55

Achmed war fest davon ausgegangen, dass Rhapsody sich nicht rechtzeitig von Ashe losreißen würde, und hatte sich deshalb Zeit gelassen, auf die Heide zu kommen. Als er jedoch die letzte Anhöhe überquert hatte, fand er dort zwei Gestalten vor, eine riesig, die andere klein und zierlich, die beide schon auf ihn warteten. Achmed fluchte. In ihrer Unberechenbarkeit war Rhapsody schon fast wieder berechenbar.

»Dann ist er also weg?«, wollte er wissen, während er Grunthor den morgendlichen Bericht der Nachtpatrouille in die Hand drückte. Rhapsody nickte nur. »Gut.«

Grunthor warf ihm einen bösen Blick zu und legte die Hand auf Rhapsodys Schulter. »Wann kommt er denn zurück, Schätzchen?«

»Gar nicht«, antwortete sie kurz. »Vielleicht sehe ich ihn bei der königlichen Hochzeit in Bethania wieder, aber vermutlich wird das dann das letzte Mal sein. Er ist unterwegs, sein Schicksal zu erfüllen.« Sie blickte zurück in die Sonne, die jetzt über den Gipfel des Griwen stieg. »Lasst uns aufbrechen, damit wir auch das unsere in Angriff nehmen können.«

Der Tunnel des Loritoriums hallte unter ihren Schritten und der Erinnerung an ihre eigenen Stimmen.

Ist sie immer noch da, Herr?

Verdammt, Jo, ich binde dich gleich an einen Stalagmiten, da kannst du warten, bis wir zurückkommen.

Ich möchte mit euch kommen. Bitte.

Achmed schloss die Augen, der Kopf war ihm schwer vom Gewicht der Erinnerungen. Die Fackel in Grunthors Hand flackerte unruhig, eine blasse Kerze im Vergleich zu der lodernden Flamme, die beim ersten Mal ihren Weg zu der versteckten Zauberkammer beleuchtet hatte. Achmed fragte sich, ob die schwache Flamme ein Zeichen dafür war, dass sich das konzentrierte Wissen in der abgestandenen Luft verflüchtigte, während der Wind aus der Welt oben durch die uralten Gänge blies. Vielleicht aber war es auch eher ein Zeichen dafür, dass das Feuer in Rhapsodys Seele ein wenig schwächer brannte. Sie sagte nichts, sondern folgte ihnen schweigend in den Bauch des Berges, das Gesicht verhärmt und gespenstisch weiß im blassen Fackellicht. Den ganzen Weg durch den Tunnel zum Loritorium sagte sie kein Wort, ganz anders als auf ihren gemeinsamen Reisen über Land oder entlang der Wurzel, wo sie und Grunthor sich die Zeit mit Liedern oder gepfiffenen Melodien vertrieben hatten. Die Stille war geradezu ohrenbetäubend. Nachdem sie etwa tausend Schritte zurückgelegt hatten, hörte Achmed ein langsames, stockendes Einatmen und wusste plötzlich, dass auch Rhapsody Stimmen im hallenden Tunnel hörte.

Wollt Ihr mir sagen, dass der Herrscher von Roland eine Zivilistin ohne den Schutz der bewaffneten wöchentlichen Karawane nach Ylorc geschickt hat?

Die Zeiten sind gefährlich, nicht nur in Ylorc, sondern überall.

Ich erfülle nur den Auftrag meines Gebieters, Herrin.

Prudence, Ihr müsst heute Nacht hier bleiben. Bitte. Ich fürchte um Eure Sicherheit, wenn Ihr jetzt geht.

Nein. Es tut mir Leid, aber ich muss umgehend nach Bethania zurück.

Gespenster, dachte Achmed. Überall Gespenster.

Schließlich wurde der Tunnel breiter und bildete den Eingang zur Marmorstadt. Die Flamme aus dem Feuerbrunnen brannte stetig und warf lange Schatten in das leere Loritorium.

»Hier scheint alles in Ordnung zu sein«, meinte Achmed, während er den Feuerbrunnen untersuchte. »Ich spüre keine ungewöhnlichen Schwingungen.«

So verließen sie das Loritorium und wanderten den Gang hinunter zur Kammer des Schlafenden Kindes.

Wie immer stand die Großmutter im Eingang.

»Ihr seid gekommen«, stellte sie fest, und all ihre Stimmen zitterten. »Es geht ihr schlechter.«

Aus der Kammer drang ein Stöhnen. Sie eilten durch die riesige Tür aus Russbeschmiertem Eisen in die Kammer hinein.

Auf dem Katafalk wälzte sich das Erdenkind und murmelte frenetisch vor sich hin. Rhapsody lief zu ihr, flüsterte tröstende Worte, versuchte das Mädchen zu beruhigen, aber es reagierte nicht.

Auf einmal packte Achmed Rhapsody so heftig am Arm, dass sie vor Schmerz zusammenzuckte. Als sie aufblickte, bedeutete er ihr, Grunthor anzusehen. Der Riese stand neben dem Katafalk, und im schwachen Licht war seine dunkle Haut aschfahl geworden. Auf seinem breiten Gesicht standen Schweißperlen.

»Da kommt etwas«, flüsterte er. »Etwas ...« Die Worte blieben ihm im Halse stecken, und er schnappte hörbar nach Luft.

»Grunthor?«

Der Riese zitterte und griff nach seinen Waffen.

»Die Erde«, flüsterte die Großmutter. »Die Erde schreit. Grüner Tod. Schmutziger Tod.«

Wie als Spiegelbild des Firbolg-Riesen begann der Boden um sie herum zu beben. Felsbrocken und Granit brachen von Wänden und Decke, Staub rieselte herab und färbte die Luft schwarz.

»Was ist das? Ein Erdbeben?«, rief Rhapsody Grunthor zu. Mit grimmigem Gesicht senkte der Sergeant Schwert und Spieß. Er hatte kaum Zeit, den Kopf zu schütteln. Um sie herum war leises Knallen und Knacken zu hören, wie von nassem Holz im Feuer, und plötzlich wuchsen aus dem Boden, aus der Decke und aus den Wänden tausende winziger Wurzeln; schwarz und dornig lugten sie aus der Erde wie neue Frühlingsschösslinge. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie zur Größe von Dolchen herangewachsen, die drohend in die Luft schlugen. Inzwischen hatte Achmed die Höhle durchquert und war kaum eine Armlänge von Rhapsody entfernt. Sie unterdrückte einen Entsetzensschrei als die Wurzeln zu zischen begannen, und hielt die Hände schützend über den Kopf des Schlafenden Kindes.

Dann explodierte die Welt.

Aus jeder von Erde bedeckten Stelle brachen riesenhafte Schlingpflanzen hervor, jede so dick wie eine alte Eiche, zerrissen die Luft und zerschmetterten die Felswände. Der Boden unter ihren Füßen buckelte und bäumte sich auf, zerschellte unter der Wand dorniger Leiber, während noch größere Wurzeln aus der Erde schössen, die Gefährten umringten und sie herumstießen wie Glasmurmeln.

Eine Wolke widerlichen Gestanks wallte auf, dass es ihnen den Atem verschlug. Der Geruch war unverkennbar.

F’dor.

Achmed schlug die Arme über den Kopf, als ihn ein großer herunterfallender Gesteinsbrocken traf, von ihm abprallte und Schockwellen durch seine Schultern und seinen ganzen Körper sandte. Er spürte den Herzschlag seiner Freunde in wildem Crescendo rasen, wie Hagel auf seiner Haut. Rhapsody war in dem Tumult der Erdaufwerfungen und peitschenden Ranken ganz aus seinem Gesichtskreis verschwunden. In der Hoffnung, dass sie ihn noch hören konnte, schrie er: »Raus hier!« und versuchte, seine Lungen vom Staub frei zu husten. Als Antwort tauchte mitten in dem herabstürzenden Schutt ein vibrierendes Licht auf, das durch die alles verhüllenden schwarzen Aschewolken schimmerte. Ein metallischer Klang wie von einer Fanfare begleitete dieses Licht, und Achmed spürte ein elektrisches Prickeln, das ihm durch Mark und Bein ging. Die züngelnden Flammen schwebten einen Augenblick regungslos in der Luft und begannen dann einen wilden, schwirrenden Tanz, während das Schwert auf die sich windenden Ranken einhieb und Lichtstrahlen in der Dunkelheit der zerberstenden Kammer verschickte. Die Iliachenva’ar hielt ihre Stellung und schlug zurück. Ein ohrenbetäubendes Brüllen brandete neben Achmed auf. Als er sich umwandte, sah er gerade noch, wie ein riesiger Fangarm Grunthors Fuß erwischte, ihn von dem Felsbrocken, auf den er gefallen war, wegzerrte und mit dem Kopf nach unten in die rauchige Luft riss. Blitzschnell schlangen sich Dutzende Peitschenranken um seinen Hals und seine Gliedmaßen und zogen sich dann gleichzeitig und mit entsetzlicher Kraft zusammen. Wieder brüllte Grunthor auf, mehr vor Wut denn vor Schmerz, aber schließlich erstickten die Schlingen seine Schreie.

Mit einer einzigen Bewegung beider Handgelenke zückte Achmed den Dolch, stürzte zu der Stelle, wo der Riese hing, und stach weit ausholend auf die sich windenden Tentakeln ein. Blitzschnell griff er nach einer von Grunthors Waffen, die umgekehrt in der Scheide baumelten, und machte sich beidhändig an der würgenden Ranke zu schaffen. Als Erstes nahm er sich die Schlingen vor, welche die Handgelenke des Riesen umschlossen, und hatte gerade eines befreit, als ein dicker, klauenartiger Seitentrieb vorschnellte, Achmed gegen einen Erdhaufen schleuderte und unter sich festnagelte.

Achmed atmete flach, um den Schmerz in den Rippen weniger zu spüren. In einiger Entfernung hörte er noch immer das Klirren der Tagessternfanfare, das Zischen und Kreischen der Ranken, wenn Rhapsody sie durchtrennte und ihre Enden versengte. Ihr Herzschlag war neben dem donnernden Pochen, das von Grunthor ausging, bemerkenswert langsam und konzentriert. Dem Klang nach hatte der Sergeant sich inzwischen befreit und hackte jetzt auf die Ranke ein, die Achmed gefangen hielt. Einen Augenblick später riss das riesenhafte Ding denn auch tatsächlich in zwei Teile, und der BolgRiese zerrte Achmed aus dem Morast anderer glitschiger Wurzeln, die sich unter ihm schlängelten, zischten und wie Schlangen nach seinen Fersen züngelten.

»Hrekin«, fluchte der Sergeant und rang heftig nach Atem. Es war das Letzte, was Achmed von ihm hörte, ehe der Boden unter seinen Füßen sich abermals aufbäumte und ihn dorthin zurückwarf, wo einst der Eingang der Kammer gewesen und jetzt nichts weiter als eine bröckelnde Ruine war.

Der Dolch wurde Achmed aus der Hand gerissen und fiel zu Boden; in dem Getöse um ihn herum konnte er nicht hören, wo er landete. Die kalte, brandige Hand der Angst packte seine Eingeweide, als ihm klar wurde, dass es unmöglich war, der monströsen Wurzel zu entfliehen, dieser Dämonenranke, welche die Kammer des Schlafenden Kindes zu verschlingen drohte. Der Katafalk des Erdenkinds war verschwunden, schon in den ersten Augenblicken des Angriffs in die Luft gesprengt. Es bestand kaum ein Zweifel, dass der Körper des Mädchens unter dem Schuttberg begraben lag, oder noch schlimmer von den Tentakeln der Schlangenranke gefesselt in die Fänge des F’dor gezerrt wurde, genau wie Jo. Achmed schmeckte den eigenen Tod auf der Zunge.

Eiskalte Wellen der Furcht schlugen über ihm zusammen. Nicht den Tod als solchen fürchtete er, sondern die Hände, die ihn bescherten. Er hatte sich an die Freiheit gewöhnt, die nun seit jenem schwülen Tag in den Gassen von Ostend sein Eigen gewesen war, damals in einem anderen Leben, als Rhapsody seinen Namen geändert und ihn von der unsichtbaren Fessel der Dämonensklaverei befreit hatte. Inzwischen hatte er fast wieder gelernt, unbeschwert zu atmen, daran zu glauben, dass sein Leben, seine Seele wieder ganz ihm allein gehörten. Doch nun nahte der Tod und würde ihn zurückholen in die Eisenklaue des Dämons. Und was noch schlimmer war: Seinen Freunden stand das gleiche Schicksal bevor. Plötzlich drang ein leises Pfeifen wie von Wind in seine Ohren und erweiterte sich einen Augenblick später in vier verschiedene Noten, die in einem einzigen Atemzug gehalten wurden. Der Ritualgesang hallte in seinem Kopf wider und vibrierte in seinem dhrakischen Blut. Durch den Tumult hindurch sah er die Großmutter nicht, aber er hörte sie klar und deutlich, die fünfte Note des Bannrituals, die wie ein Messer durch den Lärm schnitt. Als das rituelle Klicken sich zu der monotonen Melodie gesellte, pulsierte der brodelnde See von Wurzeln und Ranken im selben Rhythmus und erstarrte dann unvermittelt. Einen Augenblick lang nahm Achmed alle Geräusche um ihn herum sehr deutlich wahr das Pochen des Rankennetzes, das jetzt die gesamte Höhle füllte und Achmed mit seinen gigantischen Ausmaßen zu einem Zwerg reduzierte, das klingende Summen der Tagessternfanfare, die in der Finsternis außerhalb seiner Reichweite funkelte, das Zischen und Knurren der tausend schlangenartigen Fangarme ganz in seiner Nähe, die jederzeit zuzuschlagen drohten; dazu Rhapsodys flackernder Herzschlag und der rituelle Rhythmus, der Puls der Großmutter. Aber Grunthors Herz war nicht darunter. »Achmed!« Rhapsodys Stimme war kaum hörbar, Qualm stieg von der Stelle auf, woher sie kam. So schnell er konnte, drängte sich Achmed an einem Wirrwarr züngelnder Ranken vorbei, ohne auf ihre Angriffsversuche zu achten, und arbeitete sich immer weiter zu Rhapsody durch, dem Klang ihres Herzschlags folgend. Zwischen zwei große Erdplatten eingeklemmt, fand er sie, wie sie das Ende eines gigantischen Fangarms mit Hilfe der Tagessternfanfare versengte. Der Ausläufer der Dämonenranke ächzte und verglühte im ätherischen Feuer. Rhapsodys Blick begegnete dem seinen, und ihre Augen brannten mit der gleichen Heftigkeit wie ihr Schwert.

»Elementares Feuer tötet sie ab«, erklärte sie leise, als er nahe genug war, dass er sie verstehen konnte. »Höre ich da etwa das Bannritual?«

Achmed nickte und zuckte zusammen, weil ein stechender Schmerz seinen Kopf durchzuckte.

»Die Ranke ist ein Ausläufer des Dämons, ein Gebilde, wie es auch der Rakshas war«, antwortete er, während er dem sehnigen Fleisch der Ranke auswich. »Dein Schwert kann die dämonische Essenz vielleicht für den Augenblick stauen, aber es kann die Wurzel nicht töten; sie ist viel zu stark.«

»Vingka jai«, sagte Rhapsody zu der Flamme, die am Ende der Wurzel glomm. Brenne und breite dich aus. Das Feuer loderte auf in gerechtem Zorn, und die Ranke kreischte vor Wut und Schmerz.

»Jetzt aber raus hier«, befahl Achmed und gestikulierte zu dem Ausgang, wo das Loritorium gewesen war. »ich weiß nicht, wie lange die Tagessternfanfare es noch aufhalten kann.«

»Aber wo ist Grunthor? Und das Kind?«

Achmed schüttelte den Kopf. »Raus hier, und zwar sofort«, kommandierte er. »Wo sind sie?«

»Ich weiß es nicht!«, fauchte er. Der Verlust von Grunthor und der Gedanke, dass die Schlüssel, welche den Kerker öffnen konnten, sich womöglich auf dem Weg in die Tiefen der Erde befanden, war mehr, als er im Moment verkraften konnte. Um nicht den Verstand zu verlieren, konzentrierte er sich ausschließlich darauf, Rhapsody aus den Ruinen der Kolonie herauszuführen, ehe diese endgültig einstürzte. Verschwommen überlegte er noch, ob er ihr damit wohl einen Gefallen tat, wenn man bedachte, was ihr bevorstand. »Verdammt! Raus hier, solange du noch kannst!«

Doch sie hörte noch immer nicht auf ihn. Stattdessen starrte sie in die Trümmer der Höhle, mit staunend aufgerissenem Mund. Achmed drehte sich um und folgte ihrem Blick. Dort, umwallt von dicken Wolken aus Asche und Staub, sah er das Schlafende Kind. Mit geschlossenen Augen stand das Mädchen da, aufrecht, und ihre Füße verschmolzen mit dem Schutt auf dem Boden der Kolonie. Die Tagesternfanfare, die jetzt unbeweglich in Rhapsodys Hand glomm, warf kleine Wellen von Licht über sie, über ihre glatten Gesichtszüge, das schimmernde Grau ihrer Haut. Im Feuerschein schien sie riesig, größer als sie liegend gewirkt hatte, und ihr langer Schatten tanzte über die zerstörten Höhlenwände.

»Nein«, flüsterte Rhapsody erstickt. »Nein, bitte. Schlaf weiter, Kleines.«

Langsam hob das Mädchen erst den einen, dann den anderen Fuß vom Boden und machte einen Schritt nach vorn.

Die Schlafwandlerin.

»Bitte«, flüsterte Rhapsody wieder. »Bitte nicht, Kleines, die Zeit ist noch nicht reif. Schlaf weiter.«

Doch das Erdenkind achtete nicht auf sie. Schwerfällig kletterte es über die Steinhaufen, glitt zwischen den Felsen hindurch, als watete es durch knöcheltiefes Wasser, die Augen weiterhin fest geschlossen. Seitenarme der Ranke peitschten kraftlos nach dem Mädchen, geschwächt von dem Bann, den die seltsame insektenartige Musik der Großmutter auf sie ausübte. Achmed streckte Rhapsody die Hand entgegen. »Komm«, sagte er. Unwillkürlich gehorchte sie und folgte ihm über die Steinbrocken, die einstmals die Decke der Höhle gebildet hatten. So folgten sie dem Erdenkind, das sich unbeirrt einen Weg durch all den Schutt bahnte. Als sie an den dicken Fangarmen vorüberkamen, begann die Dämonenranke zu zittern, sodass von den zerstörten Wänden und der bröckelnden Decke noch mehr Staub und Schutt herabstürzten. Rhapsody hustete, während Achmed sie über einen Erdhaufen und unter einem riesigen, zischenden Rankenarm hindurchschleppte. Winzige Tentakel züngelten in der Dunkelheit und wurden von der Macht des Bannrituals zurückgerissen. In ohnmächtiger Wut fauchten und spuckten die Wurzeln.

Als Rhapsody sie hörte, wurden ihre Augen plötzlich schmal, denn sie erinnerte sich voller Hass daran, wie Jo gestorben war. Kurz entschlossen ließ sie Achmeds Hand los, holte mit dem Schwert so schnell aus, dass er ihr nicht mit den Augen folgen konnte, und trennte die widerlichen Fangarme mit einem mächtigen Schlag ab. Die Ranke kreischte und erschauderte, die kleinen Triebe fingen Feuer und verbrannten auf dem Boden zu Asche.

»Nicht jetzt!«, zischte Achmed. »Hör zu.«

Das Ritual wurde schwächer. Das ferne Echo der Stimme der Großmutter war dünner und kratziger geworden, denn allmählich forderte die Anstrengung ihren Tribut.

»Sie ist mit ihrer Kraft am Ende«, sagte Achmed, zog Rhapsody unter der bebenden Wurzel hervor und weiter den Tunnel hinauf. »Wir müssen ins Loritorium.«

»Aber Grunthor ...«

»Komm«, beharrte Achmed. Auch ihm fiel es furchtbar schwer, den Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Der Herzschlag der Großmutter wurde immer schwächer, und die Wirkung des Rituals ließ nur allzu deutlich nach. Bald würde das alte Herz am Ende sein. Wenn es versagte, ehe sie ins Loritorium gelangten, hatten sie ihre letzte Gelegenheit auf eine Flucht verspielt.

Nicht nur sie wären dann verloren, sondern auch der Rest der Welt, denn die Gefangenen des uralten Kerkers tief im Innern der Erde waren auf dem besten Wege zu entkommen. Ein schreckliches Krachen und Rumpeln hallte durch den Gang vor ihnen, Felsbrocken stürzten herab, und ein dicker Staubnebel wallte auf. Instinktiv bedeckten sie Kopf und Augen. Als der Lärm nachließ, blickten sie gleichzeitig auf und wedelten mit den Armen den grauen Staub weg. Achmed nickte, und sie eilten weiter, nur um gleich wieder stehen zu bleiben.

Eine Mauer aus Felsbrocken blockierte den Durchgang. Verzweifelt betastete Achmed das Hindernis mit den Händen und deutete dann zur Seite. Zwischen den schweren Steinbrocken war eine winzige Öffnung die einzige Lücke.

Rasch steckte Rhapsody ihr Schwert in die Scheide und kroch, bitteren Staub einatmend, in das Loch. Die scharfen Kanten der Basaltsplitter zerrissen ihre Hose und schnitten ihre Hände auf, während sie sich auf die andere Seite hindurchschlängelte und dann sofort damit begann, so viele Trümmer wie möglich wegzuräumen.

Einen Augenblick später erschien Achmeds Kopf in der Lücke, das Gesicht schmerzverzerrt. Seine Schultern blieben stecken, während er sich durch die schmale Öffnung quälte, und nur mit größter Anstrengung rutschte er wieder zurück und versuchte es erneut, indem er zuerst einen Arm durchstreckte. Rhapsody packte seine Hand und zog, den Fuß fest gegen die Mauer gestemmt. Sie konnte das Krachen von Knochen in seiner Hand spüren und schauderte.

»Fester«, murmelte Achmed, das Gesicht in den Schutt der Tür gedrückt.

»Deine Rippen ...«

»Zieh fester«, knurrte er. Also biss Rhapsody die Zähne zusammen, brachte ihren Fuß erneut in Stellung und zog mit aller Kraft. Ein unangenehmer Ruck ging durch ihre Hände, und sie hörte ein scharfes Einatmen, als Achmed einen Schmerzensschrei unterdrückte. Doch immerhin waren jetzt sein Kopf und seine Schultern befreit. Rhapsody legte die Hände unter seine Achseln und zerrte, bis sie seinen Oberkörper herausgezogen hatte, den Rücken von blutigen Schürfwunden bedeckt. Einen Augenblick später hatte er es ganz geschafft, und während er seine gebrochenen Rippen umklammerte, half sie ihm beim Aufstehen. Rasch nickten sie sich zu, wandten sich um und rannten weiter den Gang entlang. Sie kletterten über einen Haufen Granit, der einst den großen Torbogen gebildet hatte; jetzt legten die zerbrochenen Worte auf dem Boden ein stummes Zeugnis ihrer Weisheit ab. Das Schlafende Kind war nicht mehr zu sehen. Auf der Spitze des Haufens rutschte Achmed aus und geriet mit dem Fuß in eine Spalte. Rhapsody zog ihn heraus und folgte ihm über den Hügel.

Vor ihnen gähnte der Tunnel zum Loritorium.

»Kannst du das Erdenkind sehen?«, japste Rhapsody. Achmed schüttelte den Kopf, rannte den Schuttberg hinunter und weiter den Gang entlang, bis sie den glatten Marmorboden des Loritoriums erreichten.

Die Flamme der Feuerquelle wand sich hell in ihrem Brunnen und warf grimmige Schatten über die Gassen und stillen Gebäude. Rhapsody lief zum zentralen Platz, wo sich die Truhen mit den Elementen befanden; dann blieb sie stehen und atmete erleichtert auf. Hier stand das Schlafende Kind, ganz in der Nähe des Altars aus Lebendigem Gestein, die Augen immer noch geschlossen. Die Schlafwandlerin.

Rhapsody verlangsamte ihren Schritt und ging so leise sie konnte auf die große Gestalt zu, sorgfältig darauf bedacht, sie nicht zu erschrecken. Das Erdenkind strich mit den Händen über den Altar, wandte sich dann langsam um, setzte sich auf die Steinplatte und legte sich nieder. Die Arme über dem Bauch gekreuzt, nahm es wieder die Position ein, in der es auf dem Katafalk geruht hatte. Die Schatten des Feuerscheins zogen über das Gesicht, das sich entspannte und ganz friedlich wurde. Es stieß einen tiefen Seufzer aus.

Dann beobachtete Rhapsody staunend, wie der Körper des Schlafenden Kindes flüssig zu werden und sich auszudehnen schien. Brust und Kopf schimmerten und leuchteten in einem eigenen Licht. Das Fleisch des langen, steingrauen Körpers, der im flackernden Licht des Feuerbrunnens glänzte, reckte sich in einem absurden Tanz, drehte sich hypnotisch, grotesk in Erdfarben, wie sie Rhapsody noch nie so schön gesehen hatte feinste Schattierungen von Zinnoberrot und Grün, Braun und Purpur. Wie Brotteig, der geknetet wird, dachte sie, als der Bauch des Kindes länger wurde und sich dann nach oben dehnte. Ätherischer Brotteig. Doch dann holte sie ein beißender Gestank jäh aus ihrer Versunkenheit in die Gegenwart zurück. Blitzschnell wandte sie sich von der Verwandlung des Erdenkindes ab und sah, wie Achmed sein Schwert durch die schmalen Kanäle des Straßenlampensystems im Loritorium zog, als triebe er eine Herde winziger Tiere durch die engen Gänge. Der Geruch brachte ihre Augen zum Tränen, ihre Nase lief, und Panik durchfuhr sie, als erkannte, was da so durchdringend roch.

Er hatte den Steindamm des Lampenöls geöffnet! Sie sah, wie es aus dem Reservoir sprudelte und sich in einem breiten Fluss vom Zentrum des Platzes zum Tunnel wälzte, der zur Kolonie führte, wie es die Straßen erfüllte und sich gefährlich dem Feuerbrunnen näherte.

»Himmel, was machst du?«, rief sie. »Geh da weg! Das Zeug fängt doch ganz leicht an zu brennen!«

Doch Achmed machte weiter und leitete die dicke Flüssigkeit durch die Kanäle zu der dem Tunnel nach Ylorc am nächsten liegenden Halbmauer.

»Genau darum geht es mir ja.« Er wandte sich um und starrte sie an, während er das dickflüssige Zeug von seinem Schwert schüttelte und die Waffe wieder in die Scheide steckte.

»Wie sollen wir die Dämonenranke sonst töten? Du hast selbst gesagt, dass Feuer sie versengt. Das Gewächs zapft bereits die Kraft der Axis Mundi an, für den Fall, dass du das noch nicht bemerkt hast. Wenn wir sie nicht abschneiden, wenn wir sie hier nicht mit Stumpf und Stiel verbrennen, dann wird die Wurzel irgendwann bis hinunter zum anderen Schlafenden Kind reichen.« Er stopfte den Verschluss an seinen Platz zurück und sah Rhapsody wieder an. Seine nicht zusammenpassenden Augen funkelten gespenstisch im Feuerschein. »Zünd es an.«

»Das können wir noch nicht tun«, entgegnete Rhapsody, der auf einmal ganz kalt wurde.

»Grunthor und die Großmutter sind noch da drin.«

Achmed deutete mit einem Kopfnicken hinter sie, und Rhapsody wirbelte herum. Der Körper des Schlafenden Kindes war grotesk angeschwollen und hatte jede Proportion verloren. Ein Oval aus Erdfleisch wurde größer, streckte sich vertikal und dann horizontal. Mit einer rollenden Bewegung wölbte es sich nach oben, als teilte es sich, und ging mächtig in die Höhe. Dann vollführte es eine letzte Drehung und löste sich schließlich vom Körper des Kindes, das jetzt, deutlich kleiner und regungslos, auf der Platte aus Lebendigem Gestein lag. Das glühende Licht in dem nun abgetrennten Stück wurde schwächer und nahm die Farbe von Stein an, dann wurde es vor ihren Augen zu graugrüner Haut, ölig und ledern. Stück für Stück wurden seine Umrisse genauer und nahmen menschenähnliche Gestalt an, wo einen Augenblick zuvor nur formlose Masse gewesen war. Rhapsodys Augen weiteten sich vor Staunen.

»Grunthor!«

Der Riese atmete aus und stolperte nach vorn, fing sich aber, indem er sich am Altar aus Lebendigem Gestein festhielt. »Hrekin«, murmelte er schwach. Rhapsody wollte auf ihren Freund zustürzen, aber ein schraubstockartiger Griff hielt sie am Arm fest. Sie blickte hinauf in die Augen des Firbolg-König s, die mit einem Zorn brannten, der heißer war als die Flammen des Feuerbrunnens. Er deutete auf die Spur des Lampenöls, eine flüssige Zündschnur vom Feuerbrunnen in die dunkle Höhle der Kolonie.

»Es hätte keine Rolle gespielt, wenn er da drin gewesen wäre. Wir haben keine andere Wahl. Zünd es an.«

Rhapsody erschauderte angesichts der verzehrenden Wut in Achmeds Augen, dem Siegel des unauslöschlichen Hasses, den seine halb dhrakische Natur den F’dor und all ihren Dienern entgegenbrachte. Keine Liebe, keine Freundschaft, keine Vernunft konnten diesen Hass ins Wanken bringen oder gar auflösen. »Die Großmutter ist noch da drin«, wandte sie stockend ein. »Würdest du sie auch sterben lassen?«

Achmed starrte einen Moment auf sie herab, dann schloss er die Augen und ließ dem Pfadwissen, das er sich im Bauch der Erde angeeignet hatte, freien Lauf. Seine innere Sicht eilte durch die blassen Marmorstraßen, folgte der Flut des Lampenöls durch das Loch in dem Erddamm, unter dem sie durchgekrochen waren, über die zerbrochenen Mauern und zerschmetterten Steinplatten, die einst die letzte Kolonie seiner Rasse gebildet hatten. Seine Gedanken flogen über den eingestürzten Torbogen und seine zerborstene Inschrift, unter den sich mit neuer Kraft windenden Ranken und Wurzeln hindurch. Selbst hier, auf den Straßen des Loritoriums, spürte er, wie der Gestank des F’dor zunahm, sah den Lehm der Erde beben, als er sich bereit machte nachzugeben.

In den Ruinen der Kammer des Schlafenden Kindes hielt seine zweite Sicht inne. Dort sah er die Großmutter, umgeben von einem regelrechten Käfig aus zischenden, angriffsbereiten Fangarmen, ein Bein unter einem herabgestürzten Granitblock eingeklemmt. Ihre linke Hand war in die Höhe gereckt, zitternd vor Anstrengung, die rechte gegen den Stein gestemmt, der sie gefangen hielt. Bäche giftigen Lampenöls flössen über sie hinweg und füllten allmählich die Höhle.

Die Großmutter schien winzig klein inmitten der gigantischen Schlingpflanzen, die drohend über ihr schwebten, die stämmigen Seitenarme vor Wut angeschwollen, verirrt zwisehen den Resten des Höhlenbodens. Die Wurzeln, überzogen von glänzendem Öl, fauchten und schlugen nach der Dhrakierin, kamen näher und näher, während die Kräfte der alten Frau immer mehr nachließen.

Gerade als sein Verstand das Grauen dieses Anblicks registrierte, wandte sich die Großmutter ihm zu, und ihr Blick begegnete seinem. Ein winziges Lächeln, das erste, das er je bei ihr gesehen hatte, breitete sich auf ihrem uralten Gesicht aus, das nach so vielen Jahrhunderten ernster Wachsamkeit voller Falten und Runzeln war. Sie nickte ihm zu, und mit letzter Kraft bot sie der Ranke, die den Bann zu brechen drohte, erneut die Stirn. Achmed unterdrückte die urtümliche Wut, die in Gegenwart der ihm so tief verhassten Rasse der F’dor in seinem Blut brannte, und schluckte auch die Galle hinunter, die in seiner zugeschnürten Kehle aufgestiegen war, als die Vision langsam verschwand. Dann drückte er noch einmal Rhapsodys Arm.

»Zünd es an«, wiederholte er mit leiser, tödlicher Stimme.

Mit einem heftigen Ruck riss sich Rhapsody los. »Lass mich«, fauchte sie. Ärgerlich wollte Achmed nach der Tagessternfanfare greifen. »Verdammt ...« Erschrocken wich er zurück, als sie mit einer blitzartigen Bewegung das Schwert zückte, über seine Handfläche strich und seine Haut versengte.

»Versuch nie wieder, mir dieses Schwert aus der Hand zu reißen, es sei denn, du bist bereit, dein eigenes zu ziehen«, schrie Rhapsody.

»Himmelskind?«

Die drei Gefährten erstarrten und sahen sich suchend im Loritorium um, woher die Stimme der Großmutter gekommen sein mochte. Das Klicken, der sandige Klang, den Rhapsody nur in einer einzigen anderen Stimme gehört hatte, war unverkennbar. Doch das eine Wort klang angestrengt und sehr leise.

Grunthor erkannte zuerst, woher die Stimme kam.

»Da drüben, Schätzchen«, rief er und deutete auf das Schlafende Kind. Benommen trat Rhapsody an den Altar aus Lebendigem Gestein. Sie starrte auf die glatte graue Haut, das grobe braune Haar, das dem Hochgras in der Hitze des Sommers so ähnlich war. Zärtlich ließ sie die Hand über die Stirn des Kindes gleiten und wischte ihm die Schmutzreste vom Gesicht. Auf einmal spürte sie einen Kraftstrom, eine Schwingung, die vom Stein des Altars durch den Körper des Kindes drang, sich prickelnd auf ihrer Hand ausbreitete und direkt zu ihrem Herzen floss. Sie musste sich zwingen zu antworten.

»Ja, Großmutter?«

Die Stirn des Schlafenden Kindes legte sich vor Anstrengung in tiefe Falten, die Augen blieben geschlossen, die grasigen Wimpern waren nass von Tränen. Doch die Lippen formten die letzten Worte der Großmutter.

»Zünd es an.«

Die Stimme der uralten Dhrakierin war durch den Boden gedrungen, als hätte die Erde selbst der letzte Bote der standhaften Wächter in sein wollen. Sie war durch die Platte aus Lebendigem Gestein und das letzte noch lebende Kind der Erde gereist. Die Ironie trieb Rhapsody die Tränen in die Augen. Nie würde die Großmutter von den Lippen des Erdenkinds die weisen Worte hören, auf die sie ihr Leben lang gewartet hatte. Die einzigen Worte, welche das Schlafende Kind jemals sprechen würde, waren die der Großmutter selbst. Rhapsody blickte zu ihren beiden Kameraden auf. Die Männer sahen, wie ihr trauriges Gesicht einen harten und entschlossenen Ausdruck annahm.

»Nun gut«, sagte sie. »Ich werde es tun. Macht, dass ihr hier wegkommt.«

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