn irgendwann dafür zahlen lassen.
Lynley fuhr direkt nach London weiter, nachdem er vorher mit Staines zusammen die Audi-Werkstatt besucht hatte, bei der dieser seinen Wagen abgegeben hatte. Staines hatte er nur mitgenommen, um zu verhindern, dass der Mann in seiner Abwesenheit versuchte, per Telefon in seinen - Lynleys - Ermittlungen dazwischenzufunken. Er hatte ihn im Auto warten lassen, während er sich im Büro der Firma mit den Leuten unterhalten hatte.
Sie bestätigten, was er von Eugenie Davies' Bruder gehört hatte. Der Wagen war an diesem Morgen um acht Uhr zur Inspektion abgegeben worden, nachdem der Termin bereits am Donnerstag zuvor vereinbart worden war. Es war nichts Besonderes - wie etwa Karosserieschäden, die der Reparatur bedurften - in den Computer eingegeben worden, als die Sekretärin den Auftrag aufgenommen hatte.
Als Lynley den Wagen zu sehen verlangte, führte ihn einer der Verkäufer bereitwillig hinaus, wobei er begeistert erzählte, wie fortschrittlich Audi auf technischem Gebiet und im Design sei. Wenn das Erscheinen eines Polizeibeamten, der sich für den Wagen eines Kunden interessierte, ihn neugierig machte, so ließ er sich nichts davon merken. Jeder war schließlich ein potenzieller Kunde.
Staines' Wagen stand gerade auf der Hebebühne, so hoch, dass Lynley sich neben Front und Kotflügeln auch das Fahrgestell ansehen konnte. Vorn am Wagen war alles in Ordnung, aber am linken Kotflügel hatte er Schrammen und eine Beule, die verdächtig aussahen. Und ganz frisch waren.
»Ist es möglich, dass eine verbeulte Stoßstange ausgetauscht worden ist, bevor der Wagen bei Ihnen abgegeben wurde?«, fragte Lynley den Mechaniker, der an dem Fahrzeug arbeitete.
»Möglich ist so was immer«, antwortete der Mann. »Man braucht ja der Vertragswerkstatt nicht das Geld hinterher zu werfen, wenn man's woanders billiger kriegt.«
Es bestand also durchaus die Möglichkeit, dass hinter den Schrammen und der kleinen Beule mehr steckte als reine Unaufmerksamkeit beim Fahren. Man konnte Staines nicht so ohne weiteres von der Liste streichen, auch wenn er behauptete, er hätte keine Ahnung, woher die Schrammen stammten. »Meine Frau fährt den Wagen auch, Inspector.«
Lynley setzte Staines an einer Bushaltestelle ab und riet ihm, Brighton nicht zu verlassen. »Wenn Sie umziehen, dann rufen Sie mich bitte an«, sagte er und reichte Staines seine Karte. »Ich muss das wissen.«
Dann fuhr er direkt nach London weiter. Der Chalcot Square, nordöstlich vom Regent's Park gelegen, gehörte zu einem der zahlreichen Stadtviertel, die derzeit saniert und veredelt wurden. Lynley sah es an den Gerüsten, die an mehreren Häusern hochgezogen waren, und an den frisch gestrichenen Fassaden der übrigen Gebäude am Platz. Die Gegend erinnerte ihn an Notting Hill - die gleiche Vielfalt freundlicher Farben an den Fassaden der Häuser.
Gideon Davies' Haus stand etwas zurückgesetzt an einer Ecke des Platzes. Es war leuchtend blau und hatte eine weiße Tür. Im ersten Stock hatte es einen schmalen Balkon mit einer niedrigen weißen Balustrade. Durch die Fenster und die Balkontür fiel helles Licht.
Auf sein Klopfen hin wurde ihm prompt geöffnet, als hätte der Eigentümer des Hauses hinter der Tür am Fuß der Treppe gewartet.
»Inspector Lynley?« fragte Gideon Davies, und als Lynley nickte, sagte er: »Bitte, kommen Sie mit nach oben.« An einer Wand vorbei, an der gerahmte Zeugnisse seiner Karriere hingen, führte er ihn eine Treppe hinauf in den ersten Stock und ging voraus in das Zimmer, das Lynley von der Straße aus aufgefallen war. Es war behaglich eingerichtet mit bequemen Sesseln und Sofas, an der einen Wand eine Musikanlage, Beistelltische und Notenständer, auf denen Notenhefte lagen, aber keines von ihnen aufgeschlagen.
Davies sagte: »Ich habe meinen Onkel nie kennen gelernt, Inspector Lynley. Ich weiß nicht, inwieweit ich Ihnen helfen kann.«
Lynley hatte die Berichte in den Zeitungen gelesen, nachdem der Geiger das Konzert in der Wigmore Hall hatte platzen lassen. Wie die meisten Leute, die die Geschichte verfolgt hatten, war er der Meinung gewesen, dahinter steckten nichts weiter als die Starallüren eines verwöhnten Publikumslieblings. Er hatte die Erklärungen gesehen, die die PR-Leute des jungen Mannes veröffentlicht hatten: Erschöpfung nach den Anstrengungen einer strapaziösen Konzertreise im Frühjahr. Und er hatte die ganze Sache als einen Sturm im Wasserglas abgetan, den die Zeitungen aufgewirbelt hatten, um während des Sommerlochs ihre Seiten zu füllen.
Aber der Geiger sah wirklich krank aus, und Lynley dachte sofort an Parkinson - Davies' Gang war unsicher, und seine Hände zitterten -, eine Krankheit, die das Ende seiner Karriere bedeuten würde. So etwas würde man natürlich so lange wie möglich geheim zu halten suchen und der Öffentlichkeit von Erschöpfung, Nervenkrisen und weiß der Himmel was erzählen, bis man nicht mehr darum herumkam, die Katze aus dem Sack zu lassen.
Davies wies zu den drei Sesseln, die vor dem offenen Kamin standen. Er selbst setzte sich in den, der dem Feuer am nächsten war - orangefarbene und blaue Flammen, die in regelmäßigem Rhythmus aus künstlichen Kohlen emporzüngelten. Die starke Ähnlichkeit zwischen Gideon Davies und seinem Vater Richard war trotz des kränklichen Aussehens des jungen Mannes unverkennbar. Sie hatten den gleichen Körperbau, mager und langgliedrig, eher sehnig als muskulös. Der jüngere Davies schien die Rückenkrankheit des Vaters nicht geerbt zu haben, doch die Art, wie er die Beine zusammengepresst hielt und die geballten Fäuste in den Magen drückte, legte nahe, dass er dafür andere körperliche Probleme hatte.
»Wie alt waren Sie, als Ihre Eltern sich scheiden ließen, Mr. Davies?«, fragte Lynley.
»Als sie sich scheiden ließen?« Davies musste nachdenken. »Ich war acht oder neun, als meine Mutter die Familie verließ, aber die Scheidung kam erst später. Sie hätten sich nach den damaligen Gesetzen gar nicht sofort scheiden lassen können. Es wird also wohl - tja, wie lange? vier Jahre? - gedauert haben. Ich weiß es tatsächlich nicht, Inspector, das fällt mir jetzt erst auf. Aber über das Thema wurde bei uns nie gesprochen.«
»Welches Thema meinen Sie? Die Scheidung oder die Tatsache, dass Ihre Mutter gegangen war?«
»Beides. Eines Tages war sie einfach weg.«
»Und Sie haben nie gefragt, warum?«
»In unserer Familie wurde nie viel über persönliche Dinge gesprochen. Es gab allgemein - nun ja, einen hohen Grad der Zurückhaltung, könnte man vielleicht sagen. Wir waren ja nicht allein im Haus. Mit uns zusammen lebten meine Großeltern, meine Lehrerin und ein Untermieter. Das waren viele Leute. Ich vermute, es war ein Mittel, um sich abzugrenzen - man ließ jedem ein Privatleben, über das von keinem anderen gesprochen wurde. Jeder behielt seine Gedanken und Gefühle weitgehend für sich. Nun ja, das war damals sowieso der Stil.«
»Und in der Zeit nach dem Tod Ihrer Schwester?«
Davies, der Lynley bis dahin offen angesehen hatte, wandte seinen Blick ab und starrte ins Feuer. »Was meinen Sie?«
»Als Ihre Schwester ermordet wurde, hat da auch jeder seine Gedanken und Gefühle weitgehend für sich behalten? Und während des nachfolgenden Prozesses?«
Davies schloss wie in Abwehr der Fragen die Beine noch fester.
»Über das alles wurde nie gesprochen. Man könnte sagen, das Motto unserer Familie lautete: Vergessen wir's, und wir haben nach diesem Motto gelebt, Inspector.« Er hob den Kopf und richtete den Blick auf die Wand. »Mein Gott«, sagte er und schluckte.
»Ich vermute, genau aus diesem Grund ist meine Mutter gegangen. Weil nie jemand über die Dinge gesprochen hat, die in diesem Haus dringend hätten besprochen werden müssen. Damit ist sie am Ende einfach nicht mehr fertig geworden.«
»Wann haben Sie Ihre Mutter zum letzten Mal gesehen, Mr. Davies?«
»Damals.«
»Als Sie neun Jahre alt waren?«
»Mein Vater und ich gingen auf Konzertreise nach Österreich. Als wir zurückkamen, war sie fort.«
»Und Sie haben seitdem nichts von ihr gehört?«
»Nein, ich habe seitdem nichts von ihr gehört.«
»Sie hat nicht in den letzten Monaten irgendwann mit Ihnen Verbindung aufgenommen?«
»Nein. Warum?«
»Ihr Onkel sagte, sie hätte vorgehabt, Sie aufzusuchen. Sie hätte vorgehabt, sie um ein Darlehen zu bitten. Er behauptet, sie hätte ihm dann gesagt, es wäre etwas dazwischengekommen, sodass es ihr nicht möglich gewesen sei, Sie um Geld zu bitten. Ich wüsste gern, ob Sie eine Ahnung haben, was dazwischengekommen ist.«
Davies' Gesicht verschloss sich bei diesen Worten. Es war, als hätte sich ein dünner eiserner Schild vor seinen Augen herabgesenkt. »Ich habe - nun ja, sagen wir, ich hatte in letzter Zeit gewisse Schwierigkeiten mit meinem Spiel.« Er überließ es Lynley, das Weitere zu folgern: Einer Mutter, die sich um das Wohlbefinden ihres Sohnes sorgte, würde es kaum einfallen, diesen um Geld anzugehen, sei es im eigenen oder im Namen ihres nichtsnutzigen Bruders.
Das stand keineswegs im Widerspruch zu dem, was Lynley von Richard Davies gehört hatte: dass seine geschiedene Frau ihn angerufen hatte, um Näheres über das Befinden ihres gemeinsamen Sohnes zu erfahren. Aber der zeitliche Ablauf gab zu denken, wenn man glauben wollte, der Gesundheitszustand des Musikers sei der Grund dafür gewesen, dass seine Mutter ihre Bitte um ein Darlehen nicht vorgebracht hatte. Da klaffte eine Lücke von mehreren Monaten. Die traumatische Geschichte in der Wigmore Hall war im Juli geschehen. Inzwischen schrieb man November. Und wenn man Ian Staines folgte, war der Sinneswandel seiner Schwester bezüglich des Plans, ihren Sohn um Geld zu bitten, erst kürzlich eingetreten, in der jüngsten Vergangenheit. Es war nur eine kleine Ungereimtheit, aber sie durfte nicht übersehen werden.
»Ihr Vater sagte mir, dass sie ihn regelmäßig angerufen hat, um sich nach Ihnen zu erkundigen. Sie wüsste also offenbar von Ihren Schwierigkeiten«, meinte Lynley zustimmend. »Aber er erwähnte nichts davon, dass sie den Wunsch äußerte, Sie zu sehen. Sie hat sich nicht direkt mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«
»Ich denke, dass ich mich daran erinnern würde, wenn meine Mutter mit mir Verbindung aufgenommen hätte, Inspector. Sie hat es nicht getan, und es wäre auch gar nicht möglich gewesen. Meine Telefonnummer ist nicht eingetragen. Sie hätte mich also höchstens über meinen Agenten oder meinen Vater erreichen können, oder indem sie mir bei einem Konzert eine Nachricht ins Künstlerzimmer schickte.«
»Und das hat sie nicht getan?«
»Nein, das hat sie nicht getan.«
»Und sie hat Ihnen auch nicht über Ihren Vater eine Nachricht zukommen lassen?«
»Nein«, antwortete Davies. »Vielleicht lügt also mein Onkel, wenn er behauptet, meine Mutter hätte vorgehabt, mit mir Verbindung aufzunehmen und mich um Geld zu bitten. Oder vielleicht hat auch meine Mutter meinen Onkel belogen, als sie sagte, sie würde mich um Geld bitten. Oder vielleicht hat mein Vater ihre Anrufe bei ihm erfunden. Aber das ist höchst unwahrscheinlich«, erklärte er mit großer Bestimmtheit.
»Warum halten Sie das für so unwahrscheinlich?«
»Weil mein Vater selbst ein Zusammentreffen zwischen meiner Mutter und mir wünschte. Er dachte, sie könnte mir helfen.«
»Wobei?«
»Meine Schwierigkeiten zu überwinden. Er dachte, sie könnte -« An dieser Stelle richtete Davies den Blick wieder ins Feuer. Er hatte alle Sicherheit, die er einen Moment zuvor noch gezeigt hatte, verloren. Seine Beine zitterten. Den Blick unverwandt in die Flammen gerichtet, sagte er: »Aber ich glaube nicht, dass sie mir hätte helfen können. Ich glaube nicht, dass mir überhaupt geholfen werden kann. Trotzdem war ich bereit, es zu versuchen. Vor ihrem Tod. Ich war bereit, alles zu versuchen.«
Ein Künstler, dachte Lynley, den eine tiefe Angst an der Ausübung seiner Kunst hinderte. Er hatte vermutlich nach einer Art Talisman gesucht. Er hatte glauben wollen, dass seine Mutter die Zauberkraft besaß, die ihm helfen würde, wieder zu seinem Instrument zu finden. Um sich zu vergewissern, sagte Lynley: »Wie, Mr. Davies?«
»Bitte?«
»Wie hätte Ihre Mutter Ihnen helfen können?«
»Indem sie meinen Vater bestätigt hätte.«
»Bestätigt? Worin?«
Davies dachte über die Frage nach, und als er antwortete, verriet er Lynley, welch ein Unterschied zwischen seinem tatsächlichen beruflichen Leben bestand und dem, was der Öffentlichkeit präsentiert wurde.
»Indem sie bestätigt hätte, dass mir nichts fehlt; nur dass mir meine Nerven Streiche spielten. Das wollte mein Vater von ihr. Er brauchte unbedingt ihre Bestätigung, verstehen Sie. Alles andere ist undenkbar. Unaussprechlich wäre normal in meiner Familie. Aber undenkbar… ? Das wäre viel zu anstrengend.« Er lachte schwach, keine Erheiterung im Ton, nur Bitterkeit. »Aber ich hätte einem Zusammentreffen zugestimmt. Und ich hätte versucht, ihr zu glauben.«
Er hätte also allen Grund gehabt, seine Mutter lebend zu wünschen, nicht tot. Vor allem wenn er daran geglaubt hatte, dass sie ihm bei seinen Problemen helfen könnte.
Dennoch sagte Lynley: »Die nächste Frage ist reine Routine, Mr. Davies, ich muss sie stellen: Wo waren Sie vorgestern Abend, als Ihre Mutter getötet wurde? Sagen wir, zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht.«
»Hier«, antwortete Davies. »Im Bett. Allein.«
»Hatten Sie Kontakt mit einem gewissen James Pitchford, seit dieser vor gut zwanzig Jahren das Haus Ihrer Eltern verließ?«
Davies' Verwunderung war nicht gespielt. »Mit James, dem Untermieter? Nein. Warum?« Die Frage schien durchaus aufrichtig.
»Ihre Mutter war auf dem Weg zu seiner Wohnung, als sie getötet wurde.«
»Auf dem Weg zu James? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«
»Nein«, stimmte Lynley zu. »Einen Sinn ergibt es bis jetzt nicht.«
Und es war nicht die einzige ihrer Handlungen, die keinen Sinn ergab. Lynley fragte sich, welche von ihnen zu ihrem Tod geführt hatte.