10

Rhapsody konnte sich nicht erinnern, jemals so gut geschlafen zu haben wie in den Armen der Drachin. Stundenlang lag sie in traumlosem Schlummer, ungestört von Albträumen oder der Notwendigkeit, Wache zu halten, und erwachte schließlich erfrischt und glücklich. Als sie das Gesicht der schlafenden Drachin dicht neben sich sah, setzte ihr Herz ein paar Schläge aus, aber dann wurde ihr Blick unwiderstehlich auf die eigene Brust gelenkt:

Glänzende Kupferschuppen bedeckten ihre Körpermitte und schimmerten im Halblicht der Höhle. Vorsichtig hielt Rhapsody das Gebilde hoch: Es war ein Kettenhemd, federleicht und aus tausenden kunstvoll miteinander verbundenen Drachenschuppen gearbeitet. In ihren Händen glitzerte und funkelte es.

»Es gehört dir, Hübsche«, sagte Elynsynos, ohne die Augen zu öffnen. »Ich habe es letzte Nacht für dich gemacht, während du schliefst. Probier es an.«

Rhapsody stand auf, nestelte an ihrem Umhang und legte ihn dann ab. Langsam ließ sie den schimmernden Panzer über ihren Kopf gleiten und zog ihn an sich herunter wie eine Weste. Er passte wie angegossen. Sie hatte Legenden über die Genauigkeit der Drachensinne gehört; jetzt wusste sie, dass der Ruf mehr als angemessen war. Ihr Haar schimmerte im Licht, das die Schuppen reflektierten, rötlich golden.

»Ich danke dir«, sagte sie, gerührt von der Aufmerksamkeit, die Elynsynos ihr schenkte. Aber da war noch etwas anderes. Als sie eingewilligt hatte zu bleiben, hatte sie gefürchtet, die Drachin würde sie nicht wieder gehen lassen, doch diese Furcht war inzwischen verflogen. Das Geschenk war ein Beweis dafür, dass Elynsynos fest davon ausging, Rhapsody werde wieder in die Welt zurückkehren. Sie beugte sich über die riesenhafte Wange der Drachenfrau und küsste sie. »Es ist wunderschön. Ich werde immer an dich denken, wenn ich es trage.«

»Dann trage es oft«, meinte Elynsynos und öffnete die Augen. »Es wird dich beschützen, Hübsche.«

»Ganz bestimmt. Aber du hattest mir eine Frage gestellt, und ich war gestern Abend zu müde, um sie zu beantworten. Würdest du sie noch einmal wiederholen?«

»Ich habe gefragt, warum du im Haus der Erinnerungen warst.«

»Ah, ja.« Rhapsody streckte die Arme über den Kopf und genoss das leise Rascheln des Panzers aus Drachenschuppen; dann setzte sie sich wieder auf das umgedrehte Ruderboot.

»Wir haben das Haus der Erinnerungen auf Herzog Stephens Geheiß hin aufgesucht, weil es das älteste noch existierende Gebäude sein soll, das die Cymrer erschaffen haben. Dort stießen wir auf eine Gruppe von Kindern, die als Geiseln festgehalten wurden; im Haus fanden wir Gerätschaften, mit denen man ihnen das Blut abzapfen konnte. Und wir haben mit einem Mann gekämpft, der dunkles Feuer als Waffe gegen uns einsetzte.« Im Halbdunkel der Drachenhöhle wurde ihr Gesicht bleich. »Es war das erste Mal, dass ich jemanden getötet habe.«

Elynsynos schnaubte und schubste Rhapsody spielerisch mit ihrem Schwanz, sodass sie vom Ruderboot rutschte und auf dem Hinterteil im goldenen Sand landete.

»Und du nennst dich eine Sängerin?«, meinte die Drachin scherzend. »Das war die schlechteste Geschichte, die ich seit sieben Jahrhunderten gehört habe. Versuch es noch einmal, aber nimm dir ein wenig Zeit. Einzelheiten, Hübsche, auf die Einzelheiten kommt es an. Ohne Einzelheiten lohnt sich das Anhören einer Geschichte nicht.«

Rhapsody klopfte sich den Sand aus den Kleidern und kletterte zittrig auf das Ruderboot. Als sie wieder zu Atem gekommen war, erzählte sie Elynsynos die Geschichte bis in die kleinste peinigende Einzelheit, angefangen bei Llaurons Vorschlag, mehr über die Cymrer in Haguefort herauszufinden, bis zu dem Nachspiel, als sie die gestohlenen Kinder von Navarne zurückbrachten und Rhapsody Jo adoptierte. Sie brauchte lange, denn obwohl sie alle Einzelheiten erwähnte, unterbrach Elynsynos sie immer wieder, um auch den kleinsten fraglichen Punkt klarzustellen. Als sie geendet hatte, schien die Drachin allerdings zufrieden, streckte sich und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf.

»Wie sah der Mann aus, der euch beim Haus der Erinnerungen angriff?«

»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht«, antwortete Rhapsody. Sie starrte gebannt auf den Teller knuspriger Brötchen und Himbeeren, der erschienen war, als die Drachin sich aufgesetzt hatte. »Ich habe ihn nur blitzschnell vorbeilaufen sehen. Grunthor erging es ebenso. Nur Achmed ist ihm direkt begegnet, und nicht einmal er hat den Mann richtig zu Gesicht bekommen, denn er trug einen gepanzerten Helm.«

»Iss.«

»Danke.« Rhapsody nahm ein Brötchen und brach es in der Mitte durch. »Möchtest du auch etwas?«

»Nein, ich habe erst vor drei Wochen gegessen.«

»Und du bist noch nicht wieder hungrig?«

»Es dauert eine Weile, bis man sechs Hirsche verdaut hat.«

»Oh.« Rhapsody fing an zu essen.

»Es muss der Rakshas gewesen sein, dem ihr begegnet seid.«

Sie blickte in das Gesicht der Drachin auf; Elynsynos betrachtete sie aufmerksam. »Kannst du mir etwas über den Rakshas erzählen?«, fragte Rhapsody. »Wer ist er?«

Die Drachin nickte. »Genau genommen ist der Rakshas ein Es. Das Spielzeug des F’dor.«

Eine Gänsehaut fuhr Rhapsody über den Rücken. »Der Dämon, von dem du mir gestern Abend erzählt hast? Derjenige, dem Anwyn Macht verliehen hat?«

»Ja. Vor zwanzig Jahren schufen die F’dor den Rakshas im Haus der Erinnerungen - eine Schande, denn es war ein wunderschönes Denkmal für die tapferen Cymrer in jener Zeit vor Anwyns Krieg. Und dann hat er es vergiftet, hat es sich zu Eigen gemacht. Der Schössling von Sagia war das Erste, was entweiht wurde. Er war ein Zweigkind der großen Eiche der Tiefen Wurzeln, dem heiligen Baum der Lirin von Serendair, den die Cymrer aus dem alten Land mitgebracht und im Garten des Hauses angepflanzt hatten. Selbst aus so großer Entfernung konnte ich den Baum schreien hören.«

»Während ich dort war, habe ich mich um ihn gekümmert«, sagte Rhapsody und wischte sich mit ihrem Taschentuch die Krümel vom Mund. »Ich habe meine Harfe in ihm zurückgelassen, um das Lied seiner Heilung zu erneuern. Dieses Frühjahr hätte er blühen müssen, nur war ich leider nicht zugegen, um es zu sehen.«

»Aber ich.« Die Drachenfrau lachte leise. »Neben den Blättern war der Baum voll weißer Blüten, wie Sternblumen. Eine nette Idee, Hübsche.«

»Was meinst du damit?«

Wieder lachte die Drachenfrau. »Der Schössling ist eine Eiche. Hast du in deinem Land jemals gehört, dass eine Eiche geblüht hat?«

Rhapsodys Kehle wurde trocken. »Nein.«

»Natürlich blüht eine Eiche, um Eicheln hervorzubringen, aber die Blüten sind im Allgemeinen so klein, dass man sie mit Augen wie den deinen kaum sehen kann. Diese Blüten aber waren gefüllt und weiß und bedeckten den Baum wie Schneeflocken. Hast du dem Baum in deinem Lied gesagt, dass er blühen soll?« Rhapsody nickte. »Nun, ich bin beeindruckt. Es ist mir eine Ehre, eine Benennerin in meiner Höhle empfangen zu dürfen. Wie oft begegnet ein Tier schon jemandem, der einem Eichbaum befehlen kann zu blühen? Nach allem, was der Rakshas getan hat, um den Baum zu zerstören, war er sicherlich fuchsteufelswild oder zumindest sein Herr und Meister war es.«

»Bitte erzähle mir mehr über diesen Rakshas. Du hast gesagt, der Dämon habe ihn erschaffen aber er sah aus wie ein Mann und verhielt sich auch so.«

»Ein Rakshas hat immer das Aussehen der Seele, die ihm Kraft gibt. Er besteht aus Blut, dem Blut des Dämons, und manchmal auch aus dem anderer Kreaturen. Für gewöhnlich sind es unschuldige Wesen oder wilde Tiere. Sein Körper ist aus einem Element wie Eis oder Erde gebildet; ich glaube, derjenige im Haus der Erinnerungen besteht aus gefrorener Erde. Das Blut schenkt ihm Leben und Kraft.«

»Hast du nicht gerade etwas von einer Seele gesagt?«

»Ein Rakshas, der allein aus Blut besteht, ist kurzlebig und geistlos. Aber wenn der Dämon eine Seele besitzt, ganz gleich, ob sie menschlichen Ursprungs ist oder nicht, kann er sich diese einverleiben und nimmt schließlich die Form des Eigentümers der Seele an, wobei dieser natürlich tot ist. Damit verfügt er auch über einen Teil von dessen Wissen und kann all das tun, was dieser zu tun vermochte. Eine entstellte, böse Kreatur, vor der du dich in Acht nehmen musst, Hübsche.«

Rhapsody schauderte. »Und du bist sicher, dass diese Person dieses Ding, mit dem wir gekämpft haben, wirklich der Rakshas war, der, den der F’dor gemacht hat?«

Elynsynos nickte. »Er muss es gewesen sein. Und höre: Er befindet sich ganz hier in der Nähe. Sei vorsichtig, wenn du meine Höhle verlässt.«

Kalte Säure stieg in Rhapsodys Magen auf, und sie legte den Rest des Brötchens weg. »Mach dir keine Sorgen, Elynsynos. Ich habe das Schwert.«

»Welches Schwert, Hübsche?«

»Die Tagessternfanfare. Ich bin sicher, dass du weißt, was es ist.«

Die Drachenfrau blickte sie fragend an. »Hast du es bei dir zu Hause?«

»Nein, ich trage es bei mir«, antwortete Rhapsody mit einem Kopfschütteln. »Soll ich es dir zeigen?«

Die Drachin nickte, und Rhapsody zog das Schwert aus der Scheide. In den Drachenschuppen spiegelten sich die lodernden Flammen und ließen Millionen Regenbogen durch die Dunkelheit der Höhle tanzen. Zu seiner Begrüßung brannten die Flammen in den Kronleuchtern hell auf.

Elynsynos’ Augen wurden groß, und Rhapsody fühlte eine Welle der Bezauberung. Sie versuchte wegzusehen, blieb jedoch gebannt stehen, während die Drachin den Kopf neigte, um das Schwert zu begutachten. Dann strich sie mit der Klaue über die Scheide an Rhapsodys Seite.

»Natürlich«, sagte sie nach kurzem Nachdenken, und ihr Gesicht entspannte sich. »Schwarzes Elfenbein. Kein Wunder, dass ich nichts davon spüren konnte.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, stammelte Rhapsody und versuchte, sich aus ihrer seltsamen Trance zu befreien.

»Schwarzes Elfenbein ist der wirkungsvollste Schutz, den man unter den Tieren kennt«, erklärte Elynsynos. »Eigentlich ist es eine falsche Bezeichnung, denn es ist nicht wirklich Elfenbein, sondern eine Steinart, die dem Lebendigen Gestein stark ähnelt. Man kann sie zu Schachteln oder Scheiden oder sonstigen Behältnissen verarbeiten, und der Gegenstand, den man darin aufbewahrt, wird unaufspürbar, selbst für die Sinne eines Drachen. Das ist gut, Hübsche. Niemand wird wissen, dass du dieses Schwert mit dir führst, es sei denn, du ziehst es aus der Scheide. Wo hast du es gefunden?«

»Es war in der Erde verborgen. Ich habe es auf dem Weg aus dem alten Land entdeckt.«

»Du bist durch die Erde gekommen, nicht auf einem Schiff?«

»Ja.« Bei der Erinnerung wurde Rhapsodys Gesicht heiß. »Wir sind schon lange vor den Cymrern aufgebrochen und erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit hier angekommen.«

Elynsynos lachte. Rhapsody wartete eine Weile, ob das mächtige Tier ihr erklären würde, was los war, aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen betrachtete es sie eindringlich.

»Warst du schon bei Oelendra?«

Auf Serendair stand der Name für ein himmlisches Ereignis. »Beim gefallenen Stern?«

Elynsynos schaute verwirrt drein. »Nein, Oelendra ist eine Lirin wie du. Einst hat sie dieses Schwert getragen.«

Nun erhellte sich Rhapsodys Gesicht, denn sie erinnerte sich, dass Llauron den Namen erwähnt hatte »Ist sie noch am Leben?«

Anscheinend musste die Drachin darüber nachdenken. »Ja. Sie lebt in Tyrian, dem Lirinschen Wald im Süden. Wenn du zu ihr gehst, ist sie vielleicht bereit, dich seine Handhabung zu lehren. Ja, ich glaube, das tut sie.«

»Wie kann ich sie finden?«

»Geh nach Tyrian und bitte um einen Besuch bei ihr. Wenn sie dich sehen will, wird sie dich finden.«

Rhapsody nickte. »Ist sie gütig?«

Elynsynos lächelte. »Ich bin ihr nur ein einziges Mal begegnet. Sie war freundlich zu mir. Sie kam zusammen mit dem, der damals die Stellung des Fürbitters innehatte, die jetzt Llauron bekleidet, um mir mitzuteilen, was Merithyn zugestoßen sei, um mir seine Gaben und ein Stück seines Schiffs zu überbringen. Da wusste ich, dass er vorgehabt hatte, zu mir zurückzukehren, aber gestorben war. Er war so zerbrechlich; ich vermisse ihn sehr.« Wieder bildeten sich riesige Tränen in den faszinierenden Augen. »Ich habe dem Mann ein Geschenk gegeben. Einen weißen Eichenstab mit einem goldenen Blatt an der Spitze.«

»Den trägt jetzt Llauron.«

Die Drachin nickte. »Ich hätte auch Oelendra etwas geschenkt, aber sie wollte nichts annehmen. Aber du behältst den Panzer, nicht wahr, Hübsche?«

Rhapsody lächelte sie an. Elynsynos war eine widersprüchliche Kreatur, gleichzeitig so mächtig und verletzlich, weise und kindlich. »Ja, ich behalte ihn, das versteht sich von selbst. Ich werde ihn über meinem Herzen tragen, in dem ich dich bewahre.«

»Bedeutet das, dass du mich nicht vergessen wirst, Hübsche?«

»Natürlich. Ich werde dich niemals vergessen, Elynsynos.«

Die Drachin lächelte strahlend und entblößte dabei ihre schwertartigen Zähne. »Dann werde ich durch dich vielleicht doch ein wenig unsterblich werden. Danke, Hübsche.« Mit einem leisen Lachen beobachtete sie, wie Rhapsody die Stirn runzelte. »Du verstehst nicht, was ich meine, oder?«

»Nein, ich fürchte nicht.«

Elynsynos schmiegte sich auf den Boden der Höhle, sodass ihr schimmerndes Schuppenkleid im Flackerlicht der Kronleuchter funkelte.

»Drachen leben sehr lange, aber nicht ewig. In der Erde dem Element, dem wir entstammen gibt es keine Zeit, deshalb wird unser Körper nicht alt und stirbt auch nicht. In dieser Hinsicht haben wir etwas gemeinsam, du und ich: Die Zeit ist auch für dich zum Stillstand gekommen, Hübsche.« Tränen schimmerten in Rhapsodys Augen, als wären sie ein Spiegelbild der Tränen der Drachin, aber sie sagte nichts. »Das macht dich traurig«, stellte Elynsynos fest.

»Warum?«

»Weil ich mir so sehr wünsche, dass es wahr wäre«, erwiderte Rhapsody mit halb erstickter Stimme. »Die Zeit ist ohne mich fortgeschritten und hat mir alles genommen, was ich geliebt habe. Die Zeit ist mein Feind.«

Die Drachin beäugte sie nüchtern. »Das glaube ich nicht, Hübsche«, sagte sie, und in ihrer Stimme war ein humorvoller Unterton. »Ich kenne die Zeit sehr gut, und sie bezieht nur äußerst selten Stellung. Doch sie lächelt auf die herab, die sie umarmen. Vielleicht ist die Zeit um dich herum vorangeschritten, aber nun hat sie keine Macht mehr über dich zumindest nicht über deinen Körper. Leider hat die Zeit immer Macht über dein Herz. Du kommst aus Serendair, der Insel, von der die erste Rasse, die Ur-Seren, stammen. Serendair ist auch der erste der fünf Geburtsorte der Zeit. Du bist hierher gekommen, zum letzten dieser Geburtsorte, wo die Drachen, die jüngste Rasse, entstanden sind, und hast dabei den Hauptmeridian überquert. Du hast den Anfang der Zeit mit ihrem Ende verknüpft, wie die Cymrer es getan haben, und noch mehr, du bist durch die Erde gereist, an einen Ort, über den die Zeit keine Macht hat. Dadurch hast du die Zeit besiegt, ihren Kreislauf durchbrochen. Sie wird nie mehr Narben auf deinem Körper hinterlassen. Macht dich diese Aussicht nicht glücklich?«

»Nein«, entgegnete Rhapsody. »Nein.«

In der Dunkelheit lächelte die Drachin. »Du bist klug, Hübsche. Ein an die Ewigkeit grenzendes Leben ist ebenso sehr ein Fluch wie ein Segen. Auch für mich ist die Zeit stehen geblieben. Aber es gibt dennoch einen grundlegenden Unterschied zwischen uns. Im Gegensatz zu mir bist du unsterblich.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Du hast eine Seele«, erklärte die Drachin geduldig. »Sie nährt das Leben in dir, denn die Seele kann nicht sterben. So lange, so endlos dein Leben auch erscheinen mag, wirst du immer noch da sein, wenn dein Leben einst endlich vorüber ist wegen deiner Seele. Sie bleibt bestehen, auch nachdem du beschlossen hast, deinen Körper aufzugeben und ins Licht einzugehen, ins Jenseits. Mit mir wird das nicht geschehen.«

Rhapsody bemühte sich, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken. »Jeder hat eine Seele, Elynsynos. Die Lirin glauben, dass alle Lebewesen Teil der einen universellen Seele sind. Manche nennen sie den Lebensspender oder den Allgott, andere einfach das Leben, aber wir besitzen alle ein Stück davon. Es verbindet uns miteinander.«

»Das trifft für die Lirin zu«, entgegnete Elynsynos. »Aber nicht für die Drachen. Du bist von einer besonderen Lirin-Art, nicht wahr? Liringlas?«

»Meine Mutter war eine Liringlas, ja.«

»Was bedeutet das in deiner Sprache?«

Eine schwache Brise stieg vom Höhlenboden auf, schwer vom Sand, ließ sich auf Rhapsodys Wangen nieder und trocknete die unvergossenen Tränen. Unwillkürlich musste sie über Elynsynos’ tröstliche Geste lächeln. »Es bedeutet Himmelssänger. Die Liringlas singen ihre Gebete für die aufgehende und die untergehende Sonne und begrüßen auch das Erscheinen der Sterne in der Abenddämmerung.«

»Und die übrigen Lirin? Wie nennt man sie?«

»Oft bezeichnet man uns als Kinder des Himmels.«

»Genau.« Das große Tier bewegte sich gewichtig auf dem sandigen Höhlenboden. »Du bist eine Sängerin, und ein Teil des Sängerwissens dreht sich um die Reise der Seele, oder etwa nicht?«

»Ja«, antwortete Rhapsody. »Wenn wir Trauerlieder singen, kann ein Sänger manchmal sehen, wie die Seele den Körper verlässt und ins Licht eingeht. Aber viel mehr habe ich nicht gelernt, und ich weiß doch, dass die Lehre von der Seele viel umfassender ist.«

»Nun denn«, meinte die Drachin, »dann werde ich dich ein wenig in der Seelenlehre unterrichten, Hübsche, und auch in der Geschichte der Erdgeborenen. Vielleicht kennst du einen Teil davon ja schon.

In der Vorzeit, als die Welt geboren wurde, gab der, den du Lebensspender genannt hast, allem, was existierte, die für Gaben, die wir jetzt als die Elemente Äther, Feuer, Wasser Wind und Erde kennen. Davon weißt du, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Rhapsody.

»Jede dieser Gaben, oder Elemente, brachte eine Rasse vor Urwesen hervor, die man insgesamt unter dem Namen der Erstgeborenen kennt. Von den Sternen, dem Äther, kamen die Ur-Seren, wie Merithyn.« Elynsynos räusperte sich ein gewaltiges Dröhnen, unter dem das Ruderboot erzitterte, auf dem Rhapsody hockte. »Aus dem Meer wurden die Mythlin geboren, und der Wind gebar die Rasse, die man die Kitt nennt, von denen dein eigenes Volk abstammt.« Rhapsody nickte zustimmend. »Die Erdmutter brachte meine Spezies hervor, die Wyrmer, Drachen, die natürlich das Meisterstück des Schöpfers darstellen. Deshalb hat er uns als Letzte gemacht.« Elynsynos lachte leise, als sie Rhapsodys verstohlenes Lächeln bemerkte.

»Die zweite der Urrassen waren die F’dor, die Kinder des Feuers. Aber von Anbeginn an trachteten die F’dor zuerst und vor allem nach der Zerstörung der Erde. Vermutlich kann man nichts anderes erwarten; Feuer verzehrt seinen Brennstoff, ohne diesen brennt es aus, zu nichts. Aber und dies war ebenfalls nicht anders zu erwarten die anderen erstgeborenen Rassen konnten dies nicht einfach zulassen, denn es hätte ja bedeutet, dass die Gaben des Schöpfers aus dem Auge der Zeit verschwunden wären und wieder nur das Nichts zurückgelassen hätten. Daher schlössen sich die Seren, die Kith, die Mythlin und natürlich auch die Drachen zu einem schwierigen Bündnis zusammen und trieben die Dämonen ins Zentrum der Erde, um sie dort in Zaum zu halten.

Es versteht sich von selbst, dass wir Drachen von Anfang an über diesen Plan nicht sonderlich erfreut waren. Für uns war es eine grässliche Vorstellung, dass die Erde, unsere Mutter, diese monströsen, bösartigen Wesen in ihrem Herzen gefangen halten sollte; aber es war uns auch klar, dass eine Flucht der F’dor die sichere Zerstörung der Erde bedeutet hätte. Unser Beitrag zur Knechtung der F’dor bestand darin, dass wir die Grube errichteten, die ihr Gefängnis wurde. Wir Drachen formten den Kerker aus unserem heiligsten Besitz, dem Lebendigen Gestein, diesem reinen Element Erde, der einzigen Substanz, von der wir wussten, dass sie stark genug war, um das Böse in Schranken zu halten. Es war ein gewaltiges Opfer, Hübsche, und einer der Gründe dafür, dass wir Drachen bis heute mürrisch sind und unser Territorium gnadenlos verteidigen; wir sind der Auffassung, dass wir mehr für das Land getan haben, das wir unser Eigen nennen, weil wir seine Heiligkeit opfern mussten, um es zu schützen.«

»Ich finde, dass eure Charakterisierung in den Legenden übertrieben wird«, schaltete sich Rhapsody lächelnd ein. »Meiner Erfahrung nach sind Drachen nicht sonderlich mürrisch, es sei denn, man enthält ihnen die Einzelheiten einer Geschichte vor.«

In den Regenbogenaugen der Drachin zeigte sich ein Ausdruck tiefer Zuneigung, doch schon kurz darauf wurde sie wieder ernster. »Die Urrassen des Bündnisses, die Körper hatten wie du, die Kith, Seren und Mythlin, wurden als die Drei bekannt.«

Erstaunt setzte Rhapsody sich auf und wäre dabei fast vom Ruderboot gefallen. »Die Drei?«

»Ja.«

»Llauron hat uns von einer Prophezeiung über die Drei berichtet. Das Kind des Blutes, das Kind der Erde und das Kind des Himmels würden kommen, und nur durch diese drei könnte die Spaltung unter den Cymrern aufgehoben werden und wieder Frieden einkehren.«

Elynsynos lachte. »Dein Zeitgefühl ist ein wenig durcheinander geraten, Hübsche. In der Zeit, über die ich spreche, gab es nur fünf Rassen die Erstgeborenen. Ihre Kinder, die Älteren Rassen, waren noch nicht in Erscheinung getreten. Die Cymrer waren im Großen und Ganzen eine Rasse des Dritten Zeitalters, Kinder der Älteren Rassen. Dieser Name die Drei stammt aus uralten Zeiten, vor Millionen von Jahren. Du kannst das noch nicht ganz verstehen, weil du sc jung bist, aber eines Tages wirst du es erkennen. Vielleicht erlebst du ja sogar selbst eine Geschichte von diesen Ausmaßen. Nach ein paar tausend Jahren wirst du anfangen zt begreifen.« Die Drachin lachte, und Rhapsody schauderte.

»Die Drei hatten allesamt Körper, die zumindest in Sätzen der heutigen menschlichen Gestalt ähnelten«, fuhr Elynsynos fort. »Die Drachen dagegen hatten die Form vor Schlangen, und die F’dor wiesen überhaupt keine körperliche Gestalt auf. Der Grund für all das besteht darin, dass der Schöpfer zum Zeitpunkt des Erschaffens den Dreien sein Bild zeigte, und dieses Bild inspirierte die Form, welche sie annahmen. Auch die Drachen bekamen das Bild des Schöpfers zu Gesicht, aber sie entschieden sich, es zu ignorieren; du hast ja sicher davon gehört, wie sehr wir es hassen, wenn jemand uns sagt, was wir tun sollen. Wie du dir nun sicher auch denken kannst, wurde den F’dor das Bild ebenfalls vorenthalten. Der Schöpfer wusste, dass die Bastarde des Feuers von Geburt an böse waren, und weigerte sich, sein Wissen mit ihnen zu teilen. Möglicherweise haben die F’dor deshalb keine eigene körperliche Gestalt.

Dies führt mich nun weiter zur Lehre von der Seele. Du sagst, du bist von Serendair hierher durch die Erde gereist?«

»Ja«, bestätigte Rhapsody.

»Was für ein Gefühl war das für dich? War es für dich, Lirin, die du bist, sehr unangenehm unter der Erde, abgetrennt vom Himmel?«

Rhapsody schloss die Augen und kämpfte die Erinnerung nieder, die ständig am Rand ihres Bewusstseins lauerte. »Es fühlte sich an, als wäre ich bei lebendigem Leib begraben.«

Elynsynos nickte verständnisvoll. »Der Himmel ist die Verbindung zur Seele des Universums, dem Schöpfer, und diejenigen, die Teil der kollektiven Seele sein möchten, müssen mit ihm in Kontakt stehen. Ohne ihn haben sie keinen Kontakt mit ihren Gefährten im Leben und nach dem Tod keine Unsterblichkeit. Deine Rasse stammt vom Wind und den Sternen ab; ihr seid mit diesem Wissen geboren. Deshalb kannst du den Gesang des Universums hören, deshalb stimmst du in sein Lied mit ein: Du bist Teil der kollektiven Seele. Für diejenigen, die nicht Teil des Himmels und des ewigen Lebens werden, gibt es nach dem Tod nur die Leere, das große Nichts.

Weil die Drachen, die F’dor und sogar die Mythlin sich dafür entschieden haben, vom Himmel getrennt zu leben, haben sie keine Seele. Die Mythlin haben das Leben im Meer gewählt, sie halten sich fern von den anderen Rassen, genau wie die Drachen in der Erde bleiben. Die Meereskinder, die von den Mythlin abstammen Meerjungfrauen, Seenymphen und so weiter, leben Jahrtausende, aber wenn sie sterben, steigt ihre Seele nicht zu den Sternen empor, sondern wird wieder zu Schaum auf den Meereswogen und verschwindet schließlich; ihre einzige Unsterblichkeit liegt in der Erinnerung derer, die sie gekannt haben. Und so wird es auch bei mir sein. Wenn ich endlich lange genug gelebt habe, wenn ich den Schmerz nicht mehr ertragen kann, werde ich mich zur Ruhe legen und nicht mehr aufstehen; das wird mein Ende sein. Dann wird mein Körper dort in meiner Höhle verwesen, mein Blut in der Erde versickern und eines Tages die Adern aus Kupfer bilden, das von den Menschen abgebaut und zu Münzen oder Armbändern verarbeitet wird.

Magst du Kupfer, Hübsche? Es ist im Grunde nichts als das vergossene Blut von Drachen meiner Art, wie das Gold, aus dem dein Medaillon gefertigt wurde, einstmals in den Adern eines goldenen Drachen floss. Smaragde, Rubine, Saphire nichts als geronnenes Lebensblut von uralten Drachen verschiedener Unterarten und Färbungen. Es ist das, was wir hinterlassen, in der Hoffnung, dass die Zeit unsere Erinnerung aufrechterhalten wird; aber das geschieht nie. Stattdessen dient es nur dazu, Frauenbrüste und die leeren Köpfe von Königen zu zieren.

Aber wenn du mich in Erinnerung behältst, Hübsche, wirklich mich und nicht die Legenden oder Geschichten, dann werde ich fortbestehen, zumindest ein wenig. Ich werde einen Hauch von der Unsterblichkeit bekommen, von der Ewigkeit, die ich nicht gewonnen habe, weil ich in der Erde geblieben bin, weil ich nicht den Himmel berührt habe und deshalb keine Seele mein Eigen nenne.«

Die Stimme der Drachin klang versonnen, leicht melancholisch; Rhapsodys bezaubertes Herz hatte indes niemals etwas so Trauriges vernommen. Kummer wallte in ihr auf und drohte sie zu verzehren. Ohne nachzudenken, sprang sie von dem Ruderboot und schlang weinend die Arme um Elynsynos’ Vorderbein.

»Nein«, rief sie, halb erstickt von dem Schmerz in ihrem Herzen. »Nein, Elynsynos, du irrst. Du hast mit Merithyn eine Seele geteilt, und ich bin sicher, dass ein Teil davon jetzt in dir ist. Du hast Kinder: Das ist ganz gewiss eine Form der Unsterblichkeit. Und du hast den Himmel sehr wohl berührt, denn du berührst auch jetzt ein Kind des Himmels. Mein Herz hast du so tief angerührt, dass wir für alle Zeiten miteinander verbunden bleiben werden. Ich werde deine Seele sein, wenn du eine Seele brauchst.«

Zärtlich strich die Drachin mit einer Vorderklaue über das goldene Haar der Himmelssängerin. »Sei vorsichtig, Hübsche, es wäre nicht gut, wenn du dir einen neuen Namen gäbest. In dir ist eine Kraft, die dein Versprechen wirklich werden lassen könnte, und dann wärst du meine Sklavin. Aber ich bin froh, dass ich eine Seele habe und dass sie so eine Hübsche ist.«

Abermals streichelte sie Rhapsody, und die Sängerin setzte sich wiederum auf das Boot. »Du hast Recht, was meine Kinder angeht«, fuhr die Drachenfrau fort, »obgleich sie so fern zu sein scheinen, so fremd. Kaum kann ich glauben, dass es meine eigenen sind, vor allem bei Anwyn.

Die seelenlosen Rassen haben oft eine sehr starke Sehnsucht, Nachfahren zu zeugen, weil ihnen dies ja tatsächlich eine Art Unsterblichkeit verleiht. Deshalb hat der F’dor auch den Rakshas hervorgebracht. Er wollte Abkömmlinge, aber natürlich ist der Rakshas ein Bastard, denn der F’dor hätte seine eigene Lebensessenz öffnen müssen, um ein Kind zu zeugen, das wirklich sein Eigen wäre, und dies hätte ihn mehr geschwächt, als er es zulassen will. Aber ist das nicht bei allen Eltern so? Man tauscht einen Teil seiner Seele ein, um ein bisschen Unsterblichkeit zu erlangen?«

»Wahrscheinlich hast du Recht«, meinte Rhapsody und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Daran habe ich noch nie gedacht.«

»Es gibt viele Beweggründe selbstsüchtiger und selbstloser Art, aus denen heraus Kinder in die Welt gesetzt werden. Der F’dor wollte den Rakshas, um seine Wünsche in der Welt der Menschen durchzusetzen. Er ist ein Spielzeug, ein Werkzeug, das er einsetzt, um sein höchstes Ziel zu erreichen.«

»Und was ist dieses Ziel, Elynsynos? Trachtet er nach der Macht? Nach der Weltherrschaft?«

Elynsynos lachte leise. »Du denkst wie ein Mensch, Hübsche. Um die Beweggründe des F’dor zu verstehen, musst du wie ein F’dor denken soweit das überhaupt möglich ist, denn es gibt Mächte des Chaos, und ihre Absichten und Taten sind nicht leicht vorherzusagen. Die F’dor benutzen die Menschen auch als Werkzeuge, um ihre Ziele zu erreichen. Sie streben nicht danach, Macht zu erringen und über die Massen, zu herrschen oder ihre Feinde zu unterdrücken, nein. Sie haben nichts anderes als Tod und Zerstörung im Sinn, und die Reibungsenergie jeglicher Auseinandersetzungen verschafft ihnen Kraft und Vergnügen. Allerdings werden sie sich selbst zerstören, wenn sie ihr höchstes Ziel erreichen, denn sie streben ja danach, die Erde zu vernichten. Dann werden auch sie nur mehr in der Unterwelt existieren und in Albdrücken. Genau wie wir alle.«

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