Zum Abschluss sagte sie: »Und wir wollen doch eines nicht vergessen, Eric. Du warst derjenige, der die Scheidung wollte. Wenn du also nicht damit umgehen kannst, dass ich jetzt mit Jerry zusammen bin, dann tu nicht so, als wäre das Esmés Problem.« Und dabei hatte sie ihn so gottverdammt triumphierend angesehen, mit einem Gesicht, als wollte sie sagen: Tja, da staunst du, was? Ich hab tatsächlich jemanden gefunden, der mich mag. Dass Leach einen Moment lang allen Ernstes seine zwölfjährige Tochter dafür verwünschte, dass sie ihn überhaupt so weit gebracht hatte, dieses Gespräch mit ihrer Mutter zu führen.
»Ich habe ein Recht darauf, neue Bekanntschaften zu machen«, hatte Bridget mit Nachdruck erklärt. »Du selbst hast mir dieses Recht gegeben.«
»Lieber Gott, Bridg«, hatte er gesagt. »Es ist doch nicht so, dass ich eifersüchtig bin. Es geht um Esmé, sie ist völlig aus dem Häuschen, weil sie glaubt, du willst wieder heiraten.«
»Das will ich auch.«
»Gut, meinetwegen. Aber sie meint, du hättest dich bereits für diesen Burschen entschieden und -«
»Und wenn? Gibt es vielleicht etwas dagegen einzuwenden, wenn es mir gut tut, begehrt zu werden? Mit einem Mann zusammen zu sein, den ein nicht mehr ganz so straffer Busen und ein paar Charakterfalten im Gesicht nicht stören? So nennt er sie nämlich, Eric, Charakterfalten.«
»Das ist doch nichts als Schmeichelei.«
»Belehr du mich bitte nicht darüber, was das ist. Sonst werden wir mal diskutieren, was es bei dir ist: Altersschwachsinn, verlängerte Spätpubertät, adoleszentes Irresein - soll ich fortfahren? Nein? Na gut, das dachte ich mir schon.« Und weg war sie.
Sie kehrte in das Zimmer ihrer Grundschulklasse zurück, aus dem Leach sie zehn Minuten zuvor von der Tür aus winkend herausgeholt hatte, nachdem er zuerst pflichtschuldig bei der Direktorin angefragt hatte, ob er bitte Mrs. Leach einen Moment sprechen könne. Die Direktorin hatte gemeint, es sei doch äußerst ungewöhnlich, dass ein Vater während des Unterrichts erscheine, um einen Lehrer zu sprechen; aber als Leach sich daraufhin vorstellte, war sie nicht nur freundlicher geworden, sondern auffallend Anteil nehmend, was Leach als Indiz dafür sah, dass die bevorstehende Scheidung und Bridgets neue Liebesbeziehung in der Schule ein offenes Geheimnis waren. Er hätte gern gesagt: Hey, es juckt mich überhaupt nicht, dass sie einen neuen Kerl hat, aber er war nicht so sicher, ob das wirklich stimmte. Immerhin konnte er angesichts des neuen Kerls ein wenig zurückstecken mit seinen Schuldgefühlen darüber, dass er derjenige war, der gegangen war, und als seine Frau ihm jetzt den Rücken kehrte, versuchte er, ausschließlich daran zu denken.
»Hör mal, Bridg, es tut mir Leid«, sagte er zu seiner sich entfernenden Frau, aber er sagte es nicht sehr laut, und er wusste, dass sie seine Worte nicht hören konnte, und er fragte sich, wofür er sich überhaupt entschuldigte.
Aber er spürte natürlich seinen verletzten Stolz, während er ihr nachblickte. Und darum versuchte er, sein Bedauern darüber, wie sie auseinander gegangen waren, wegzuschieben, und sagte sich, er habe ganz richtig gehandelt. Wenn sie so schnell Ersatz für ihn gefunden hatte, konnte man kaum noch daran zweifeln, dass ihre Ehe schon lange zu Ende gewesen war, als er die Tatsache zum ersten Mal angesprochen hatte.
Und trotzdem konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, dass manche Paare es schafften, beieinander zu bleiben, ganz gleich, was aus ihren Gefühlen füreinander geworden war. Ja, manche Paare behaupteten im Brustton der Überzeugung, sie wollten »unter allen Umständen zusammenwachsen«, wenn in Wirklichkeit nichts weiter sie zusammenhielt als ein Bankkonto, eine Immobilie, gemeinsame Kinder und eine Aversion, die Möbel und den Christbaumschmuck zu teilen. Leach kannte Kollegen, die mit Frauen verheiratet waren, die sie seit Ewigkeiten nicht mehr mochten. Aber der Gedanke daran, womöglich ihre Kinder und ihren Besitz - ganz zu schweigen von der Pension - aufs Spiel zu setzen, hielt sie seit Jahren bei der Stange.
Und damit war Leach in seinen Überlegungen bei Malcolm Webberly angelangt.
Er hatte damals gemerkt, dass etwas im Gange war, an den Telefongesprächen, den hastig gekritzelten Briefchen, die in einen Umschlag geschoben und abgeschickt wurden, an Webberlys häufiger Zerstreutheit bei Gesprächen. Er hatte seinen Verdacht gehabt, aber die Bestätigung hatte er erst sieben Jahre nach dem Fall Davies erhalten, als er sie rein zufällig zusammen sah, bei einem Ausflug, den er mit Bridget und den Kindern zur Regatta in Henley unternommen hatte, weil Curtis, sein Sohn, einen Schulaufsatz zu dem Thema Kultur und Traditionen unserer Heimat schreiben musste - du meine Güte, er erinnerte sich sogar noch wörtlich an den Titel! Ja, da hatte er sie gesehen, die beiden, Arm in Arm auf der Themsebrücke, die nach Henley hineinführte, mitten im Sonnenlicht. Er erkannte sie nicht gleich, er hatte sie nicht mehr in Erinnerung, bemerkte nur, dass sie gut aussah und die beiden offensichtlich ein Liebespaar waren.
Seltsam, dachte Leach jetzt, sich zu erinnern, was er damals beim Anblick Webberlys und seiner Freundin empfunden hatte. Ihm war schlagartig klar geworden, dass sein Vorgesetzter bis zu diesem Moment für ihn nie ein Mensch wie jeder andere gewesen war. Ihm war klar geworden, dass er Webberly etwa so gesehen hatte, wie ein Kind einen weit älteren Erwachsenen sieht. Und die plötzliche Erkenntnis, dass Webberly ein geheimes Leben hatte, traf ihn so heftig, wie es einen Achtjährigen getroffen hätte, seinen Papa mit einer Frau aus der Nachbarschaft im Bett zu überraschen.
Und so sah sie auch aus, die Frau auf der Brücke, irgendwie vertraut, wie jemand aus der Nachbarschaft. Sie schien Leach sogar so vertraut, dass er eine Zeitlang erwartete, ihr in der Dienststelle zu begegnen - vielleicht eine Sekretärin, die ihm noch nicht vorgestellt worden war? - oder sie aus einem der Bürohäuser in der Earl's Court Road kommen zu sehen. Er hatte geglaubt, Webberly hätte sie rein zufällig kennen gelernt, hätte rein zufällig ein Gespräch mit ihr angefangen, gemerkt, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, und sich gesagt: Warum nicht, Male? Was ist denn schon dabei?
Leach konnte sich nicht erinnern, wann oder wie er dahinter gekommen war, dass Webberlys Geliebte Eugenie Davies war. Aber als er es wusste, konnte er den Mund nicht mehr halten. Er musste seiner Entrüstung Luft machen, und er verhielt sich keineswegs wie der kleine Junge, der fürchtet, dass Papa von zu Hause fortgeht, sondern wie ein Erwachsener, der Recht und Unrecht unterscheiden kann. Mein Gott, wie konnte ein Beamter der Mordkommission - sein Partner! - die Grenzen so verletzen? Wie konnte er sich dazu hinreißen lassen, so schamlos die Situation einer Frau auszunützen, die das verletzte und geschundene Opfer tragischer Ereignisse und ihrer Nachwirkungen war… Es war unvorstellbar.
Webberly war immerhin bereit gewesen, sich seine Vorhaltungen anzuhören. Einen Kommentar dazu hatte er erst abgegeben, als Leach das Ende seines Vortrags über Webberlys unprofessionelles Verhalten erreicht hatte. Da hatte er gesagt: »Wofür, zum Teufel, halten Sie mich, Eric? So war es nicht. Das hat nicht während der Ermittlungen angefangen. Ich hatte sie mehrere Jahre nicht gesehen, als wir… Erst als… Es war am Paddington Bahnhof. Ganz zufällig. Wir haben vielleicht zehn Minuten miteinander gesprochen, dann mussten wir zu unseren Zügen. Später… Herrgott noch mal, wieso gebe ich hier eigentlich Erklärungen ab? Wenn Sie der Meinung sind, dass mein Verhalten nicht in Ordnung ist, dann reichen Sie doch Ihre Versetzung ein.«
Aber das hatte er nicht gewollt.
Und warum nicht?, fragte er sich.
Weil Malcolm Webberly einen ganz besonderen Platz in seinem Leben einnahm.
Tja, so bestimmt unsere Vergangenheit unsere Gegenwart, dachte Leach jetzt. Wir merken es gar nicht, aber jedesmal, wenn wir zu einer Schlussfolgerung gelangen, uns ein Urteil bilden oder eine Entscheidung treffen, haben wir die Jahre unseres Lebens im Rücken, die uns ständig beeinflussen, ohne dass wir uns dieses Einflusses, der unsere Persönlichkeit prägt, überhaupt bewusst sind.
Er fuhr nach Hammersmith. Er redete sich ein, er brauchte ein paar Minuten für sich, um sich von der Szene mit Bridget zu erholen, indem er den Wagen kreuz und quer durch die Stadt lenkte, aber immer in südlicher Richtung, bis er nur noch einen Katzensprung vom Charing Cross Hospital entfernt war. Dort beendete er die Fahrt und machte die Intensivstation ausfindig.
Er könne Webberly nicht sehen, teilte ihm die zuständige Schwester mit, als er durch die Schwingtür trat. Nur Angehörige dürften einen Patienten auf der Intensivstation besuchen. Ob er zur Familie gehöre?
O ja, dachte er. Und seit langem schon, wenn er sich das auch niemals wirklich eingestanden und Webberly es nie gemerkt hatte. Aber laut sagte er: »Nein. Nur ein Kollege. Der Superintendent und ich haben lange zusammengearbeitet.«
Die Schwester nickte. Sie machte eine Bemerkung darüber, wie schön es sei, dass so viele Kollegen vorbeigekommen waren, angerufen hatten, Blumen geschickt und sich zum Blutspenden angeboten hatten. »Blutgruppe B«, fügte sie erläuternd hinzu. »Sie sind wohl nicht zufällig…? Oder Null vielleicht, die Universalgruppe, aber das wissen Sie wahrscheinlich.«
»AB negativ.«
»Oh, das kommt sehr selten vor. Könnten wir in diesem Fall nicht gebrauchen, aber Sie sollten regelmäßig spenden, wenn ich das mal sagen darf.«
»Kann ich irgendetwas…?« Er wies mit einer Kopfbewegung zu den Zimmern.
»Seine Tochter ist bei ihm. Und sein Schwager. Im Moment kann man gar nichts tun .«
»Hängt er immer noch an den Geräten?«
Sie machte eine bedauernde Miene. »Es tut mir wirklich Leid, aber ich darf keine nähere Auskunft… Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür. Aber wenn ich fragen darf - beten Sie?«
»Nicht regelmäßig.«
»Es hilft manchmal.«
Doch Leach meinte, er könne Nützlicheres tun als beten. Zum Beispiel, das Ermittlungsteam auf Trab bringen, um wenigstens bei der Suche nach dem Schwein, das Malcolm das angetan hatte, Fortschritte zu machen.
Gerade wollte er sich von der Schwester verabschieden, als eine junge Frau im Jogginganzug und mit offenen Turnschuhen aus einem der Zimmer trat. Die Schwester rief sie heran und sagte:
»Der Herr hier hat sich nach Ihrem Vater erkundigt.«
Leach hatte Miranda Webberly zuletzt als Kind gesehen. Sie war ihrem Vater sehr ähnlich geworden: der gleiche stämmige Wuchs, das gleiche rostrote Haar, der gleiche gesunde Teint, selbst das Lächeln, das an den Augenwinkeln Fältchen hervorrief und ein Grübchen in der linken Wange, war das Gleiche. Sie wirkte auf ihn wie eine junge Frau, die von modischem Firlefanz nichts hielt, und das gefiel ihm.
Sie sprach mit leiser Stimme von ihrem Vater: dass er das Bewusstein nicht wiedererlangt hatte, dass es heute »eine ziemlich schlimme Krise mit seinem Herzen« gegeben, sich sein Zustand aber nun, Gott sei Dank, stabilisiert hatte, dass die Blutsenkung - »Ich glaube, es waren die weißen Blutkörperchen, oder? Aber vielleicht waren es auch die anderen.« - auf eine innere Blutung hinwies, die bald gefunden werden musste, weil sonst die Transfusionen, die er erhielt, umsonst wären.
»Es heißt, dass man sogar im Koma noch hören kann, darum habe ich ihm vorgelesen«, berichtete Miranda. »Ich habe natürlich in Cambridge nicht daran gedacht, etwas mitzunehmen, aber Onkel David ist losgegangen und hat ein Segelbuch gekauft, ich glaube, er hat das Erstbeste genommen, das ihm in die Hände fiel. Es ist leider furchtbar langweilig, wahrscheinlich falle ich selbst ins Koma, wenn ich da noch lange weiterlese. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass mein Vater vor lauter Spannung aus der Bewusstlosigkeit erwachen wird. Er liegt allerdings hauptsächlich im Koma, weil sie es so wollen. Zumindest haben sie mir das erklärt.«
Ihr schien viel daran zu liegen, Leach das Gefühl zu vermitteln, dass er willkommen war, dass sein klägliches Bemühen, zu helfen, dankbar gewürdigt wurde. Sie sah erschöpft aus, aber sie war ruhig und schien nicht zu erwarten, dass irgendein anderer sie aus der Situation, in die sie hineingeworfen worden war, retten würde. Auch das gefiel ihm.
»Kann nicht jemand Sie hier ablösen?«, fragte er. »Damit Sie wenigstens mal nach Hause fahren und sich ein Stündchen hinlegen können.«
»Doch, natürlich«, versicherte sie und kramte aus einer Tasche ihres Jogginganzugs ein Gummiband, mit dem sie ihr kräftiges, krauses Haar bändigte. »Aber ich möchte hier bleiben. Er ist mein Vater, und… Er kann mich hören, verstehen Sie. Er weiß, dass ich da bin. Und wenn das ihm hilft… Ich meine, es ist doch wichtig, dass jemand, der so etwas durchmacht, weiß, dass er nicht allein ist, finden Sie nicht auch?«
Woraus zu schließen war, dass Malcolms Frau nicht hier war.
Und das wiederum erlaubte gewisse Rückschlüsse darauf, wie das Leben im Hause Webberly sich seit Malcolms Entscheidung, Frances nicht zu verlassen, gestaltet hatte.
Ein einziges Mal hatten sie darüber gesprochen, Leach selbst hatte damals das Thema zur Sprache gebracht. Er konnte sich jetzt nicht mehr erinnern, warum er geglaubt hatte, er müsse einen Vorstoß in einen so persönlichen Bereich im Leben eines Kollegen machen, aber irgendetwas - eine eigenartige Bemerkung? ein Telefongespräch voll unterschwelliger Feindseligkeit vom Webberlys Seite? eine Festlichkeit oder Feier, zu der Malcolm wieder einmal allein erschienen war? - hatte Leach veranlasst zu sagen: »Es ist mir schleierhaft, wie Sie der einen Frau den Geliebtem vorspielen und der anderen der Geliebte sein können. Sie könnten Frances doch verlassen, Male. Was hält Sie denn noch?«
Webberly hatte ihm keine Antwort gegeben. Tagelang nicht. Leach hatte schon geglaubt, er würde nie mehr eine bekommen, bis er eines Abends zwei Wochen später Webberly nach Hause gefahren hatte, weil dessen Wagen in der Werkstatt war. Es war halb neun Uhr, und sie war schon im Schlafanzug, als sie zur Tür gelaufen kam und freudestrahlend »Daddy! Daddy!« rufend durch den Vorgarten rannte und sich ihrem Vater in die Arme warf. Webberly drückte sein Gesicht in ihr krauses Haar und prustete ihr Küsse auf den Hals, die entzücktes Gekicher hervorriefen.
»Das ist meine Randie«, hatte Webberly gesagt. »Das ist es, was mich hält.«
Jetzt sagte Leach zu Miranda: »Ihre Mutter ist nicht hier? Sie ist wohl nach Hause gefahren, um sich ein bisschen auszuruhen?«
Sie erwiderte: »Ich werde ihr erzählen, dass Sie hier waren, Inspector. Ich weiß, das wird sie sehr freuen. Alle sind so - nehmen großen Anteil. Ja, wirklich.« Dann gab sie ihm die Hand und sagte, sie wolle jetzt zurück zu ihrem Vater.
»Wenn ich irgendetwas tun kann…?«
»Sie haben es schon getan«, versicherte sie.
Aber das Gefühl hatte Leach überhaupt nicht, als er zur Dienststelle in Hampstead zurück fuhr. Und dort angekommen, lief er rastlos im Besprechungszimmer hin und her, während er einen Bericht nach dem anderen durchsah, obwohl er die meisten bereits gelesen hatte.
Zu der Beamtin am Computer sagte er: »Was hören wir aus Swansea?«
Sie schüttelte den Kopf. »Die Autos der Verdächtigen sind alle relativ neu, Sir. Keines ist mehr als zehn Jahre alt.«
»Und wem gehört der älteste Wagen?«
Sie sah auf einer Liste nach. »Robson«, antwortete sie. »Raphael. Er fährt einen Renault. Farbe - Augenblick - silbergrau.«
»Verdammt noch mal. Es muss doch eine Spur geben.« Er erwog andere Wege, das Problem anzugehen. Er sagte: »Andere Personen von Bedeutung. Schauen Sie da mal nach.«
»Sir?«, fragte sie.
»Gehen Sie die Berichte durch. Schreiben Sie sämtliche Namen heraus. Ehefrauen, Ehemänner, Freunde, Freundinnen, Teenager, die Auto fahren, jeden, der irgendeine Verbindung zu dieser Geschichte hat und Auto fährt. Jagen Sie die Namen durch den Computer der Zulassungsstelle und finden Sie raus, ob einer von denen ein Fahrzeug hat, das passt.«
»Alle, Sir?«, fragte sie.
»Ich denke, wir sprechen dieselbe Sprache, Vanessa.«
»Natürlich, Sir.«
Gerade wollte sie seufzend an ihre Arbeit zurückkehren, da kam ein junger Constable ins Besprechungszimmer gerannt. Er hieß Solberg, ein Frischling, der seit seinem ersten Tag bei der Mordkommission ganz versessen darauf war, zu zeigen, was er konnte. Er schwenkte ein Bündel Papiere, und sein Gesicht war so rot, als hätte er gerade einen Marathonlauf absolviert.
»Hey, Chef!«, rief er laut. »Schauen Sie sich das mal an. Es ist zehn Tage her, und es ist eine ganz heiße Sache. Echt.«
»Wovon reden Sie überhaupt, Solberg?«, fragte Leach.
»Von einer kleinen Komplikation«, antwortete der Constable.
Nach dem Gespräch mit Yasmin Edwards beschloss Nkata, Katja Wolffs Anwältin auf den Zahn zu fühlen. »Sie haben bekommen, was Sie wollen, Constable. Jetzt verschwinden Sie gefälligst«, hatte Yasmin gesagt, nachdem sie abgewartet hatte, bis er 12 Uhr 41 nachts in sein Buch eingetragen hatte. Sie hatte es abgelehnt, Mutmaßungen darüber anzustellen, wo ihre Freundin an dem Abend von Eugenie Davies' Tod gewesen war. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, ihr ein wenig die Hölle heiß zu machen - Sie haben schon einmal gelogen, Madam, wer sagt mir, dass Sie nicht wieder lügen. Wissen Sie, was mit Strafgefangenen passiert, die sich der Beihilfe zum Mord schuldig machen?-, aber er hatte es nicht getan. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, da er beobachtet hatte, was während des Gesprächs in ihrem Gesicht vorgegangen war, und daraus ziemlich genau hatte schließen können, was es sie kostete, ihm das Wenige zu sagen, was sie bereits gesagt hatte. Trotzdem konnte er nicht umhin, zu überlegen, was geschehen würde, wenn er sie nach dem Grund fragte - warum sie ihre Freundin verriet, und was es zu bedeuten hatte, dass sie sie verriet? Aber das war nicht seine Sache. Das durfte nicht seine Sache sein, weil er Polizist war und sie eine ehemalige Strafgefangene. So war das nun mal.
Er hatte also sein Buch zugeklappt. Er hatte die Absicht gehabt, mit einem kurzen, pointierten: »Bravo, Mrs. Edwards, Sie haben das Richtige getan«, ohne weiteren Aufenthalt aus dem Laden zu marschieren. Aber es kam ganz anders. Er sagte: »Ist alles in Ordnung, Mrs. Edwards?«, und war erschrocken über die Zärtlichkeit, die er für sie empfand. Zärtlichkeit für eine solche Frau in einer solchen Situation, das war ja echt das Letzte. Und als sie schroff erwiderte: »Hauen Sie einfach ab«, war er klug genug, der Aufforderung zu folgen.
Im Auto holte er die Karte aus seiner Brieftasche, die Katja Wolff ihm am Morgen gegeben hatte, nahm den Stadtplan aus dem Handschuhfach und suchte die Straße, in der Harriet Lewis ihre Kanzlei hatte. Wie der unerfreuliche Zufall es wollte, war die Kanzlei in Kentish Town, auf der anderen Seite der Themse, und das bedeutete eine weitere Expedition quer durch London. Aber die umständliche Fahrt hatte auch ihr Gutes. Sie ließ ihm Zeit, darüber nachzudenken, wie er von der Anwältin am ehesten erfahren würde, was er wissen wollte. Er brauchte einen guten Plan, denn wenn Harriet Lewis ihre Kanzlei in so unmittelbarer Nähe des Holloway- Frauengefängnisses hatte, konnte man damit rechnen, dass zu ihren Mandanten mehr als eine Knastschwester gehörte, und das wiederum hieß, dass sie sich nicht so leicht austricksen lassen würde.
Als er endlich seinen Bestimmungsort erreicht hatte und seinen Wagen am Bordstein anhielt, stellte er fest, dass Harriet Lewis sich in einem bescheidenen Büro zwischen einem Zeitungsladen und einem Lebensmittelgeschäft, das auf der Straße nicht mehr ganz taufrischen Broccoli und Blumenkohl anbot, niedergelassen hatte. Die Haustür stand in schrägem Winkel zur Straße und grenzte direkt an die Tür zum Zeitungsladen. Auf der oben eingelassenen Scheibe aus durchsichtigem Glas stand nur Anwaltskanzlei.
Drinnen führte eine mit fadenscheinigem roten Teppich bespannte Treppe zu einem kleinen Vorplatz mit zwei gegenüberliegenden Türen hinauf. Eine stand offen. Dahinter befand sich ein leerer Raum mit staubigem Holzdielenboden. Die andere Tür war geschlossen und durch eine Visitenkarte gekennzeichnet, die mit einer Reißzwecke befestigt war. Nkata sah sich die Karte an: die Gleiche, die Katja Wolff ihm gegeben hatte. Mit dem Fingernagel hob er sie an und warf einen Blick darunter. Es gab keine zweite. Nkata lächelte. Das war doch ein guter Einstieg.
Er trat ohne anzuklopfen ein und gelangte in einen Empfangsraum, wie er ihn in diesem Viertel, in dieser Umgebung, angesichts der Räume gegenüber überhaupt nicht erwartet hätte. Ein Perserteppich bedeckte zum größten Teil den gewachsten Holzboden, und auf ihm gruppierten sich ein Empfangstresen, Sofa, Sessel und Tische strengsten modernen Designs. Alles Holz und Leder und vorwiegend scharfe Ecken und Kanten. Eigentlich hätten sie sich nicht nur mit dem Teppich, sondern auch mit der altmodischen Sockeltäfelung und der Tapete beißen müssen, stattdessen drückte diese Einrichtung gerade so viel Wagemut aus, wie man ihn sich bei einem Anwalt wünscht.
»Ja, bitte?«, fragte die Frau mittleren Alters, die an einem Schreibtisch mit Bildschirm und Tastatur saß und, nach den kleinen Stöpseln in ihren Ohren zu urteilen, gerade nach Diktat schrieb. Sie trug korrektes Marineblau mit Creme, einen adretten Kurzhaarschnitt, der von einer ersten grauen Strähne durchzogen war, und hatte die dunkelsten Augenbrauen, die man sich vorstellen konnte. Und den feindseligsten Blick, den Nkata, der die argwöhnischen Blicke weißer Frauen gewöhnt war, je hatte aushalten müssen.
Er zeigte ihr seinen Ausweis und bat um ein Gespräch mit der Anwältin. Einen Termin habe er nicht, teilte er der Frau mit, bevor sie danach fragen konnte, aber Mrs. Lewis werde sicherlich .
»Miss Lewis«, verbesserte ihn die Empfangsdame und entfernte ihre Ohrstöpsel.
… bereit sein, ihn zu empfangen, wenn sie hörte, dass er wegen Katja Wolff hier sei. Er legte seine Karte auf den Tisch und fügte hinzu: »Geben Sie ihr die bitte. Und sagen Sie ihr, dass wir heute Morgen miteinander telefoniert haben. Ich denke, sie wird sich erinnern.«
Die Empfangssekretärin wartete demonstrativ, bis Nkata seine Finger von der Karte genommen hatte, ehe sie sie ergriff.
»Bitte warten Sie hier«, sagte sie und stand auf, um nach nebenan zu gehen. Vielleicht zwei Minuten später kehrte sie zurück und setzte den Kopfhörer wieder auf. Ohne einen Blick in Nkatas Richtung, begann sie wieder zu tippen, und ihm wäre vielleicht die Galle hochgekommen, hätte er nicht früh im Leben gelernt, das Verhalten weißer Frauen als das zu erkennen, was es im Allgemeinen war: plump und dumm.
Er sah sich also die Bilder an den Wänden an - alte Schwarzweiß-Aufnahmen von Frauenköpfen, die ihn an Zeiten erinnerten, als das britische Empire noch rund um den Globus reichte -, und als er damit fertig war, nahm er eine Ausgabe der amerikanischen Zeitschrift Ms. zur Hand und vertiefte sich in einen Artikel über Alternativen zur Totaloperation, von einer Autorin, die einen gigantischen Komplex zu haben schien.
Er setzte sich nicht, und als die Empfangssekretärin mit bedeutungsvoller Betonung sagte: »Es wird eine Weile dauern, Constable, da Sie ja nicht angemeldet waren«, entgegnete er: »Ja, so ist das mit Morden, nicht? Die melden sich nie an.« Und er lehnte sich mit einer Schulter an die helle gestreifte Tapete und schlug mit der flachen Hand dagegen, wobei er sagte: »Echt schön, das Muster. Hat es einen Namen?«
Er bemerkte genau, wie die Frau auf der Suche nach Fettflecken mit Argusaugen die Stelle musterte, die er berührt hatte. Sie gab ihm keine Antwort. Er nickte ihr freundlich zu, öffnete seine Zeitschrift wieder und lehnte seinen Kopf an die Tapete.
»Wir haben ein Sofa, Constable«, sagte die Empfangssekretärin.
»Ich hab schon den ganzen Tag gesessen«, gab er zurück und fügte dann mit einer Grimasse hinzu: »Hämorrhoiden, wissen Sie.«
Das wirkte. Sie stand auf, verschwand im Zimmer nebenan und kam innerhalb einer Minute zurück. Sie trug ein Tablett mit den Resten des Nachmittagstees und sagte, er könne jetzt hineingehen.
Nkata lächelte vor sich hin.
Harriet Lewis, ganz in Schwarz wie am vergangenen Abend, stand hinter ihrem Schreibtisch, als er in ihr Büro trat. Sie sagte:
»Wir haben uns bereits unterhalten, Constable. MUSS ich einen Kollegen anrufen?«
»Wieso? Haben Sie das nötig?«, fragte Nkata. »Eine Frau wie Sie hat doch bestimmt keine Angst, für sich selbst einzustehen.« »Eine Frau wie ich«, äffte sie ihn nach, »ist nicht naiv. Ich sage meinen Mandanten den ganzen Tag nichts anderes, als dass sie in Anwesenheit der Polizei den Mund halten sollen. Ich wäre ja wohl ziemlich dumm, würde ich nicht meinen eigenen Rat beherzigen.«
»Noch dümmer wären Sie, wenn Sie es so weit kommen ließen, dass sie eine Klage wegen Behinderung polizeilicher Ermittlungen an den Hals kriegten.«
»Sie haben ja noch nicht einmal jemanden festgenommen. Da bekämen Sie keinen Fuß auf den Boden.«
»Es ist noch nicht aller Tage Abend.«
»Drohen Sie mir nicht.«
»Dann machen Sie doch Ihren Anruf«, sagte Nkata und schlenderte zu der Sitzgruppe auf der anderen Seite des Raums. »Ah«, sagte er, als er sich setzte. »Puh! Tut gut, mal wieder die Beine auszuruhen.« Mit einer Kopfbewegung wies er zu ihrem Telefon.
»Bitte. Tun Sie sich keinen Zwang an. Ich kann warten. Meine Mutter ist eine Top-Köchin, die hält mir mein Essen schon warm.«
»Was soll das alles, Constable? Wir haben bereits miteinander gesprochen, und ich habe dem, was ich Ihnen gesagt habe, nichts hinzuzufügen.«
»Eine Partnerin haben Sie nicht, wie ich eben festgestellt habe«, sagte er. »Oder ist sie vielleicht unter Ihrem Schreibtisch versteckt?«
»Ich kann mich nicht erinnern, gesagt zu haben, ich hätte eine Partnerin. Das ist eine reine Vermutung von Ihnen.«
»Die auf Katja Wolffs Lüge basiert. Galveston Road Nummer fünfundfünfzig, Miss Lewis. Wäre das ein Thema für Sie? Dort soll übrigens Ihre Partnerin ihren Wohnsitz haben.«
»Die Beziehung zu meiner Mandantin ist vertraulich.«
»Natürlich. Sie haben also dort eine Mandantin?«
»Das sagte ich nicht.«
Die Ellbogen auf die Knie gestützt, beugte Nkata sich vor.
»Dann hören Sie mir jetzt mal gut zu«, sagte er und sah auf seine Uhr. »Vor genau siebenundsiebzig Minuten hat Katja Wolff ihr Alibi für einen Unfall mit Fahrerflucht in West Hampstead verloren. Haben Sie das verstanden? Und durch den Verlust dieses Alibis rückt sie auf der Liste der Verdächtigen ganz nach oben. Es ist meine Erfahrung, dass einem die Leute bei Mord nur dann ein falsches Alibi auftischen, wenn sie einen guten Grund haben. Und in dem Fall schaut's so aus, als hätte sie einen guten Grund dazu gehabt. Die Frau, die getötet wurde -«
»Ich weiß, wer getötet wurde«, fiel ihm die Anwältin gereizt ins Wort.
»Ach ja? Gut. Dann wissen Sie vielleicht, dass Ihre Mandantin mit dieser Person möglicherweise noch eine Rechnung offen hatte.«
»Die Vorstellung ist absurd. Meine Mandantin hatte nichts gegen die Frau. Im Gegenteil.«
»Katja Wolff hätte also gewollt, dass Eugenie Davies am Leben bleibt? Wieso denn das, Miss Lewis?«
»Das ist vertraulich.«
»Na, bravo! Dann fügen Sie doch dem Schatz Ihrer vertraulichen Informationen noch folgendes hinzu: Gestern Abend gab es in Hammersmith einen zweiten Autounfall mit Fahrerflucht. Gegen Mitternacht. Es traf den Beamten, der damals Katja Wolff ins Gefängnis gebracht hat. Er ist am Leben, aber sein Leben hängt am seidenen Faden. Und Sie wissen doch sicher, wie die Polizisten zu einem Verdächtigen stehen, wenn's einen der Ihren trifft.«
Diese Neuigkeit schien Harriet Lewis doch ein wenig zu erschüttern. Sie setzte sich eine Spur aufrechter hin und sagte:
»Katja Wolff hat mit alledem nichts zu tun.«
»Das zu sagen, werden Sie bezahlt. Und das zu glauben, auch. Das würde wahrscheinlich auch Ihre Partnerin sagen und glauben, wenn Sie eine hätten.«
»Hören Sie endlich auf, darauf herumzureiten. Sie wissen doch so gut wie ich, dass ich für eine falsche Information, die Sie in meiner Abwesenheit von einer Mandantin erhalten haben, nicht verantwortlich bin.«
»Stimmt. Aber jetzt sind Sie anwesend. Und jetzt, wo klar ist, dass Sie keine Partnerin haben, müssen wir vielleicht mal darüber reden, warum mir weisgemacht wurde, Sie hätten eine.«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Ach nein?« Nkata zog Notizbuch und Stift heraus und klopfte, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, mit dem Stift auf den Ledereinband des Buchs. »Für mich schaut das folgendermaßen aus: Sie sind Katja Wolffs Anwältin, aber Sie sind für sie auch noch was anderes, was Pikanteres, etwas, das in Ihrem Geschäft nicht so ganz koscher ist. Also -«
»Das ist wirklich unerhört!«
»Also, wenn das raus kommt, sehen Sie schlecht aus, Miss Lewis. Bei Ihnen gibt's schließlich ein Berufsethos, und eine Anwältin, die mit ihrer Klientin rumturtelt, passt da nicht rein. Es schaut sogar ganz danach aus, als wäre das überhaupt der Grund, weshalb Sie sich so rührend um Strafgefangene kümmern: Die kommen zu Ihnen, wenn sie ganz tief unten sind, und da haben Sie freie Bahn, um sie in die Kiste zu kriegen.«
»Das ist eine Frechheit.« Harriet Lewis kam hinter ihrem Schreibtisch hervor. Sie ging mit schnellen Schritten durch das Zimmer und stellte sich hinter einen der Sessel der Sitzgruppe. Die Hände fest auf seiner Rückenlehne, sagte sie: »Verlassen Sie sofort mein Büro, Constable.«
»Spielen wir's doch mal durch«, sagte er ruhig und vernünftig und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Denken wir einfach mal laut nach.«
»Leute Ihres Schlags können das ja nicht einmal leise.«
Nkata lächelte. Er schrieb sich einen Punkt gut. »Dann hören Sie mir trotzdem einen Moment zu, okay?«
»Ich habe keine Lust, mich weiter mit Ihnen zu unterhalten. Gehen Sie jetzt bitte, sonst werde ich mich bei Ihrer Behörde beschweren.«
»Worüber wollen Sie sich denn beschweren? Was meinen Sie, wie das aussieht, wenn rauskommt, dass Sie nicht mal mit einem einzelnen Bullen fertig geworden sind, der wegen einer Mörderin bei Ihnen war. Und nicht etwa wegen irgendeiner x-beliebigen Mörderin, Miss Lewis. Wegen einer Kindsmörderin, die zwanzig Jahre gesessen hat!«
Darauf gab die Anwältin keine Antwort.
Nkata ließ nicht locker. Mit einem Nicken zu Harriet Lewis' Schreibtisch sagte er: »Dann rufen Sie doch jetzt bei der Beschwerdestelle an und melden Sie mich wegen gemeiner Schikane oder was Ihnen sonst so einfällt. Aber passen Sie auf, wer am Ende dumm dasteht, wenn die Story in die Zeitungen kommt.«
»Das ist Nötigung!« »Unsinn! Ich mache Sie auf die Fakten aufmerksam. Sie können mit ihnen anfangen, was Sie wollen. Mir geht es um die Wahrheit über die Galveston Road. Sagen Sie mir die, und ich bin weg.«
»Fahren Sie doch selbst hin.«
»Hab ich schon einmal getan. Ohne Munition kein zweites Mal.«
»Die Galveston Road hat überhaupt nichts -«
»Ach, Miss Lewis, versuchen Sie doch nicht, mich für dumm zu verkaufen.« Wieder wies Nkata zu ihrem Telefon. »Na, wollen Sie nicht die Beschwerdestelle anrufen?«
Harriet Lewis seufzte. Sie schien über ihre Möglichkeiten nachzudenken. Dann kam sie um den Sessel herum und setzte sich.
»In diesem Haus lebt Katja Wolffs Alibi, Constable«, sagte sie endlich. »Eine Frau namens Noreen McKay. Sie ist nicht bereit, sich zu melden und Katja zu entlasten. Wir waren gestern Abend bei ihr, um das mit ihr zu besprechen. Wir hatten keinen Erfolg. Und ich fürchte, daran wird sich auch nichts ändern.«
»Wie kommt das?«, fragte Nkata.
Harriet Lewis strich glättend über ihren Rock. Sie spielte an einem Fädchen, das sie an einem Knopf ihrer Jacke entdeckt hatte. »Ich vermute, Sie würden es Berufsethos nennen«, antwortete sie schließlich.
»Es handelt sich um eine Rechtsanwältin?«
Harriet Lewis stand auf. »Ich muss Katja Wolff anrufen und sie um die Genehmigung bitten, diese Frage zu beantworten«, sagte sie.
Libby Neal ging schnurstracks zum Kühlschrank, als sie aus South Kensington nach Hause kam. Sie hatte eine Wahnsinnsgier auf was Weißes und fand, es stünde ihr zu, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Sie hatte für solche Notfälle immer einen großen Becher Häagen-Dasz- Vanilleeis im Tiefkühlschrank. Den holte sie jetzt heraus, schnappte sich aus der Besteckschublade einen Löffel und schob mit einiger Mühe den Deckel des Bechers hoch. Sie schlang ungefähr ein Dutzend Löffel voll in sich hinein, ehe sie wieder denken konnte.
Aber selbst dann dachte sie nur, ich brauch noch was Weißes, und wühlte im Müll unter der Küchenspüle, bis sie den Beutel mit dem Rest Käsepopcorn fand, den sie am Vortag in einer Anwandlung von Selbstverachtung weggeworfen hatte. Sie hockte sich auf den Boden und stopfte sich das restliche Popcorn in den Mund, ehe sie sich erneut auf die Suche begab. Diesmal musste das Päckchen Weizenmehltortillas daran glauben, das sie seit langem als eine Art Herausforderung an ihre Willenskraft herumliegen hatte. Allerdings waren die Tortillas inzwischen nicht mehr weiß, sondern stellenweise schimmelig. Aber der Schimmel ließ sich ja leicht entfernen, und wenn sie versehentlich welchen schluckte, war das bestimmt auch nicht weiter schlimm. Man denke nur an Penizillin.
Sie schälte ein Stück Wensleydale aus seiner Zellophanverpackung und schnitt ein paar Scheiben für eine Quesadilla auf. Dann legte sie die Käsescheiben auf die Tortilla, gab eine zweite darauf und warf das Ganze in eine Bratpfanne. Als der Käse geschmolzen und die Tortilla angebräunt war, nahm sie sie heraus, rollte sie zu einer Röhre und hockte sich damit wieder auf den Küchenboden, wo sie sich so gierig wie eine Verhungernde über den Leckerbissen hermachte.
Sie blieb auf dem Boden sitzen, als die Quesadilla vertilgt war, und lehnte den Kopf an einen der Küchenschränke. Das, sagte sie sich, hatte sie gebraucht. Was passiert war, war doch einfach zu gruselig, und wenn alles zu gruselig wurde, musste man dafür sorgen, dass der Blutzuckerspiegel hoch blieb. Man konnte ja nie wissen, wann Action angesagt war.
Gideon hatte sie nicht zum Wagen begleitet. Er hatte sie nur zur Wohnungstür gebracht. Auf dem Weg durch den Flur hatte sie gefragt: »Macht dir das echt nichts aus, Gid? Ich meine, es kann doch für dich nicht gerade lustig sein, hier zu warten. Warum fährst du nicht einfach mit mir nach Hause? Wir können deinem Dad einen Zettel hinlegen, und wenn er heimkommt, kann er dich anrufen, und wir können wieder hierher fahren.«
»Ich warte hier«, hatte er gesagt, die Tür aufgemacht und hinter ihr geschlossen, ohne sie auch nur einmal anzusehen.
Was hatte das zu bedeuten, dass er unbedingt auf seinen Vater warten wollte? Würde es jetzt zur großen Abrechnung zwischen den beiden kommen? Sie hoffte es von Herzen. Denn die große Abrechnung zwischen Vater und Sohn war seit Ewigkeiten fällig.
Sie versuchte, es sich vorzustellen, eine heftige Auseinandersetzung, heraufbeschworen durch Gideons Entdeckung, dass er noch eine Schwester gehabt hatte, eine zweite Schwester, von deren Existenz er nie erfahren hatte. Er würde die Karte ergreifen, die Virginias Mutter an Richard geschrieben hatte, und sie seinem Vater zornig vor die Nase halten. »Los«, würde er sagen, »erzähl mir von ihr, du Mistkerl. Erklär mir, warum ich sie nie kennenlernen durfte.«
Denn das schien der springende Punkt zu sein, der Ursprung von Gideons Wut, als er die Karte gelesen hatte: dass sein Vater ihm diese Schwester verheimlicht hatte, obwohl sie immer dagewesen war.
Und warum?, dachte Libby. Warum hatte es Richard darauf angelegt, Gideon von seiner noch lebenden Schwester fern zu halten? Aus dem gleichen Grund, aus dem er alles andere tat: um Gideon auf die Geige zurückzuverweisen, und einzig auf die Geige.
Nein, nein, nein. Keine Freunde, Gideon. Keine Partys. Kein Sport. Keine öffentliche Schule. Du musst üben, spielen, auftreten, Geld ranschaffen. Und das kannst du nicht, wenn du andere Interessen neben deinem Instrument hast. Wie beispielsweise eine Schwester.
Mein Gott, dachte Libby. Was für ein gemeiner Kerl. Er hatte Gideons Leben total verkorkst.
Wie, versuchte sie sich vorzustellen, hätte dieses Leben sich entfaltet, wenn Gideon es nicht ausschließlich mit seiner Musik zugebracht hätte? Er wäre zur Schule gegangen wie ein ganz gewöhnlicher kleiner Junge. Er hätte Sport getrieben, Fußball gespielt vielleicht. Er wäre Fahrrad gefahren, auf Bäume geklettert, wäre vielleicht auch mal runtergefallen und hätte sich was gebrochen. Er wäre abends mit seinen Freunden auf ein Bier gegangen, und er hätte sich mit Mädchen getroffen und versucht, ihnen an die Wäsche zu gehen, und wäre ganz normal gewesen. Nie wäre er so geworden, wie er jetzt war.
Gideon verdiente das Gleiche, was andere hatten und für selbstverständlich hielten, sagte sich Libby. Er verdiente Freunde. Er verdiente eine Familie. Er verdiente ein eigenes Leben. Aber das alles würde er nicht bekommen, solange er unter Richards Fuchtel stand und niemand bereit war, etwas zu unternehmen, um die Beziehung zwischen Gideon und seinem beschissenen Vater zu verändern.
Libby fuhr in die Höhe. Sie merkte, dass sie auf einmal ganz kribbelig war. Sie lehnte den Kopf gegen den Küchenschrank, um hinauf auf den Tisch sehen zu können. Dort hatte sie Gideons Schlüssel hingeworfen, als sie, ihrer Gier nach einem weißen Nahrungsmittel nachgebend, zum Kühlschrank gestürzt war, und es schien ihr jetzt wie eine Vorsehung zu sein, dass sie die Schlüssel hatte, ein Zeichen Gottes, das gesandt worden war, Gideons Leben zu verändern.
Sie stand auf, trat an den Tisch und nahm die Schlüssel, ehe sie es sich wieder anders überlegen konnte. Dann verließ sie die Wohnung.